Das Lexikon vereint Artikel von 97 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaften zu einem übergreifenden Thema: „moderne Mythen“. Die ausgewählten Beispiele werden in vier Kategorien eingeteilt: „Ereignisse“, „Ideen, Konzepte, Institutionen“, „Personen/Figuren“, „Orte“. Die kurzen Beiträge sind offenbar nach der Vorgabe verfasst, die Phänomene und Begriffe unter der Leitfrage abzuhandeln, worin die jeweilige Verbindung zum Bereich des ‚Mythos‘ bzw. des ‚Mythischen‘ bestehe. Im knappen Vorwort beziehen sich die Herausgeberinnen vage auf Roland Barthes („Mythologies“, 1957), dessen Modell in seiner methodischen Schärfe und in seinem Anwendungspotential aber in kaum einem Beitrag wirklich benutzt oder ausgewertet wird.1 Das Gleiche gilt für Umberto Ecos frühe Analysen von Phänomenen der Alltags- und Trivial-Kultur2 sowie für Hans Blumenbergs berühmtes Buch „Arbeit am Mythos“ (1979), das sowohl im Vorwort als auch in einzelnen Beiträgen immer wieder genannt, in seinen zentralen mythostheoretischen Dimensionen jedoch nicht aufgegriffen wird.3 Insofern fehlt dem Band bereits zu Beginn ein tragfähiges und stringentes Konzept, aber auch – als unmittelbar erkennbare Folge davon – eine einigermaßen klare, einheitliche Terminologie: Begriffe wie „mythisch“, „mythologisch“, „mythisierend“, „metamythisch“ oder „Mythos“, „Mythem“, „Antimythos“, „Gegenmythos“, „sekundärer Mythos“, „Mythenbildung“, „Mythopoiesis“ und „Urmythos“ werden zumeist unreflektiert und durchweg undefiniert gebraucht. Ein einschlägiges Glossar mit den wichtigsten Referenzbegriffen wäre notwendig und hilfreich gewesen.
Eine weitere Folge dieses grundlegenden Mankos: Begriffe wie „Narrativ“, „Symbol“ oder „Archetypus“ (bzw. die daran geknüpften Verben wie „symbolisieren“ oder „erzählen“) werden nicht selten mit Fahnenwörtern wie „mythisch“, „mythisierend“ oder „Mythenproduktion“ verbunden und damit methodisch unbrauchbar gemacht. Warum etwa Atomkriegsszenarien „als narrative Phänomene […] mythische Strukturen“ aufweisen (S. 29), worin der Unterschied zwischen einem „antifaschistischen Gründungsmythos“ und einem „antifaschistischen Gründungsnarrativ“ besteht (in Bezug auf die Geschichte der DDR, S. 85), wird ebenso wenig klar wie die Verleihung von Attributen wie „globaler Mythos“ und (zugleich) „Symbol Kubas“ an die historische Figur Che Guevaras (S. 78ff.). Die Hauptaufgabe einer kritischen Lektüre dieses Lexikons bestünde daher zuerst darin, aus dem heterogenen Gebrauch der angeführten Referenz-Ausdrücke deren jeweilige (oft differierenden) Bedeutungen herauszuschälen (nach dem Muster: was versteht die Verfasserin des Artikels „Casablanca“ etwa unter einem „mythischen Schub“ [S. 72], den dieser Film nach 1975 erlangt habe?).
Der Literaturwissenschaftler und Philosoph Peter Tepe hat in einem Grundsatzbeitrag von 2013 neben drei Hauptverwendungsweisen des Ausdrucks ‚Mythos‘4 fünf Hauptlinien des Wortgebrauchs unterschieden und vor unreflektiertem Umgang mit dem Begriff gewarnt.5 Die fünf Hauptlinien seien die folgenden: erstens „Irrtum, Vorurteil – bis hin zu Illusion und Aberglaube“; zweitens „Verklärung, Überhöhung“; drittens „Idee, Glaubensvorstellung“; viertens „Vorbild-, Identifikations- bzw. Symbolfigur“; fünftens „Ruhm, Berühmtheit“. Tepe folgert: „Stets ist explizit festzulegen, welche der vielen denkbaren Bedeutungen gemeint ist.“6 Der vorliegende Band zeigt indes, dass der Ausdruck ‚Mythos‘ (inklusive Ableitungen wie ‚mythisch‘, ‚Mythenbildung‘ etc.) weitgehend ‚kommunikativ kaputt‘ ist; man kann darunter so vieles verstehen, dass eine Erkenntnisleistung kaum noch sichtbar wird. (Es ist wohl kein Zufall, dass man über den Begriff ‚Erinnerungsort‘ Ähnliches sagen könnte – ein Zusammenhang, der hier leider nicht vertieft werden kann.)
Mit dieser weitgehend fehlenden begrifflichen Sensibilisierung hängt eine weitere prinzipielle Schwäche des Bandes zusammen: die mangelnde gattungstheoretische Differenzierung zwischen den einzelnen Bereichen. Bereits die Konzentration auf „123 nachantike Mythen, die den Zeitraum zwischen dem Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart geprägt haben“ (S. V), wird theoretisch nicht begründet und führt dazu, dass willkürlich historische Personen, literarische Figuren, Orte, Ereignisse und Ideen, Konzepte, Institutionen als „Mythen der Moderne“ eingeordnet werden – vom Mittelalter bis heute. Die Zusammenstellung dieser Kategorien wirkt oft grotesk: „Holocaust“ und „Hitler“ stehen neben „Harry Potter“, „Steffi Graf“ und „James Bond“; „Asterix“ findet sich neben „Kalter Krieg“ und „Martin Luther“. Mythos- und gattungstheoretische Unterschiede zwischen fiktionalen Figuren wie „Derrick“ und realen Persönlichkeiten wie „Helmut Schmidt“ werden dabei ebenso negiert wie solche zwischen Literatur und Film, zwischen historisch, geographisch oder soziologisch greif- und erklärbaren Phänomenen (wie „Ozonloch“, „Alpen“, „Stonehenge“) und solchen einer ideellen Welt (wie „Marxismus“, „Beschleunigung“, „Freiheit“).
Worin besteht der wissenschaftliche ‚Mehrwert‘ einer Analyse von Phänomenen einer literarischen Wirklichkeit bzw. der realen Welt unter dem Aspekt des ‚Mythos‘? Nahezu nirgends wird deutlich, was das anvisierte Phänomen des ‚Mythischen‘ eigentlich ausmacht, worin dessen Besonderheit wirklich besteht. Ein methodisch unbegründetes, aber in vielen Beiträgen nachweisbares Verfahren ist die Darstellung von Eckpunkten der Rezeptionsgeschichte des jeweiligen Phänomens bzw. der jeweiligen Figur und deren Verknüpfung mit den Ausdrücken ‚Mythos‘ oder ‚mythisch‘. Sieht man von dieser Etikettierung ab, enthält der Band auch gelungene, informative und gut lesbare Beiträge – zum Beispiel die Artikel über die Alpen, die Beatles, die Fernsehserie „Derrick“ (der sozialpsychologische und der literaturwissenschaftliche Ansatz sind durchweg überzeugend) oder die Darstellung der Wirkungsgeschichte des Holocaust (mythostheoretisch wäre dabei eine Erläuterung der Kategorie „sekundäre Mythisierung“ sinnvoll gewesen).
In vielen Artikeln geht es vorrangig um die Darstellung bestimmter Mythisierungsprozesse in unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten, etwa die Rezeptionsgeschichte von literarischen oder historischen Figuren (Napoleon, Hitler, Lady Diana, Beethoven u.v.a.). Dennoch wäre mythostheoretisch auch hier weiter zu differenzieren gewesen: Handelt es sich bei dem jeweiligen Phänomen um eine Mythisierung im Sinne von Tepes Hauptlinien des Wortgebrauchs – um die zweite („Verklärung, Überhöhung“), die vierte („Vorbild-, Identifikations- bzw. Symbolfigur“) oder die fünfte („Ruhm, Berühmtheit“)? Oder gar – wie im Falle des „Hitler-Mythos“ – um die erste („Irrtum, Vorurteil“)?7 Solange diese grundlegenden semantischen Unterschiede nicht klar bezeichnet werden, bleibt der Erkenntnisgewinn eher gering.
Ein anderes Defizit der Gesamtkonzeption ist das weitgehend ungeklärte Verhältnis der als ‚Mythos‘ oder ‚mythisch‘ bezeichneten Phänomene bzw. Figuren zur Antike und zur Vormoderne überhaupt. Der prinzipielle kultur- und bewusstseinsgeschichtliche Abstand zwischen dem dominierenden mythischen Denken traditionaler Gesellschaften (wie es etwa Ernst Cassirer beschrieben hat) und den Formen wissenschaftlichen Denkens nach der Aufklärung wird nirgends reflektiert oder in seinen Konsequenzen bedacht – sonst wäre es nicht möglich, umstandslos von „Mythen der Moderne“ oder modernen Mythenbildungen zu sprechen. Der komplexe, durch zahlreiche Gegenstrategien immer wieder unterlaufene Versuch, in modernen, nach-mythischen Kulturen Mythen neu zu begründen, ein mögliches Weiterleben des ‚Mythos‘ in der entmythisierten, entzauberten Moderne nachzuweisen, wird in diesem Band weder thematisiert noch überhaupt als Problem gesehen. Welche Aporien dadurch entstehen können, lässt sich im Artikel „Don Quijote“ zeigen: Obwohl als „Mythos“ eingestuft (S. 93), weist der Verfasser typische moderne, weitgehend mythosferne literarische Verfahrensweisen nach, die Cervantes‘ Roman kennzeichnen – dessen Held trete dem Leser „mehrfach fiktionsironisch gebrochen entgegen“: „Zum Mythos Don Quijote gehört folglich genuin die im Roman diskutierte sprachliche Vermitteltheit des Heroen, weshalb beinahe jede Aussage über ihn unter Berufung auf andere Erzählebenen relativierbar ist. So bekommt der moderne Zweifel an der Erkennbarkeit der Welt in ihm ein Gesicht.“ (S. 96) All diese (zutreffenden) Bestimmungen sind mit der Einordnung der literarischen Figur und des Romans als „mythisch“ unvereinbar; sie sind unverkennbare Indikationen auf deren mythosfernen Status. „Mythen antworten nicht auf Fragen“ – so Blumenberg –, „sie machen unbefragbar.“8 Daher gibt es im mythischen Weltbild prinzipiell keine Lücken, ‚nichts Neues unter der Sonne‘ und keinen Zufall, folglich auch keine Infragestellung bereits erreichter Positionen, keine „modernen Zweifel“.
Auch die in diesem Band behauptete ‚Gegenwärtigkeit des Mythos in der Moderne‘ wird bezeichnenderweise unhinterfragt vorausgesetzt. Theorien, die diese Gegenwärtigkeit des Mythos oder von Phänomenen mythischen Denkens zu begründen versuchen – etwa von Leszek Kołakowski, Paul Veyne, Kurt Hübner oder Mircea Eliade –, werden nicht in die Konzeption einbezogen, ebenso wenig wie entgegengesetzte Theorien von der Unmöglichkeit der Weiterexistenz mythischer Phänomene in der modernen Kultur. Dass das ‚Mythische‘ in der Moderne vorwiegend im Sinne einer „Analogie“ zum genuin Mythischen, als „mythisches Analogon“ etwa9, zu existieren vermag, ist eine grundlegende kultur- und mythostheoretische Erkenntnis, die einer angestrebten Phänomenologie angeblicher „moderner Mythen“ entgegenzustellen wäre.
Der Literaturwissenschaftler Gerhart von Graevenitz hat angesichts des „Mythenrealismus“ der „Ideengeschichtsschreibung“ vor längerer Zeit festgehalten, dass „das, was wir für ‚Mythos‘ halten, eine große kulturgeschichtliche Fiktion ist“.10 Der vorliegende Band scheint diese zentrale These eher unfreiwillig zu bestätigen als zu widerlegen.
Anmerkungen:
1 Barthes verstand unter ‚Mythos‘ eine „Weise des Bedeutens, eine Form“, ein „sekundäres semiologisches System“, in dem ein linguistisches System, die Objektsprache, vom Mythos als Metasprache dergestalt überlagert werde, dass man in dieser von jener spreche (Roland Barthes, Mythen des Alltags. Übersetzt von Helmut Scheffel, Frankfurt am Main 1964, S. 92ff.). Der dabei zentrale Aspekt der Enthistorisierung des jeweiligen Phänomens ist in manchen Beiträgen des Lexikons zwar implizit enthalten (etwa im oft verwendeten Terminus „Mythisierung“), ohne dass er aber in den Einzelanalysen methodisch konsequent angewandt würde.
2 Z.B. Umberto Eco, Der Mythos von Superman, in: ders., Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur (Apocalittici e integrati, 1964). Übersetzt von Max Looser, Frankfurt am Main 1986, S. 187–222.
3 Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979. Lediglich anzitiert, aber nicht ausgewertet wird dieses grundlegende Werk der modernen Mythosforschung etwa im Artikel „Napoleon“ (S. 271).
4 Bezug auf Ute Heidmann Vischer, Art. „Mythos“, in: Werner Kohlschmidt / Wolfgang Mohr (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 2001, S. 664–668: Der Begriff bezeichne erstens „die erzählende Darstellung von kollektiv bedeutsamen Orten und Figuren oder Naturphänomenen, in aller Regel mit religiöser oder kultischer Dimension“; zweitens als „mythisches Denken“ ein „Weltverhältnis“, das aus ‚Mythos‘ im erstgenannten Sinn erschlossen werde; drittens „umgangssprachlich eine Person, Sache oder Begebenheit, die aus nicht selten irrationalen Vorstellungen heraus glorifiziert oder dämonisiert wird“.
5 Peter Tepe, Terminologische Sensibilisierung im Umgang mit dem Mythos, in: Brigitte Krüger / Hans-Christian Stillmark (Hrsg.), Mythenfiguration & Kulturtransfer, Potsdam 2013, S. 29–44.
6 Ebd., S. 33.
7 Ian Kershaws zentrale Untersuchung zu dieser Frage (Der Hitler-Mythos, Stuttgart 1980 und öfter) wird im einschlägigen Artikel zwar genannt (S. 185), mythostheoretisch aber zu wenig ausgewertet, so dass nicht klar wird, warum die Mythisierung dieser historischen Person zu Lebzeiten und nach 1945 derart gegensätzliche Tendenzen aufwies.
8 Blumenberg, Arbeit am Mythos, S. 143.
9 Clemens Lugowski, Die Form der Individualität im Roman [1932], 2. Aufl., Frankfurt am Main 1994.
10 Gerhart von Graevenitz, Mythos. Zur Geschichte einer Denkgewohnheit, Stuttgart 1987, S. IX.