Krieg. Gerade angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation bildet der Begriff das Zentrum zahlreicher Debatten in den Medien, an Universitäten und nicht zuletzt im politischen Diskurs selbst. Die angespannte Lage zwischen der Ukraine und Russland, Auseinandersetzungen in Zentralafrika und der Islamische Staat, der im Irak und Syrien Menschen auf unmenschlichste Art verfolgt, bekämpft und tötet. Aber können all diese Auseinandersetzungen auch unter dem Oberbegriff „Krieg“ zusammengefasst werden? Was bedeutet Krieg eigentlich? Wie entwickelte sich das Nachdenken über Krieg im Laufe der Jahrhunderte, gar Jahrtausende? Welche philosophischen Gedanken liegen dem Konzept „Krieg“ zugrunde? Und wie haben sich diese an den jeweiligen historischen Kontext angepasst?
Jens Hildebrandt und David Wachter widmen ihre Anthologie genau diesen Fragestellungen. In der Einleitung geben die beiden Herausgeber einen präzisen Überblick über die aktuelle Forschungslandschaft und Fragestellungen der Kriegs- und Friedensforschung. Darüber hinaus bieten sie Einblicke in die großen Entwicklungslinien der Kriegsgeschichte. Markante Übergänge wie beispielsweise vom Massenheer in der Antike zu den kleinen Heerscharen des Mittelalters, zu den Kriegen der Nationalstaaten, zu den technisierten Weltkriegen, hin zu dem bipolaren System des Kalten Krieges werden ebenso thematisiert wie einschneidende Ereignisse der jüngeren Vergangenheit wie der 11. September 2001. Jedoch, und das unterscheidet die Zusammenstellung des Werkes von anderen Publikationen, möchten sie dem Leser eine Anleitung geben sich selbst kritisch mit den Texten auseinanderzusetzen und über den Begriff des Krieges nachzudenken. Sie möchten den Leser zur Reflexion anregen, wie sich die vorgestellten Denktraditionen in die heutige Weltsicht und die weltpolitische Situation einordnen lassen. Daraus ergibt sich eine Ambivalenz, die es den Lesern einerseits ermöglicht, die Auszüge als historische Quellen zu behandeln, und die sie andererseits zur Analyse der aktuellen Lage anleitet.
Ihre Auswahl der Quellen reicht von Thukydides, über Thomas von Aquin, Thomas Hobbes, Clausewitz und Freud bis hin zu Hans Magnus Enzensberger. Die insgesamt zwölf Quellenauszüge wurden sorgfältig ausgewählt und spannen den Bogen von der Antike bis in die Gegenwart.1 Hildebrandt und Wachter bieten in einer den Texten vorangestellten einführenden Übersicht sowohl nähere Informationen zur persönlichen Biographie des Autors, zu dessen Gesamtwerk als auch zu dem historischen Kontext, vor dessen Hintergrund der vorgestellte Auszug verfasst wurde. Als besonders hilfreich erweisen sich die drei bis vier Leitfragestellungen, die die Herausgeber zu jeder Quelle haben und mit deren Unterstützung der Leser diese fokussierter bearbeiten kann. Ferner verweisen die Herausgeber bei jedem Text auf weiterführende Literatur, die einen schnellen und direkten Einstieg in eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem entsprechenden Quellenauszug ermöglicht. Besonders spannend hinsichtlich der Aktualität sind die Überlegungen zu Thomas von Aquin, der das Prinzip des gerechten Krieges „bellum iustum“ weiterentwickelte. Ursprünglich lässt sich diese Denktradition auf den Kirchenvater Augustinus zurückzuführen. Besonders in der anglophonen Wissenschaft wurde diese Konzeption seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wieder neu aufgegriffen und diskutiert. Neue Thesen finden sich in dem einleitenden Text aufgrund des einführenden Charakters der Anthologie jedoch nicht wieder. Auch dürfen die Leser keinen umfassenden Überblick über die Forschungslandschaft zu dem Autor der Quelle erwarten. Die weiterführenden Literaturangaben ermöglichen aber für Interessierte einen schnellen Zugang zur Thematik. Ferner eröffnen die eher unbekannten Quellenauszüge von Raymond Aaron, Ernst Jünger und Magnus Enzensberger eventuell auch für Experten eine neue Perspektive auf die Reflexion über das Konzept des Krieges.
Insgesamt, und so verstehen Hildebrandt und Wachter ihre Anthologie auch selbst, handelt es sich bei „Krieg. Reflexionen von Thukydides bis Enzensberger“ keineswegs um ein Werk für Experten, sondern für Interessierte und Studierende, die beginnen, sich mit der Reflexion über Krieg beziehungsweise über die Standpunkte der jeweiligen Autoren auseinanderzusetzen. Von daher betonen sie auch in der Einleitung, dass die Quellenauszüge keine kritische Edition darstellen, sondern vereinfacht – zum Beispiel ohne Fußnoten oder Verweise auf andere Übersetzungsmuster – in dem Band aufgeführt werden. Die Idee des Einführungswerkes verfolgen Hildebrandt und Wachter konsequent und erfolgreich. Sowohl der Aufbau als auch der Inhalt sind diesbezüglich sehr überzeugend und bieten eine ausgezeichnete Orientierung für Einsteiger in die Thematik.
Ebenso hervorzuheben ist die Herangehensweise, die Textauszüge dieser einflussreichen Theoretiker in einer Ausgabe zusammen zu veröffentlichen. Für die Rezipienten zeigen sich so deutliche Entwicklungslinien und Unterschiede in Bezug auf das Nachdenken über Krieg, wobei gleichzeitig die Quellenauszüge einander gegenübergestellt und miteinander verglichen werden können. Am Ende hätte jedoch eine Zusammenfassung, die aus Sicht der Herausgeber die Zusammenhänge und Denkverbindungen zwischen den einzelnen Autoren herausstellt, den Lesern geholfen, diese besser nachvollziehen zu können. Allerdings muss auch erwähnt werden, dass die beiden Herausgeber auch in diesem Punkt ihrem Konzept treu bleiben und die Rezipienten selbst zum Nachdenken anregen möchten. Dies zeigt sich daran, dass sie die Frage nach den Verbindungen zwischen den Theorien der präsentierten Autoren sehr wohl in den Quellenauszügen vorangestellten Fragenkatalogen aufgreifen. Darüber hinaus wäre auch zu überlegen gewesen, einen Quellenauszug in die Anthologie aufzunehmen, der nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center verfasst wurde, da diese einen Einschnitt in die Wahrnehmung des Krieges in der westlichen Welt verursachten.
Ungeachtet dieser marginalen Kritikpunkte ist die gesamte Anthologie wie auch die Auswahl der darin vorgestellten Texte als durchweg gelungen zu werten. Besonders der leserfreundliche Aufbau, der eine eigenständige und weiterführende Bearbeitung und Reflexion über die Quellenauszüge ermöglicht, ist hervorzuheben. Für alle Interessenten bietet der Band die Möglichkeit, sich auf schnelle und dennoch fundierte Weise in die Thematik einzuarbeiten. Der leserorientierte Einstieg in die Denktraditionen über das Konzept des „Krieges“ hätte nicht besser umgesetzt werden können.
Anmerkung:
1 Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges (ca. 400 v.Chr.); Thomas von Aquin: Summa Theologica (1655–1673); Niccoló Macchiavelli: Der Fürst (1513); Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (1651); Carl von Clausewitz: Vom Kriege (1832–1834); Nietzsche: Der griechische Staat (1832).; Friedrich Engels: Taktik der Infanterie aus den materiellen Ursachen abgeleitet. 1700–1870; Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod I. Die Enttäuschung des Krieges (1915); Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen (1932); Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932); Aron Raymond: Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt (1962); Hans Magnus Enzensberger: Aussichten auf den Bürgerkrieg (1993).