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Titel
Skandal und Nation. Politische Deutungskämpfe in der Schweiz 1988–1991


Autor(en)
Liehr, Dorothee
Erschienen
Anzahl Seiten
640 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Christina Späti, Historische Wissenschaften, Studienbereich Zeitgeschichte, Universität Freiburg

Die Jahre der „Krisenkaskaden“ (Jakob Tanner), die die schweizerische Politik und Gesellschaft nachhaltig erschütterten, nahmen 1988 mit dem „Fall Kopp“ ihren Anfang und dauerten mit unterschiedlicher Intensität bis in die Nullerjahre hinein. Mit dem „Fall Kopp“ verbunden war der Fichen-Skandal, der seinerseits von Krisen im Zusammenhang mit dem Kulturboykott zur Siebenhundertjahrfeier der Schweiz begleitet war. Dabei spielte der durch die Implosion des Ostblocks erfolgte Verlust eines lange gedienten Feindbilds eine wichtige Rolle. Obwohl im Zusammenhang mit beiden Affären reichlich Druckerschwärze geflossen ist – sowohl seitens der Massenmedien wie auch der betroffenen AkteurInnen selber – fehlte bis anhin eine differenzierte Analyse, die beide Skandale in Verbindung zueinander bringt. Jeweils einzeln sind sie bisher vor allem in Form von studentischen Abschlussarbeiten aufgearbeitet worden.

Die an der Universität Zürich eingereichte Dissertation von Dorothee Liehr füllt eine Forschungslücke, indem sie nicht nur die beiden Affären aufeinander bezieht, sondern diese aufgrund ihrer überaus detailgetreuen Nachzeichnung der beiden Fälle unter Einbezug einer Fülle von unterschiedlichem Quellenmaterial auch umfassend rekonstruiert. Neben Presseausschnitten, Radio- und Fernsehsendungen dienen amtliche Publikationen, Hintergrundgespräche mit damaligen Aktivist/innen, Karikaturen, Publikationen der damaligen AkteurInnen et cetera als Analysematerial. Begleitet wird die Deskription des Ablaufs der Affären von theoretischen Einschüben, die etwa auf der Basis der Skandal- oder der Bewegungsforschung das Beschriebene zusätzlich einzuordnen versuchen. Dies gelingt im Falle der für den Fichen-Skandal verwendeten Bewegungstheorie, die das Handeln der verschiedenen betroffenen Akteur/innen theoretisiert, überzeugender und gewinnbringender als die vor allem für den „Fall Kopp“ zu Hilfe gezogene Skandaltheorie, die zu erwartbaren Erkenntnissen führt.

Nach der Einleitung, die Erkenntnisinteresse, Forschungsstand und Quellenlage umreißt, erfolgt zunächst eine ausführliche Aufarbeitung der Kopp-Affäre. Liehr setzt den Beginn der Geschichte des „Absturzes“ der ersten Frau im Bundesrat bereits bei deren Bundesratskandidatur im September 1984 an. Schon zu jenem Zeitpunkt begannen zahlreiche Gerüchte über ihren Ehemann, den Wirtschaftsanwalt und Medienexperten Hans W. Kopp, zu kursieren. Insbesondere ein Artikel von Niklaus Meienberg in der linken Wochenzeitung WoZ habe, so Liehr, ein hartnäckiges Deutungsmuster zu den beiden Kopps geprägt, das „im kollektiven Gedächtnis zahlreicher Zeitgenossen offenbar Spuren hinterlassen“ (S. 61) habe. Auch wenn Meienbergs Artikel, in dem er Hans W. Kopp unter anderem sexualisierte Umgangsformen unterstellte, durchaus Skandalisierungspotenzial enthielt, so sollte doch sein Einfluss auf die mehrheitlich bürgerliche Presse und Gesellschaft nicht überschätzt werden.

In der Folge beschreibt Liehr den weiteren Verlauf des Falls Kopp; von zusätzlichen Gerüchten über die Tätigkeiten ihres Gatten bis zu jenem ominösen Telefonanruf vom 27. Oktober 1988, in dem sie ihn, nachdem sie informell entsprechende Informationen erhalten hatte, zum Rücktritt aus dem Verwaltungsrat der Shakarchi Trading AG, die mit Geldwäschevorwürfen konfrontiert wurde, aufforderte. Anschließend zeichnet Liehr nach, wie Kopp ein solches Telefonat zunächst leugnete und erst am 9. Dezember 1988 in einer Erklärung öffentlich machte, worauf es zu einem Eklat sowie zu einer „Kriminalisierung“ (S. 88ff.) Kopps durch die Medien kam. Darauf folgt die Darstellung des anschließenden Rücktritts Kopps aus dem Bundesrat, des Einsetzens einer Parlamentarischen Untersuchungskommission (PUK) und schließlich des bundesgerichtlichen Freispruchs Kopps im Februar 1990. Auffallend ist in der Rekonstruktion dieser Affäre, dass es Liehr offenbar darum geht, die Ex-Bundesrätin zu rehabilitieren. Deren Verhalten wird zwar als „problematisch“ taxiert, es überwiegt aber bei Liehr das Verständnis für die „damals belastete Gemütslage der Ministerin“, deren empathische Betrachtung eine „weniger despektierliche Sicht“ auf ihr Verhalten ermöglicht hätte (S. 133). Liehr ist sich auch sicher, dass Kopp damals „sowohl von ihrer moralischen als auch juristischen Unschuld aufrichtig überzeugt“ war (S. 91). Zur Untermauerung ihrer Thesen wird den Interventionen der Philosophin Jeanne Hersch, deren „langjährige Reflexionen über das Menschsein und damit einhergehend über individuelle Freiheit, wertideelle Orientierung, Lehren und Lernen sowie über die Verantwortung, tätig in die Geschichte einzugreifen, um politisch zu wirken“ (S. 142) Liehr lobend hervorhebt, zugunsten Kopps viel Platz eingeräumt. Zudem bedauert Liehr, dass Herschs Argumente bei den Massenmedien nicht stärker Gehör fanden, weshalb die Medien – anders als dann beim Fichen-Skandal – „die für eine demokratische Staatsform unabdingbare massenmediale Meinungsvielfalt“ in der Deutungskonstruktion im Fall Kopp hätten vermissen lassen (S. 572).

Die für die Rekonstruktion der Fichen-Affäre verwendete, im Vergleich zum ersten Teil größere Quellenvielfalt, die auch Interviews mit damaligen Akteur/innen umfasst, machen den zweiten Teil der 640-seitigen Abhandlung angenehmer und spannender zu lesen. Hinweise auf die Tatsache, dass der Schweizer Staatsschutz während Jahrzehnten rund 900.000 Fichen über verdächtige Personen angelegt hatte, erhielten die Mitglieder der im Zusammenhang mit der Kopp-Affäre eingesetzten PUK im September 1989. Damals fanden sie sich zu einem Informationsvortrag bei der Politischen Polizei ein und stießen dabei auf die Registraturkästen, die teilweise, wie im Fall der grünen Politikerin Rosmarie Bär, ihre eigenen Fichen enthielten. Dank der zahlreichen Interviews, die Liehr in diesem Zusammenhang geführt hat, liest sich die Rekonstruktion dieser Entdeckung wie ein Thriller. Anschließend zeichnet Liehr minutiös das Erscheinen des PUK-Berichts im November 1989 und dessen massenmediale Rezeption nach. Ebenso wird im Anschluss daran, immer wieder Bezug nehmend auf Theorien der Sozialen-Bewegungsforschung, die Mobilisierung durch „Skandalierende“ nachgezeichnet: Diese durchlief verschiedene Phasen und setzte, beginnend mit der Gründung des Komitees „Schluss mit dem Schnüffelstaat“, unterschiedliche Aktionsformen ein, um einen anhaltenden Protest seitens der Staatsschutz-Gegner aufrechtzuerhalten. Dazu gehörten Demonstrationen, die Einreichung einer Initiative, aber auch die Herausgabe von Informationszeitschriften. Ebenso thematisiert Liehr die mediale Rezeption dieser Mobilisierungen, wobei hier eine bipolare Haltung der größten Schweizer Presseorgane zu beobachten war: Versuchten die bürgerlichen Zeitungen beschwichtigend zu wirken, so reagierte die politisch unabhängige und die linke Presse „skandalisierend auf die Missstände“, die die PUK ans Licht gebracht hatte (S. 571). Zusätzlich wird auch der mit der Fichen-Affäre verbundene Kulturboykott erläutert, welcher von Kulturschaffenden im Zusammenhang mit der Siebenhundertjahrfeier lanciert wurde und der unter anderem auch einen Protest gegen den „Schnüffelstaat“ umfasste.

Liehrs Studie stellt eine akribische Rekonstruktion zweier zeitgeschichtlicher Skandale dar, welche theoretisch mehr oder weniger fruchtbar eingeordnet werden. Die Akribie der Darstellung ist dabei Fluch und Segen zugleich: Während auf der einen Seite die Lektüre der 640 Seiten starken Darstellung oftmals etwas langfädig wirkt und fraglich ist, weshalb gewisse Dokumente wie etwa der PUK-Bericht auf fast 20 Seiten detailreich wiedergegeben werden, machen auf der anderen Seite detaillierte Angaben, etwa zu den Entdeckungen der PUK, die Arbeit spannend und aufschlussreich. Liehr ist, nicht zuletzt dank ihrer sprachlichen Stilsicherheit, ein über weite Strecken lesenswertes Buch zu einem für die jüngste Zeitgeschichte der Schweiz wichtigen Kapitel gelungen. Mit dem Tod von Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch endend, verdeutlicht es, dass die Kopp- und die Fichen-Affären das Ende, und nicht den Anfang einer Epoche bedeuteten. Bemerkenswert ist auch, wie sehr sich die Situation in der Schweiz in den letzten 25 Jahren verändert hat, nicht nur in Bezug auf die außenpolitischen Voraussetzungen, sondern auch auf die vorherrschenden Konfliktlinien in Politik und Gesellschaft.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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