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Titel
Staat ohne Nation. Brandenburg und Preußen unter den Hohenzollern (1415–1871), hrsg. v. Rüdiger Landfester


Autor(en)
Hinrichs, Ernst
Erschienen
Bielefeld 2014: Aisthesis Verlag
Anzahl Seiten
664 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter-Michael Hahn, Professur für Landesgeschichte, Universität Potsdam

Wie so mancher Historiker der alten Bundesrepublik wandte sich auch Ernst Hinrichs (†2009), der sich während seiner akademischen Laufbahn vor allem intensiv mit der Geschichte Frankreichs in der Frühen Neuzeit sowie der Regionalgeschichte Nordwestdeutschlands befasst hatte, nach der Vereinigung der deutschen Teilstaaten verstärkt der preußischen Geschichte zu. Er tat dies allerdings mit besonderem Engagement, weil ihm gerade auf diesem Feld die spezifisch bundesrepublikanische Geschichtsvergessenheit im Umgang mit der Vergangenheit missbehagte. Aus diesem Bewusstsein heraus sollte seine hier vorzustellende Preußische Geschichte, die er allerdings nicht zu vollenden vermochte, erwachsen. Ein Schlussteil wurde vom Herausgeber angefügt.

Bekanntlich mangelt es nicht an allgemeinen Darstellungen der preußischen Geschichte aus neuerer und älterer Zeit. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert zumeist in patriotischer bzw. identitätsstiftender Absicht verfasst, haben sich jedoch jüngere Historikergenerationen in der Regel schwer getan, deren nicht selten quellensatte Ergebnisse kritisch abwägend zu sichten und erneut zu verarbeiten. Daher verwies Hinrichs nicht ohne Grund immer wieder auf solche historiographischen Zusammenhänge, wo er Akzente in der Bewertung von Personen und Ereignissen anders als viele seiner Vorgänger gesetzt sehen wollte. Dies gelang ihm mit unterschiedlichem Erfolg.

Sehr geglückt erscheint insbesondere seine Frühgeschichte des Hohenzollernstaates, das heißt die Zeit bis zum Dreißigjährigen Krieg und vor allem der Teil, in dem er die Anfänge dieses dynastischen Staates aus drei Vorgeschichten geschickt zusammenfasst und auf das Wesentliche konzentriert. Zu Recht bewertet er diese Staatsbildung primär als einen dynastischen Akt. Weder auf territorialer Basis formierte Landstände noch altstädtisches Bürgertum oder die Bürokratie haben die Herrschaftsbildung durch maßgebliche Impulse vorangetrieben. Es war der unbedingte Wille einer Herrscherfamilie, welcher das Staatsschiff trotz zahlreicher politischer Verwerfungen und Irrwege letztendlich immer auf Kurs hielt, ehe im 19. Jahrhundert allmählich Kapitän und Rudermannschaft die Aufgaben und Positionen tauschten.

Daher werden von Hinrichs vor allem die Fürsten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ausführlich gewürdigt. Ob allerdings Kurfürst Friedrich Wilhelm eine so starke Herrscherpersönlichkeit und überdies ein so tatkräftiger Feldherr war, wie der Verfasser vermutet, darf stark bezweifelt werden. Vieles von diesem Urteil ist nämlich der Legendenbildung durch Friedrich II. geschuldet. Jedoch wäre es bei der Breite des Themas abwegig und kleinlich, auf einzelne Themenstellungen einzugehen und im Detail Kritik zu üben. Vielmehr sind einige allgemeine Probleme hervorzuheben, die sich im Kontext einer Gesamtdarstellung zur preußischen Geschichte zwangsläufig ergeben.

Auch Hinrichs Interpretation der Hohenzollernherrschaft ist deutlich anzumerken, wie schwer es bis heute fällt, einen im Laufe der Jahrhunderte aus zahlreichen Einzelterritorien erwachsenen dynastischen Staat unter zentralen wie regionalen Aspekten angemessen zu würdigen, das heißt das Eine angemessen zu bewerten, ohne das Andere aus dem Blick zu verlieren.

Was verbanden fürstliches Haupt und territoriale Glieder jenseits des dynastischen Kristallisationskerns? Schließlich gab es vor dem 19. Jahrhundert weder eine gemeinsame Hauptstadt noch eine über territoriale Grenzen hinweg sich „gesamtstaatlich“ formierende politische Elite. Dazu kamen etwa konfessionelle und ethnische Gegensätze als beharrende Kräfte. Überdies existierte kein gemeinsamer Wirtschaftsraum, vielmehr erschwerten zahllose territoriale Zollgrenzen innerhalb der Hohenzollernmonarchie das Miteinander, so dass der Schlesier den Magdeburger als Ausländer empfand und umgekehrt.

Natürlich hängt unser Blick auf die Kräfte, die nach Vereinheitlichung von Staat und territorialer Gesellschaft strebten, mit der Forschungslage und deren Akzentuierungen zusammen. Die Geschichte eines preußischen „Gesamtstaates“ hat bekanntlich eine lange Tradition. Im Übrigen führte ein Abrücken von diesem historischen Konstrukt seit der Mitte des 20. Jahrhunderts dazu, dass die Darstellungen nunmehr entweder die Einzelterritorien oder das Herrscherhaus und dessen bürokratisches Umfeld als Sinnbild des Ganzen zum Gegenstand erhoben. Aber bis ins 19. Jahrhundert warf das brandenburgische Herrschafts- und Kulturzentrum zumeist lediglich ein fahles Licht bis in die zahlreichen Peripherien eines vielgliedrigen Fürstenstaates. Nur am Rande sei bemerkt, dass es sich bei der Beschreibung und Analyse dieses vielschichtigen Problemfeldes um eine Thematik handelt, die sich auch nicht mit angelsächsischer Leichtigkeit überzeugend erklären lässt.

Es verwundert ferner nicht, dass der Verfasser mit dem 18. Jahrhundert beginnend in seiner Darstellung einigen bekannten Werken und deren inhaltlicher Ausrichtung weitgehend folgt, um den Verlauf der preußischen Geschichte zu skizzieren. Zunehmend vermag er jedoch die Fülle der Informationen nicht mehr wie anfangs zu bändigen und auf das thematisch rechte Maß zurückzuführen, so dass der spezifische Weg der Hohenzollern zur Machtbildung zunehmend aus dem Blick des Lesers gerät. Wir werden zwar im Detail sachlich informiert, aber was zeichnete diese Monarchie aus, die sehr lange Zeit ohne ein sich zusammengehörig fühlendes Staatsvolk blieb?

So wird mit gutem Grund die alte These einer sozialen Militarisierung Preußens zurückgewiesen, aber damit ist die Frage nach der Rolle des preußischen Militärwesens für den Staatsbildungsprozess nicht ausreichend beantwortet. Den Hohenzollernstaat kann man nämlich wie etwa Dänemark und Schweden im 17. Jahrhundert oder auch Spanien im 18. Jahrhundert durchaus als eine Militärmonarchie ansehen. Das Herrscherhaus nahm in diesem Fall in seinem höfischen Gebaren zeitweise einen militärischen Habitus an, der größte Teil des Staatshaushaltes floss in den Militärapparat, und das Offizierskorps bildete in der Gesellschaft die stärkste Kraft.

Hinrichs Darstellung des 19. Jahrhundert verliert allerdings an Klarheit, wenn er zwar völlig zu Recht auf die großartigen kulturellen Leistungen Friedrich Wilhelms IV. in der Potsdamer Residenzlandschaft hinweist, dann aber etwas unvermittelt mit dem in jüngerer Zeit überstrapazierten Begriff eines „Kulturstaates Preußen“ operiert, ohne dass ersichtlich wird, was ihn vor anderen deutschen Territorien besonders auszeichnete. Dazu genügt es keinesfalls, wie Hinrichs es tut, in größter Ausführlichkeit die kulturelle Vielfalt Berlins zu beschreiben. Sie erleuchtete weder die preußischen Provinzen, geschweige denn die anderen deutschen Bundesstaaten. Bereits in der Prignitz und Uckermark, von der Neumark ganz abgesehen war – wie jeder Kenner weiß – vom Glanz der neuen Hauptstadt nur ein ferner Schimmer zu sehen.

Wenn der preußische Weg nach 1871 vielerorts im neuen Reich allmählich dominierend wurde, so war dies vor allem Ausdruck einer veränderten Machtlage zwischen den deutschen Teilnationen, nicht einer kulturellen Überlegenheit Preußens. Beinahe jedes größere deutsche Territorium besaß seine ganz eigenen kulturellen Traditionen. Daher kam gerade der borussischen Geschichtsschreibung bei ihrer Interpretation der preußischen Geschichte sehr lange eine so hohe Bedeutung zu. Sie hatte es sich aus guten Gründen zur Aufgabe gemacht, für eine preußisch-deutsche Identitätsstiftung mit sehr viel Emphase zu wirken. Um die Zukunft für Preußen zu gewinnen, konstruierte man dessen großartige Vergangenheit auf Kosten der anderen Fürstenhäuser des Alten Reiches. Während Hinrichs dies für die älteren Abschnitte der Hohenzollerngeschichte stets im Auge behält, gerät dieser zentrale Aspekt im Verhältnis von preußisch-deutscher Staatsbildung und deutscher Nationswerdung mit dem späten 18. und dem 19. Jahrhundert aber immer stärker ins Hintertreffen. Deshalb vermag besonders der kundige Leser aus der Preußengeschichte Hinrichs Gewinn zu ziehen.

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