Am 15./16. März 2012 organisierte der Kölner Historiker Moritz Isenmann eine Konferenz im Deutschen Historischen Institut Paris, die sich zum Ziel setzte, die Debatte zum „Merkantilismus“ wieder aufzunehmen.1 Die Autoren des aus dieser Tagung hervorgegangenen Sammelbandes entsprechen, mit Ausnahme des Beitrags von Junko Thérèse Takeda, den Vortragenden der Tagung.
Das Buch widmet sich einem Begriff, der seinen festen Platz in der universitären Lehre sowie in Überblickswerken zur Geschichte des ökonomischen Denkens hat und auch in sehr jungen Publikationen lebhaft diskutiert wird (S. 12). Trotzdem ist das Ergebnis des Tagungsbandes – diese Pointe soll an dieser Stelle vorweggenommen werden – eindeutig und unmissverständlich. Die meisten Autoren – Wolfgang Reinhard und Laurence Fontaine sind hier die einzigen Ausnahmen – widmen sich der Aufgabe, entweder den diskutierten Begriff selbst oder seine argumentativen Grundlagen zu dekonstruieren. Keiner von ihnen plädiert dafür, den diskutierten Begriff in seiner üblichen Bedeutung weiterzuverwenden.
Lars Magnusson hebt hervor, dass der Begriff „Merkantilismus“ eine zugespitzte Konstruktion der Freihandelsbefürworter vom Ende des 18. Jahrhunderts ist, obwohl die Begriffsbildung keine historische Entsprechung besaß. Weder seien in Frankreich Geld und Wohlstand gleichgesetzt worden, noch habe es andernorts eine Form der Zentralverwaltungswirtschaft gegeben. Zwar ist Magnusson überzeugt, dass diese Erkenntnisse wichtiger sind als eine Antwort auf die Frage, ob der Merkantilismus auch heute noch ein hilfreiches Konzept ist. Trotzdem bejaht er dies unter der Voraussetzung, dass Merkantilismus als Bündel gemeinsamer Ansichten zur Frage verstanden wird, wie durch Außenhandel und Manufakturen Macht und Wohlstand eines frühmodernen Staates vergrößert werden können (S. 38).
Philipp Robinson-Rössner legt dar, dass der Merkantilismus auch ein konstitutiver Teil eines Währungssystems war (S. 44), da eine positive Handelsbilanz zwingend Währungsstabilität voraussetzte. Zwar wollten in der Frühen Neuzeit Kameralisten wie Johann Joachim Becher durch eine bestimmte Währungspolitik Geldabfluss und Währungsabwertungen verhindern. Gerade im deutschen Raum ohne klare Grenzen ließ sich der Geldabfluss jedoch kaum kontrollieren. Währungsstabilität, so Rössners Fazit, war schon damals ein wichtiges Anliegen.
Thomas Simons Beitrag verfolgt in erster Linie das Ziel, den Merkantilismusbegriff durch Abgrenzung vom Kameralismus zu schärfen. So zeige der Vergleich, dass allein der Merkantilismus auf der Annahme basierte, erst durch Handel könnten Gewinne realisiert werden. Beim Kameralismus hingegen entstand Wohlstand durch die Produktion. Dieser war keine Folge eines globalen „Nullsummenspiels“ und wurde nicht zwangsläufig auf Kosten anderer Länder erzielt. Ursache für die im deutschsprachigen Raum schwache Rezeption des Merkantilismus war vielmehr, dass Deutschland nicht wie Frankreich eine Handels- und Seefahrtnation war, sondern die (produktive) Landwirtschaft im 18. Jahrhundert hier eine erheblich größere Bedeutung besaß (S. 77).
Eine andere Perspektive nimmt der Aufsatz von Jean-Yves Grenier ein. Im Zentrum steht bei ihm die Differenz zwischen dem Wohl der Gemeinschaft – mithin dem nationalen oder inneren Markt – und dem Außenhandel. Dies führt Grenier auf das scholastische Erbe des Merkantilismus zurück. Diese Unterscheidung von Innen- und Außenwelt ist folgenreich, weil in beiden Bereichen verschiedene Regeln herrschten. Im Inneren galt es, Monopole zu vermeiden und den „gerechten Preis“ zu realisieren. Im Außenhandel waren Monopole nützlich, um möglichst hohe Renditen zu erwirtschaften. Auch sollte im Inneren übermäßiger Konsum verhindert werden. Hauptgrund hierfür war jedoch nicht die Handelsbilanz, sondern Gottesfurcht, die jeden zum standesgemäßen Konsum verpflichtete. Dem Axiom des Merkantilismus folgend, wonach der Gewinn des Einen dem Verlust des Anderen entspreche, konnte Handel im Inneren keinen Gewinn einbringen. Gleichzeitig wurde erwartet, dass der Einzelne für das Wohl des Ganzen zurücksteckte (S. 103). Das führt zu dem fast zynischen Ergebnis, dass der Gewinn des (Außen-)Händlers zwar dem Wohl der Gemeinschaft und des Königs entsprochen habe, jedoch nicht unbedingt dem des Individuums (S. 109).
Ein Kuriosum stellt der Beitrag von Wolfgang Reinhard dar, nennt er doch den Begriff „Merkantilismus“ kein einziges Mal. Er argumentiert, dass die Geschichte des ökonomischen Denkens immer auch eine Kulturgeschichte ist, und stellt sich damit gegen eine mathematisierte Wirtschaftswissenschaft, die suggeriere, es existierten kulturell nicht gebundene ökonomische Gesetze (S. 114). Die historische Anthropologie habe zeigen können, dass die Marktwirtschaft „nicht etwa quasi-natürlich gewachsen […] (sei), sondern allmählich von Menschen konstruiert wurde“ (S. 125). Reinhards kulturpessimistisches Fazit: Der „atemberaubende wirtschaftliche Aufstieg des Menschen (beruht) tatsächlich auf der Entfesselung einer seiner niederträchtigsten Eigenschaften, nämlich der Habgier“ (S. 131). Die Entgegnung von Laurence Fontaine ist erheblich optimistischer. Sie unterstreicht den Zusammenhang zwischen dem Status von Marktteilnehmern und den demokratischen Rechten, die Menschen – ihre Beispiele beziehen sich häufig auf Frauen – genießen. Zwar entwickelten sich beide Sphären nicht im Gleichschritt, aber doch so eng beieinander, dass Fontaine überzeugt ist, Entwicklungen auf dem Markt würden politisch-rechtliche Rückkopplungseffekte zeitigen.
Moritz Isenmann kehrt mit der Frage „War Colbert ein ‚Merkantilist‘?“ zurück zum Hauptthema der Arbeit. Er „entlarvt“ in seinem Aufsatz den vermeintlichen Mustermerkantilisten Colbert, indem er von der Historiographie einseitig interpretierte Quellen neu liest. Entscheidend ist aus seiner Sicht, dass es nicht der Markt war, der für Colbert den zentralen Bezugspunkt darstellte, sondern die sogenannte „natürliche Ordnung“, die vorsah, dass jedes Land seine überschüssigen Produkte verkaufte, um im Gegenzug das Notwendige zu erhalten (S. 158). Die Vorstellung, das Marktgeschehen über Zölle so zu manipulieren, dass die ausländischen Produkte nicht mehr konkurrenzfähig wären, sei Colbert hingegen fremd gewesen. Vielmehr wurden über die Zölle die Preisvorteile der importierten Produkte nivelliert. Ein Bestehen in der Konkurrenz war mithin nur noch durch Qualitätsproduktion möglich, nicht mehr durch günstige Preise. Die meist Colbert unterstellte Handels- und Machtpolitik auf Kosten der Nachbarn sei in Wirklichkeit die Strategie Großbritanniens gewesen. Die Konsequenz: „Zumindest als ökonomischer Epochen-Begriff wäre der ,Merkantilismus‘ ohne Colbert wohl definitiv hinfällig“ (S. 167).
Jochen Hook leistet Isenmanns Argumentation am Beispiel der Händler in Rouen (Normandie) und ihres Umgangs mit der Herausforderung durch den Colbertismus Schützenhilfe. Er beschreibt Colbert als Wirtschaftspolitiker, der angesichts der Krise und des Rückgangs der Investitionen in die internationale Handelsstruktur den Kommerz stärken wollte. Seine Maßnahmen, die unter anderem auf eine staatlich gesteuerte Handelstätigkeit hinausliefen, seien in Rouen erbittert bekämpft worden. Die Folgen muten aus heutiger Sicht paradox an: Colberts durchaus autoritäre Maßnahmen, denen sich die Händler häufig entziehen konnten, haben die Entwicklung eines Marktes, mithin einer liberalen Wirtschaft begünstigt. „Wenn Colbert seine Kritiker auch nicht überzeugen konnte, so hat er sie doch zweifellos transformiert“ (S. 238).
Burkhard Nolte zeigt am Beispiel der „Zölle und Akzise(n) im friderizianischen Preußen“ ebenfalls, dass staatliche Grundlinien von geringer praktischer Relevanz waren: „Die ständigen und variantenreichen Erneuerungen der Vorschriften belegen, dass die Kontrollbestimmungen weitgehend totes Papier blieben“ (S. 217). Junko Thérèse Takeda höhlt den „Colbertismus“ weiter aus, indem sie zeigt, dass die südfranzösische Hafenstadt Marseille Teil einer frühmodernen globalen Wirtschaft war, der auch Colberts Maßnahmen genügend Flexibilität ließen, um auf Grundlage von Handelsprivilegien am Mittelmeerhandel zu partizipieren. Strenge staatliche Kontrolle – eine Voraussetzung für den idealtypischen Merkantilismus – habe sich nicht realisieren lassen.
Im Zentrum des Beitrags von Gijs Rommelse und Roger Downing steht die Neuinterpretation der drei britisch-holländischen Kriege in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Sie revidieren die Annahme, die ersten beiden seien Handelskriege gewesen. Vielmehr sei der erste Krieg (1652–54) als Folge der Enttäuschung seitens der Engländer zu interpretieren, nachdem das aufstrebende Holland die diplomatischen Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte (S. 188). Dies habe zu gegenseitigen Denunzierungen geführt, die den zweiten Krieg 1665–67 mitverursacht hätten. Merkantilistische Wirtschaftspolitik habe als Kriegsgrund keine Rolle gespielt.
Derart sturmreif geschossen, erhält der Merkantilismus durch Guillaume Garners abschließenden Aufsatz zu Deutschland 1750 bis 1820 den letzten Stoß. Garner widerlegt die Annahme, es habe unter den Wirtschaftsakteuren durchgängig gemeinsame Interessen gegeben, die zu einer gemeinsamen Front gegen staatliche Maßnahmen geführt hätten. Vielmehr habe beispielsweise die Zustimmung zu oder die Ablehnung von Schutzzöllen durch Händler und Produzenten von der jeweiligen individuellen Marktsituation abgehangen. „Am Ende trägt er (der Begriff des Merkantilismus) eher dazu bei, wichtige Fragen der Geschichte zu vernebeln als dazu, zu ihrer Aufklärung beizutragen (S. 288).“
Wer sich dem Begriff „Merkantilismus“ – so sehr er auch von den Artikeln infrage gestellt wird – nähern möchte, wird an dieser Arbeit, die mit guten Gründen in die Reihe der Beihefte der Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte aufgenommen wurde, nicht vorbeikommen. Die Qualität der Aufsätze ist durchweg hoch, und es wurde konsequent Literatur aus dem englisch-, deutsch- und französischsprachigen Raum herangezogen. Rätselhaft bleibt allein, weshalb die Beiträge von Reinhard und Fontaine nicht inhaltlich besser eingebunden wurden.
Ein eindeutiges Fazit lässt sich jedoch nicht herausarbeiten. Soll man den Titel gebenden Begriff nun inhaltlich neu füllen (Magnussen, Simon), ihn als überholt ablehnen (Nolte, Garner) oder gar durch einen anderen ersetzen (Rommelse/Downing)? Zwar ist das Argument durchaus plausibel, wonach ein Terminus abzuschaffen sei, der keinen Erkenntnisgehalt mehr besitze oder in die Irre führe, indem er Eindeutigkeit suggeriere, wo es keine gebe. Die Geschichtswissenschaft kennt aber zahlreiche Begriffe, die als überholt gelten und trotzdem ihren festen Platz im wissenschaftlichen und universitären Lehrdiskurs haben. „Merkantilismus“ wird daher wohl kaum aus der Forschung verschwinden. Ein Ertrag versprechendes Analyseraster ist er jedoch spätestens nach diesem Sammelband nicht mehr. Das ist für eine Publikation kein kleines Verdienst.
Anmerkung:
1 Vgl. den Tagungsbericht auf <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4213&sort=datum&order=down&search=dhi+paris+Merkantilismusrkantilismus> (07.01.2015).