In einer Zeit, in der man mit einem Handy an jedem beliebigen Ort den Wissensbestand der Welt per Internet nutzen kann, dürfte das Interesse an den zahlreichen Facetten des Gedächtnisses zunehmend schwinden. Doch diese Annahme ist falsch, wie uns Aleida Assmann mit ihrem kenntnisreichen Buch beweist. Ob aus kulturwissenschaftlicher, naturwissenschaftlicher oder medientechnischer Sicht die Erforschung des Phänomens des Erinnerns und des Speichern bleibt eine aktuelle Aufgabe.
Aleida Assmann setzte sich das Ziel, "möglichst viele Ansichten auf das komplexe Erinnerungsphänomen zu ermöglichen und dabei längere Entwicklungslinien und Problemkontinuitäten aufzuzeigen." (S. 16)
Das Buch wurde in drei Teile ( Funktionen, Medien, Speicher) gegliedert.
Im ersten Teil wird der Leser mit den verschiedenen Gedächtnistheorien und -diskursen sowie mit deren begrifflicher Klärung vertraut gemacht. Dabei versuchte Assmann die Doppelgesichtigkeit des Gedächtnisses durch die Gegenüberstellung von "ars" und "vis" zu fassen, um "neben der mnemotechnischen Ordnungsfunktion von Wissen etwas von der Vielfalt anderer Gedächtnisfunktionen freizulegen. Alle diese kreisen grundsätzlich um den Zusammenhang von Erinnern und Identität." (S. 18)
Die verschiedenen und durchaus miteinander konkurrierenden Funktionen des kulturellen Gedächtnisses werden dann vorgestellt und an literarischen Beispielen "Erinnerungspolitik" illustriert. Dabei gelingt es Assmann, die notwendigen Interaktionen, die zur Aushandlung des kulturellen Gedächtnisse zwischen Individuum und Kulturen erforderlich sind, transparent zu machen. Mit der sprachlichen Kommunikation, der bildhaften Darstellung und der rituellen Verfestigung verändert sich auch das kulturelle Gedächtnis.
Die besonders seit 1989 auffällige politische Instrumentalisierung von Erinnerung und Identität wird von Assmann an markanten Beispielen und deren historischen Wurzeln thematisiert. Mit Blick auf das sehr heterogene Gebilde eines Europas fragt sie mit Recht: "Stehen sich heute vergessensfreudige und erinnerungsfreudige Gesellschaften in neuer Polarisierung gegenüber?" (S. 63) Denn, und das belegt sie an Beispielen aus Shakespeares Historien, die eigentlichen Akteure der gegenwärtigen Dramen sind die Erinnerungen. Shakespeares Werke eignen sich vortrefflich, um zu zeigen, wie Identitäten produziert und wieder demontiert werden. (S. 84)
"Each man is a memory to himself." (William Wordsworth) (S. 89) und welche Kraft sich aus der Erinnerung schöpfen läßt, veranschaulicht das Werk Wordsworth. Das Wechselspiel von Recollection und Anamnesis läßt sich am Beispiel jenes Dichters fassen.
Bei aller Vielfalt der möglichen Erinnerungen erstaunen dann Überlebenschancen des kulturellen Gedächtnisses in seiner historischen Dimension und es stellt sich die Frage nach den Selektionsprinzipien. Am Beispiel dreier "Gedächtniskisten", der Arche Noah (Hugo von St. Victor, 12. Jahrhundert), des Kästchens des Darius (Heinrich Heine, 19. Jahrhundert) und der Bücherkiste ( E. M. Forster um 1900) führt uns Aleida Assmann die Problematik der Selektion im kulturellen Gedächtnis angesichts der zunehmenden Fülle des zu Erinnernden vor Augen. Erinnern und Vergessen sind nicht nur untrennbar verbunden, sondern die Relation zwischen beiden verschiebt sich immer wieder neu und somit auch der Inhalt der "Gedächtniskisten".
Im zweiten Teil werden die Medien, ihre Entwicklung und deren vielfältige Einflüsse auf das Gedächtnis behandelt. Über die Metaphorik der Erinnerung, der Schrift, dem Bild, dem Körper und dem Orte der Erinnerung führt sie den Leser in weite und tiefe Erinnerungsräume von der Antike bis zur Gegenwart. Als ein Beispiel der Medien seien hier die falschen Erinnerungen etwas näher betrachtet.
Mit dem nicht namentlichen Hinweis auf die Theoretiker referiert Assmann die bekannte Tatsache, daß Erinnerungen von Meinungs- und Einstellungsänderungen nicht unabhängig sind.1 "Aktuelle Affekte, Motivationen, Intentionen sind die Wächter über Erinnern und Vergessen." (S. 265) In dem Werk Nietzsches findet sich dann der nun schon berühmte Aphorismus, der dies Problem schlaglichtartig erhellt. "Das habe ich gethan sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - giebt das Gedächtnis nach. "2 Spätestens hier kommt jetzt das Gewissen ins Spiel, dem das Gedächtnis zur Hilfe kommen sollte. Leider wird der Entstehung des Gewissens und seines Einflusses auf die falschen Erinnerung nicht weiter nachgegangen. Mit einem Blick in das Kittsteinersche Buch "Die Entstehung des modernen Gewissens" hätte sich der spannende Sachverhalt leicht vertiefen lassen.3
Die Problematik der falschen Erinnerungen diskutiert Assmann dann an markanten Beispielen wie der amerikanischen "False-Memory-Debate", der historischen Methode der oral history und der "Wahrheit" falscher Erinnerungen. Die Relativität der Erinnerungen wird so überzeugend dokumentiert und dennoch wird die Erinnerung als ein Weg zur Wahrheitsfindung nicht in Frage gestellt. Über richtige oder falsche Erinnerungen entscheiden letztendlich das Kontextwissen und die Art und Weise der Instrumentalisierung. Heiner Müllers Erinnerung an den 17. Juni 1953 und sein Zusammentreffen mit dem pfeiferauchenden Stephan Hermlin in Pankow, der aber zu diesem Zeitpunkt gar nicht in Berlin sondern in Budapest weilte (S. 270) oder die Erinnerung der jüdischen Immigrantin Mary Antin (S. 273) seien hier nur beispielsweise erwähnt, um die Neugierde der Leser zu wecken.
Im dritten und letzten Teil werden die Speicher in einem breiten Bogen vom Archiv über Konservierungsprobleme, Gedächtnis-Simulationen, Gedächtnis als Leidschatz bis zum Jenseits der Archive vorgestellt. Wie gehen Wissenschaft, Politik und Kunst mit den vielfältigen Überlieferungen und Gedächtnislandschaften in einer sich ständig wandelnden Zeit um? Gesellschaftliche Krisen, die das kulturelle Gedächtnis nicht ausschließen, motivierten Künstler, den drohenden Verlust des Gedächtnisses durch künstlerische Erinnerungen zu substituieren und so dienen sie uns bis heute als Speicher. Aus dieser Perspektive wird auch der gegenwärtige Abfall zum Archivgut.
Aleida Assmann, die sich seit Jahren mit den Themen Kultur und Gedächtnis beschäftigte, gelingt mit ihrem neuen Buch zu dieser Thematik ein gelungener Streifzug durch die Geschichte des Erinnerns und des Vergessens. Von der Antike bis in das digitale Zeitalter hinein beleuchtet sie Erinnerungsräume, die sowohl aus der Perspektive der Literatur-, der Geschichts-, der Kunst- und der Naturwissenschaft sowie der Philosophie von Interesse sind und waren. Der Leser wird mit souveräner Hand durch den interdisziplinären und multinationalen Dschungel des kulturellen Gedächtnisses geführt. Natürlich birgt ein derartiger Ansatz auch die Gefahr in sich, Erwartungen zu wecken, die im Rahmen dieses Buches nicht geleistet werden konnten. Hier wird es auch disziplinäre Unterschiede geben. Psychologen werden vielleicht Genaueres über jenen einen Aspekt der Organisation unseres Denkens (Rapaport) vermissen, während Geschichtswissenschaftlern sicherlich der Exkurs in die schwierige Problematik der oral history viel zu kurz erscheinen wird.4 Kulturwissenschaftler werden sich fragen, warum das konfessionelle Gedächtnis nicht explizierter behandelt wurde.5 Feministinnen fehlt wohl möglich der weibliche Blick auf das Gedächtnis.6 Dennoch ist es ein spannendes Buch, das neue Fragen aufwirft und zu weiteren Forschungen anregt. Innerhalb des seit Jahren geführten kulturwissenschaftlichen Diskurses über diese Thematik nehmen die "Erinnerungsräume" von Aleida Assmann sicherlich einen hervorragenden Platz ein.
Anmerkungen:
1 Siehe dazu die sozialpsychologische Studien mit einem Resümee zahlreicher weiterer Untersuchungen von Michäl Ross, Relation of implicit theories to the construction of personal histories, in: Psychological Review 96, 1989, S. 341-357.
2 Friedrich Nitzsche, Jenseits von gut und Böse: Vorspiel einer Philosophie der Zukunft, Frankfurt am Main 1972, S. 71 (1. Aufl. 1886).
3 Siehe dazu Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1992.
4 Siehe u.a. Andrew Shryock, Nationalism and the genealogical imagination. Oral History and textual authority in tribal Jordan, Berkeley 1997; Ken Howarth, Oral history, Stroud, Gloucestershire 1999.
5 Siehe z.B. Stefan Laube, Fest, Religion und Erinnerung. Konfessionelles Gedächtnis in Bayern von 1804 bis 1917, München 1999 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte, 118). [http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/buecher/2000/FrNi0200.htm]
6 Siehe beispielsweise Marianne Vogel, Cherchez la femme, Strategische Überlegungen zur Integration von Schriftstellerinnen ins kulturelle Gedächtnis, in: Christiane Cämmerer, Walter Delabar u. Marion Schulz (Hrsg.), Die totale Erinnerung. Sicherung und Zerstörung kulturhistorischer Vergangenheit und Gegenwart in den modernen Industriegesellschaften, Bern, Berlin, Frankfurt am Main, New York, Paris, Wien 1997 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, 45).