Sonderlich originell ist der Titel nicht: "Zweierlei Geschichte" haben Bernd Faulenbach, Annette Leo und Klaus Weberskirch ihre gemeinsame Veröffentlichung genannt. Damit stehen sie in einer langen Reihe ähnlich klingender Titel, die den Ursachen der Entfremdung zwischen Ost- und Westdeutschen auf den Grund gehen wollen. Aber es liegt wohl in der Natur der Sache, dass Autoren, die sich im Spannungsfeld der trennenden und verbindenden Elemente zwischen Ost und West bewegen, das "Zweierlei" oder das "Doppelte" herausstellen wollen.
Die Studie, kürzlich von Wolfgang Thierse im Kulturforum der Sozialdemokratie vorgestellt, ist zunächst einmal eine Fleißarbeit. Auf der Suche nach "Lebensgeschichte und Geschichtsbewusstsein von Arbeitnehmern in West- und Ostdeutschland", so der Untertitel, führten die drei Herausgeber insgesamt 92 intensive Interviews mit Arbeitern in Dortmund, Bochum, Hennigsdorf bei Berlin und Frankfurt/Oder. Mit Hoesch in Dortmund und dem Stahlwerk Hennigsdorf wurden zwei "alte Industrien" gegenübergestellt, mit Nokia in Bochum und dem Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder zwei Firmen der neueren Elektronikbranche. Gefragt wurde unter Anderem nach der persönlichen Lebensgeschichte, der Erinnerung an bestimmte Daten wie der "Wende" 1989/90 oder dem Mauerbau 1961, dem Blick auf die Tradition der Arbeiterbewegung, der Bewertung des Nationalsozialismus und der identitätsstiftenden Rolle von Geschichte allgemein.
Die drei Historiker schaffen sich also ihre Quellen selbst - doch anders als beispielsweise Lutz Niethammer in den oral history-Projekten der 1980er wollen Faulenbach, Leo und Weberskirch nicht nur die persönlichen Ansichten und Ausprägungen von Geschichtsbewusstsein dokumentieren, sondern auch mit vorgegebenen Kategorien interpretieren. Wie hängen persönliche Prägungen, biographische Brüche und die Bewertung historischer Prozesse miteinander zusammen?
Eine ehrgeizige Fragestellung, mit der die Autoren jedoch nur teilweise erfolgreich waren. Zu oft wiederholen sich auf den 465 Seiten ähnliche Aussagen, zu bemüht und teilweise banal wirkt der Zwang zur wissenschaftlichen Umschreibung der Zitatpassagen, dem die Autoren leider immer wieder erliegen. Dennoch ist das Buch stellenweise sehr spannend zu lesen: Der erste Teil stellt west-östliche "Parallelbiographien" vor, geteilt nach einem Generationsschema, das zwischen "Kriegsgeneration", "HJ/FDJ-Generation" und den Nachkriegsgenerationen der in den 1940ern und 1950ern Geborenen unterscheidet. Bei den Älteren, die den Krieg als Soldaten miterlebt haben, überwiegen hier die Gemeinsamkeiten, wogegen bei denjenigen, die durch den Wiederaufbau in zwei feindlichen Systemen geprägt wurden, die Gegensätze am stärksten sind.
Alarmierend sind zwei Ergebnisse der Studie: Sehr deutlich wird die Fixierung vieler gelernter DDR-Bürger auf Homogenität und Sicherheit, die ihnen oft wichtiger erscheinen als die Freiheiten einer demokratischen Gesellschaft. Der 1948 geborene Gerhard Ring drückt es so aus: "Früher wurde immer gesagt: Die DDR ist 'n Polizeistaat, überall wo man guckt sind Polizisten. Die Leute an sich war 'n aber geschützt und konnten den Polizisten auch auf der Straße ansprechen und der hat auch geholfen. Zur heutigen Zeit sieht die Freiheit der Menschen auch so aus, daß sie sich eben jegliche Freiheiten herausnehmen dürfen." Das parlamentarische System und die als übertrieben empfundene Konkurrenz zwischen den Parteien lehnen Ring und andere als zu kompliziert und unehrlich ab. Im Westen sind diese Erscheinungen nach fast 50jähriger Übung zwar selbstverständlich geworden - beunruhigend ist aber eine von fast allen Interviewpartnern vertretene Haltung, sich als Objekte staatlichen Handelns zu sehen, als Opfer nicht beeinflussbarer politisch-ökonomischer Prozesse. Das "autoritäre Erbe" (Thierse) der DDR und die gesamtdeutsche Abneigung gegen "die da oben" könnten so zu ernsthaften Problemen führen - eine sicherlich aktuelle Feststellung.
Fast schon überholt wirken dagegen andere Aussagen der bereits Mitte der 90er Jahre geführten Interviews - was kein Nachteil sein muss, beIn den vergangenen Jahren haben mehrere ambitionierte Handbuch-Projekte zur Bildungs-geschichte das Interesse an der Entwicklung des Schul- und Universitätswesens neu geweckt.1 Die Publikation zusammenfassender Überblicke darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass darüber hinaus einzelne Institutionen nach wie vor einer intensiven Bearbeitung bedürfen. Die Kölner Universität gehört dabei sicherlich zu den Bildungseinrichtungen, die bislang am besten erforscht sind. Mit der hier zu besprechenden Arbeit ist immerhin bereits Band 15 der "Studien zur Geschichte der Universität zu Köln" erreicht.
Dorothea Fellmann geht in ihrer von Erich Meuthen betreuten Kölner Dissertation auf eine Besonderheit der frühneuzeitlichen Schulgeschichte ein. Sie behandelt die Geschichte des Gymnasium Montanum in seiner engen Verschränkung mit der Universität. Das Montanum war Gymnasium, insofern es die schulischen Voraussetzungen für weiterführende Studien ermöglich-te. Das Montanum war aber auch Universität, insofern es - wie die beiden anderen Kölner Gymnasien (das Laurentianum und das Jesuitengymnasium Tricoronatum) - die aus dem mittel-alterlichen Studium der Artes erwachsenen philosophischen Teilbereiche abdeckte, die ihrerseits wieder Voraussetzung für ein Weiterstudium an einer höheren Fakultät waren. Es war also "sowohl dem voruniversitäten als auch dem universitären Bildungssektor zuzurechnen" (S. 1). Die Geschichte dieses Gymnasiums wird von der Autorin für den Zeitraum von 1550, als die Jesuiten nach Köln kamen, bis 1798, als die Universität Köln aufgehoben wurde, untersucht. Der allgemeine Rahmen der Kölner Schulgeschichte wird dabei vorausgesetzt, was die Lektüre der Dissertation nicht eben erleichtert. Für den damit nicht vertrauten Leser wären einige ereignis-geschichtliche Hinweise zur Entstehungs- bzw. Auflösungsphase sehr hilfreich.
Die Autorin geht ihr Thema in verschiedenen Querschnitten an. Zunächst stellt sie die Schulleiter und das Lehrpersonal vor sowie ihr über den regulären Unterricht hinausgehendes Engagement in sogenannten "Collegia", in denen regelmäßige Disputationen stattfanden. Die im Anhang mitgegebene Prosopografie der Montaner-Professoren ergänzt die darstellende Beschreibung. Ausführlich behandelt Fellmann die finanzielle Dotierung des Gymnasiums, die nach dem durch die Konkurrenz der kostenfrei unterrichtenden Jesuiten bedingten Verzicht auf Schulgeld weitgehend über Stiftungen erfolgen musste. Dabei handelte es sich zum Teil um Messstiftungen für die Professoren des Montanum, zum Teil um Studienstiftungen, die ihrerseits wieder sowohl Studenten als auch Professoren zukamen. Der geografische Einzugsbereich reichte dabei weit über das Rheinland hinaus bis nach Franken. Für die Einbindung in die Artes-Fakultät spielten diese Stiftungen und die damit verbundenen Pfründen eine wichtige Rolle.
Fellmann analysiert sodann die Entwicklung der Schülerzahlen des Montanum. Die Zahl der Immatrikulationen bzw. Bakkalaureanden bewegte sich - fassbar ab der Mitte des 17. Jahrhunderts - zwischen 23 und 59 pro Jahr. Das Verhältnis von nobiles und pauperes entwickelte sich dabei gegenläufig: die nobiles nahmen bis auf 23 % (1789-1794) zu, der Anteil der pauperes sank von 23 % (1640-1649) auf unter 1 % (1789-1794). Warum in den letzten Jahren vor dem Ende der Universität fast Gleichstand (22 % nobiles zu 19 % pauperes) erreicht wurde, wird leider nicht weiter erörtert.
Das am Montanum vertretene Bildungskonzept orientierte sich an einer humanistisch geprägten Scholastik. Das verhinderte lange Zeit das Aufgreifen anderer Bildungsimpulse. Die konservative Einstellung des Montanum zeigte sich bis ins 18. Jahrhundert hinein darin, dass neue Lehrer keine neue Lehrmethode oder -meinung einführen durften. Erst im letzten Drittel des 18. Jahr-hunderts öffnete sich das Montanum einer gemässigten katholischen Aufklärung. Diese grund-sätzliche Ausrichtung lässt sich auch am Buchbestand der Gymnasiumsbibliothek ablesen.
Sozialgeschichtlich bedeutsam war die Verflechtung des Montanum mit der Stadt Köln. Einer-seits kamen eine Reihe Schüler und Lehrer des Montanum aus vornehmen Kölner Familien; besonders das Amt des Regens galt als erstrebenswert. Andererseits galt eine Lehrstelle am Gymnasium als gutes Sprungbrett für eine Kölner Pfarrstelle. Auch unter den im Dienst der katholischen Reform tätigen höheren Geistlichen des Erzbistums Köln gab es solche, die mit dem Montanum in Verbindung standen. Personelle Verbindungen galten zudem anderen Gymnasien im rheinisch-westfälischen Raum.
Der Wirkung der Bildungsinstitution Montanum geht der letzte Teil der Arbeit nach, der chrono-logisch die Veröffentlichungen von Professoren des Gymnasiums behandelt. Sie orientierten sich weitgehend am humanistischen Bildungskanon.
Dorothea Fellmann schreibt die Geschichte eines Gymnasiums, das Teil einer Universität war und in einer frühneuzeitlichen Reichs- und Bischofsstadt der Konkurrenz eines jesuitisch geführten Kollegs standhalten musste. Die dabei ausgeprägte eigene Identität kann als humanistische Scholastik bezeichnet werden. Was für das 16. und 17. Jahrhundert innovativ erscheinen konnte, musste im 18. Jahrhundert als konservativ gelten. "Das Montanum, zunehmend finanziell abgesichert durch Stiftungen, konnte sich nicht zuletzt deshalb so lange behaupten, weil es bei Fragen der Unterrichtsgestaltung auf einvernehmliche Regelungen mit den anderen Gymnasien setzte und beharrlich einen Kurs zwischen Anlehnung an jesuitische Konzepte und Wahrung eines eigenen Profils verfolgte." (S. 222) Die Autorin arbeitet auch gut heraus, wie gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufklärerisches Gedankengut aufgegriffen wurde. Die Person von Ferdinand Franz Wallraf, der vor seiner Bestellung zum Medizin-Professor am Montanum Naturgeschichte und Ästhetik lehrte, steht für die Auseinandersetzungen um eine inhaltliche Öffnung der traditionsreichen Institution.
Die Dissertation von Fellmann zeigt, wie facettenreich und spannend die Geschichte einer Bildungsinstitution sein kann. Über einen längeren Zeitraum hin betrachtet, spiegeln sich darin die sozialen, mentalen und wissenschaftlichen Veränderungen auf lokaler und regionaler Ebene wider. Gleichzeitig werden an der vorliegenden Arbeit die Schwierigkeiten einer solchen Dar-stellung sichtbar. Durch eine inhaltliche Gliederung des Stoffs lassen sich Wiederholungen kaum vermeiden. Das macht die Lektüre der Arbeit an manchen Stellen etwas schwierig.
Anmerkung:
1 Vgl. Hans Liedtke (Hrsg.): Handbuch der Geschichte des Bayerischen Bildungswesens. Vier Bände in fünf Teilbänden, Bad Heilbrunn 1991-1997; Christa Berg / Notker Hammerstein (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, bislang Band 1 und 4, München 1991-1996.trachtet man diesen Band als Quellensammlung und historische Momentaufnahme. Annette Leo sieht hier sogar einen Vorteil: "Als wir die Interviews geführt haben, war die Auseinandersetzung zwischen Ost und West noch frischer, die Abgrenzung noch nicht so selbstverständlich wie heute."