Reisen als eine individuelle, der Wissenserweiterung oder der touristischen Unterhaltung dienende Unternehmung gehört in der europäischen Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts zu den Selbstverständlichkeiten der Berufs- und Freizeitgestaltung. Die zu besprechende Studie Christoph Nebgens ist als kirchengeschichtliche Habilitationsschrift an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz entstanden und dem Thema der Reiseerfahrungen aus konfessioneller Sicht in der Zeit zwischen 1648 und 1815 gewidmet. Grundlage sind 200 ausgewertete Titel der Reiseliteratur mit Bezug zur Rheinregion. Der Band wird mit einem Geleitwort von Volker Leppin (Tübingen) eröffnet, der die Herausarbeitung literarischer und weltanschaulicher Topoi mit Bezug auf die aktuellen regionalen wie konfessionsabhängigen Kulturerscheinungen vor dem Hintergrund des Reformationsjubiläums 2017 und der das 20. Jahrhundert prägenden Migration würdigt.
Beginnend mit der Einordung der „Reiseliteratur als historische Quelle“ (S. 13) folgt als zentrales Thema die Analyse des konfessionell motivierten Blickes auf landschaftliche Zusammenhänge. Die hier entwickelten Thesen werden im Folgenden modellhaft für die Region zwischen Mainz und Köln (S. 191–225) untersucht. Die Beschäftigung mit Goethes Reise nach Mainz ersetzt ein Resümee (S. 229–244). Eine kurze Schlussbetrachtung (S. 245f.) nimmt den Grundgedanken des einleitenden Kapitels wieder auf und überträgt die Probleme konfessionell geprägter Kulturbetrachtung auf unsere Zeit, insbesondere für die gegenseitige Wahrnehmung von Christen und Muslimen. Damit schärft der Band auch den Blick für die Eigendynamik diskreditierender Topoi.
Der Verfasser gliedert den untersuchten Quellenbestand mittels älterer Bibliographien, Subskribentenlisten, Praenumerantenverzeichnisse und Verlagsorte (S. 33ff., 47ff.), wodurch sich Rückschlüsse auf die zeitgenössische Leserschaft ergeben. Dem heutigen Leser wird somit ein auch mentalitätsgeschichtlich auswertbares Textkorpus erschlossen (S. 51–55), das im Anhang (S. 245–254) noch einmal gesondert nach Autoren aufgelistet ist. Dies scheint für die Vorbereitung künftiger Detailforschung sehr nützlich.
Einleitend betont der Verfasser den Kontext von konfessionell wechselnden Nachbarschaften (vgl. S. 5f.) entlang des Rheines, welche die Reisenden zu entsprechenden Überlegungen veranlassten. Ausgehend vom Augsburger Religionsfrieden sieht er eine Vertiefung der territorialen Zersplitterung im Rheinland, welches erst seit der Verleihung des Status als UNESCO-Weltkulturerbe 2002 wieder als ein zusammenhängender Kulturraum begriffen werde (S. 3). Diese weitgefasste Perspektive positioniert den Band in besonderer Weise gegenüber religiös-ethnischen Stereotypen in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft, wie im knapp gefassten Schluss der Studie (S. 245f.) illustriert wird. Hierdurch erhält der Band auch politische Relevanz.
Der Autor untersucht zunächst die humanistisch geprägte Kritik am klassischen Pilgerbericht (S. 31, vgl. S. 15) und am landschaftsprägenden Bild katholischer Erinnerungsorte, denen ein auffallender Mangel an protestantischen Erinnerungsorten gegenüberstand (S. 8). Er konstatiert dabei, dass die Quellengattung der Reiseliteratur ein vernachlässigtes Genre der Kulturwissenschaft (Literaturwissenschaft) darstellt. Diese auf antike Vorbilder zurückgehende Literaturgattung in ein neues Licht gerückt zu haben, gehört zu den Verdiensten der Arbeit. Nebgen fügt eine große Zahl längerer Zitate in den Text ein, was den Leser auf informative und angenehme Weise durch das Thema leitet.
Der Verfasser interessiert sich besonders für die „Ars apodemica“, bekannt in Form der Kavaliersreise mit ihrem exklusiv subjektiven Anspruch, der auch auf akademische Preisfragen antwortete und auf die öffentlich-literarische Diskussion wirkte. Hier entwickelten sich universitäre Curricula und letztendlich auch die methodischen Grundlagen ethnologischer Studien (S. 24). In diesem Kontext weist der Verfasser auf die Entstehung neuer Begriffe wie „Volk“ oder „Rasse“ hin (S. 25 mit Anm. 65), die er bereits in der Reiseliteratur um 1735 nachweisen kann. Solche Perspektiven fanden sich bei der Betrachtung außereuropäischer Völker, aber auch in Beschreibungen deutscher Volksfrömmigkeit und in der Kritik am katholischen Brauchtum (S. 32).
Neben englischen, französischen, italienischen (S. 29, vgl. S. 41, S. 146) und auch skandinavischen Autoren (vgl. S. 41) – auch für Frauen stellte das Publizieren von Reiseberichten eine gesellschaftlich akzeptierte Form des Gelderwerbes dar (S. 45) – fällt auf, dass unter den aufgeklärten Reisenden die Autoren norddeutsch-protestantischer Prägung überwiegen. Unter ihnen finden sich zahlreiche Juristen aus administrativen Betätigungsfeldern, Theologen und naturwissenschaftlich interessierte Autoren (Ärzte, S. 44). Zur Belehrung der Jugend verfasste Reiseberichte (S. 134–146) manifestieren ebenfalls das Bild konfessionell geprägter Kulturräume in der „Bildungslandschaft“ (S. 134). Dieser Befund passt zu einem ähnlichen Ergebnis, das jüngst Wolfgang Biesterfeld (Kiel) für die mit fiktiven Reiseberichten verbundenen narrativen Fürstenspiegel mit didaktischer Zielsetzung im gleichen Zeitraum publizierte, weswegen sich nach Ansicht des Rezensenten eine vergleichende Betrachtung beider Quellenbestände empfehlen könnte.1
Der Verfasser versteht es, der topographischen Beschreibung – insbesondere der Städte Köln, Mainz, Neuwied und Worms – ein anthropogenes Gesicht zu verleihen, indem er der mit literarischen Mitteln differenzierten Physiognomie der Landschaft (S. 79–107) die Physiognomie der Menschen (S. 158–189) zur Seite stellt. Abgesehen von dem reichen Material, welches der Verfasser der landeskundlichen Forschung im Rheingebiet erschließt, enthält der vorliegende Band wertvolle Beobachtungen zur Gestaltung des Raumes seit der Barockzeit anhand von Erinnerungsorten (Wallfahrtsplätze, Raumerschließung und -strukturierung durch Opferstöcke), welche für die Interpretation archäologischer Funde aus der Frühen Neuzeit hilfreiche Anregungen vermitteln, ebenso wie der Wirtschaftshistoriker Einblicke in die zeitgenössische Sichtweise auf das Verhältnis von Konfession und Wirtschaftsweise erhält.
Der durch sorgfältiges Layout gestaltete, stilistisch elegant geschriebene Band (lediglich einige Abbildungen erscheinen zu blass in der Grauschattierung), empfiehlt sich der Leserschaft mit einem Personen- und Ortsregister (S. 290ff.) sowie einem ausführlichen Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 255–288). Insgesamt handelt es sich um eine informative Studie, von der man sich gerne zu weiterer Forschung anregen lassen wird.
Anmerkung:
1 Wolfgang Biesterfeld, Der Fürstenspiegel als Roman. Narrative Texte zur Ethik und Pragmatik von Herrschaft im 18. Jahrhundert, Baltmannsweiler 2014.