P. Rudling: The Rise and Fall of Belarusian Nationalism

Cover
Titel
The Rise and Fall of Belarusian Nationalism, 1906–1931.


Autor(en)
Rudling, Per Anders
Reihe
Pitt Series in Russian and East European Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
436 S.
Preis
€ 26,37
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Ackermann, Deutsches Historisches Institut Warschau

Statt Belarus zu einem Sonderling unter den europäischen Nationen zu stilisieren, legt der schwedische Historiker Per Anders Rudling eine längst überfällige Darstellung der Entstehungsgeschichte des belarussischen Staates vor. Mit den Jahren 1906 bis 1931 umfasst sie dabei nur den ersten Teil der modernen Geschichte belarussischer Staatlichkeit. Dabei verweist der Autor von Anfang an auf den konstruierten Charakter dieser und sagt im Kern: Die Staatswerdung ist eine Folge der Vorstellungswelt der belarussischen Nationalisten, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts die Umrisse eines eigenen Staates auf die europäischen Landkarte projizierten. Die übliche Darstellungsweise ist, von einer misslungenen oder zumindest defizitären Nationsbildung zu sprechen. Es war den wenigen „Überzeugungstätern“ nicht gelungen, ihre Kernzielgruppe für ihr Projekt zu mobilisieren. Die Bauern in der Region zwischen Vilnius im Norden, Smolensk im Osten, Brest im Westen und den Pripjiet-Sümpfen im Süden, die einen Dialekt des auf dem sprachlichen Kontinuum des Slawischen zwischen Warschau und Moskau angesiedelten Belarussisch sprechen.

Die wichtigsten Gründe dafür nennt Rudling in seinem Buch: 1.) Die Sprache war bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs nicht kodifiziert. Die erste moderne Grammatik verfasste Branislau Taraschkewitsch in deutscher Gefangenschaft. 2.) Es gab in den Städten zu wenige Anhänger des belarussischen nationalen Projekts und in den Kleinstädten wurde es erst nach Ende des Ersten Weltkriegs populärer. 3.) Es mangelte sowohl denjenigen, die Belarussisch sprachen als auch denjenigen, die die Idee eines belarussischen Staates verfolgten, an sozialem Kapital. Dabei beschreibt Rudling auf 320 Seiten genau das: Wie ein an sich aussichtsloses Projekt nicht trotz, sondern aufgrund veränderter politischer Umstände Form annahm und wie die Akteure dazu beitrugen, in dem sie selbst soziales Kapital akquirierten. So schreibt Rudling in seiner Einleitung ganz zutreffend: „Essentially, this book is a study of a few hundred nationalist intellectuals and their construction of a new ethnicity east of Poland and west of Russia; it analyzes Belarus as a borderland terrain, social project, and political tool“ Doch genau dieser Fokus platziert Belarus neben anderen mittel- und osteuropäischen ethno-nationalen Mobilisierungsprojekten. Die meisten von ihnen setzten bereits Jahrzehnte, andere nur wenige Jahre früher ein und waren daher am Vorabend des Ersten Weltkriegs bereits präsenter. Rudling entscheidet sich, auf die von Miroslav Hroch formulierten Phasen der Nationsbildung im mittel- und osteuropäischen Raum zurückzugreifen, um eine plausible Einordnung des belarussischen Falls vorzunehmen. Rudlings Buch ist vor allem den ersten beiden Hrochschen Phasen der Akquise von kulturellem Kapital und dem politischen Lobbyieren von städtischen Vertretern gewidmet. Den Beginn der dritten Phase einer gerade in Gang kommenden breiteren Mobilisierung von unten datiert Rudling mit starken Argumenten in die Mitte der 1920er-Jahre. In der sowjetischen Teilrepublik, deren Titularnation formell die Belarussen waren, bewirkte eine Phase staatlicher Förderung belarussischer Kultur in den Städten eine stärkere Präsenz. Im Osten der Polnischen Republik gewann die sozialistische Hramada-Partei in den Dörfern und Städten zehntausende Mitglieder.

Das chronologische Ende des vorliegenden Buches setzt Rudling 1931 mit dem Abschluss der weitgehenden physischen Vernichtung der belarussischen Kulturelite in der Sowjetrepublik. Parallel dazu erfolgte unter dem polnischen Präsidenten Józef Piłsudski eine Wende in der Minderheitenpolitik. Dem Verbot der Hramada folgte die Internierung von Dutzenden ihrer Vertreter. Zur Erklärung der belarussischen Entwicklung zieht Rudling immer wieder naheliegende Vergleiche zur Ukraine heran. Die Grundannahme des Buches ist, dass Belarus ihrem Muster mit einiger Verspätung folgt. Um diese These zu widerlegen, fehlt noch das nachfolgende Werk, das erklären müsste, warum die Belarussische Sozialistische Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion nach Ende des Zweiten Weltkrieg durchaus ein Erfolgsmodell entwickelt hatte, mit dem sich ein großer Teil der Bevölkerung identifizierte. Ein solcher Nachfolgeband müsste auch zeigen, warum es im sowjetischen Minsk einen weitgehenden Konsens darüber gab, die ethnische Dimension vor allem auf das Dekor der Republik zu reduzieren. Der 1994 gewählte Präsident Alexander Lukaschenko handhabt das bis heute so, weil es die Mehrheit seines Elektorats ebenso hält. Zu den strukturellen Hauptunterschieden zur Ukraine gehört vor allem, dass es im Russischen Reich keine eigene Kirche gab, die im 19. Jahrhundert zu einer nationalen Alternative zu Moskau bzw. im Falle der katholischen Kirche zu Rom oder Warschau hätte werden können.

Einer der großen Vorzüge von Rudlings Buch ist, dass er bekannte Argumente zu diesem Thema aus der angelsächsischen, belarussischen, aber auch polnischen und deutschen Literatur aufgreift, prägnant formuliert und in eine Gesamtnarration einordnet. Dazu gehört auch die bis heute präsente ideologische Konkurrenz der Befürworter des Konzepts der Dreifaltigkeit, die die Belarussen als Teil einer russischen Nation aus Klein-, Groß- und Belarussen sieht. Rudling erklärt, warum am Beginn des 20. Jahrhunderts die regionalen Ideen zur Schaffung einer modernen an das Großfürstentum Litauen angelehnten Identität, keinen Erfolg hatten. Es verblieb nach 1905 nur noch der Großkonflikt zwischen noch zu mobilisierenden und bürgerlich gedeuteten Bauernnationen und kommunistisch indoktrinierten Arbeitervölkern. Doch mit dem gesonderten Kapitel zu sechs teils konkurrierenden Staatsgründungen in nur drei Jahren zeigt der Autor auch, warum ein belarussischer Staat kein natürliches Produkt dieses Widerstreits war.

Rudling unterstreicht dabei auch die Nachwirkung der deutschen Besatzung und vor allem der Schaffung moderner Verwaltungsstrukturen im Gebiet „Ober Ost“ während des Ersten Weltkriegs. So eröffnete genau vor hundert Jahren die erste Schule mit „weißruthenischer“ Unterrichtssprache, wie bis zum Ende des Zweiten Weltkrieg „belarussisch“ in deutscher, kolonialer Wahrnehmung hieß. Die Unterstützung einzelner Ethnien unter der Militärherrschaft sei aus dem Kalkül entstanden, gleichzeitig polnische und russische Ansprüche zu schwächen. Durch die flächendeckende Einführung von Schulen in „weißruthenischer Sprache“ habe sich auch die Idee der Existenz einer gesonderten belarussischen Nation stärker verbreitet.

Rudling zeigt auch, wie die Dynamik von Versailles indirekt dem Entstehen einer belarussischen Staatlichkeit zugutekam. Die Ergebnisse der Konferenz bedeuteten für das Grenzgebiet zwischen dem historischen Litauen, Polen und der Rus ' letztlich eine Niederlage von föderativen Ideen zugunsten ethnisch definierter Nationalstaaten. Die selbsternannten belarussischen Vertreter hatten zwar wenig Unterstützung unter der eigenen Bevölkerung und im europäischen Ausland. Dennoch konnte die in Versailles durchgesetzte ethnische Definition von Territorialeinheiten ihren kleinen und für die heutige Republik Belarus nachhaltigen Siegeszug feiern: In der Sowjetunion wurden im Laufe der 1920er-Jahre nach und nach immer mehr Ländereien zusammen geschlossen, die den Studien einschlägiger russischer Regionalforscher zufolge von Belarussisch sprechenden Menschen bewohnt wurden. Während dessen hatte Józef Piłsudski mit seinen Legionen bereits Fakten geschaffen und Territorien weit jenseits der Curzon-Linie erobert. Der Frieden von Riga, der erst 1921 die Ostgrenzen der Polnischen Republik festlegte, bedeutete für die belarussisch sprechende Bevölkerung eine Teilung in zwei Staaten über zwei Jahrzehnte hinweg. Auf der polnischen Seite stärkte die ab 1926 zunehmend repressive Politik der Regierung unter den Belarussisch sprechenden Bauern und Arbeiten eine Orientierung zum einen hin zur Sowjetunion, aber auch zu nationalen belarussischen Ideen. Der Vorteil der Darstellung von Per Rudling liegt darin, dass er nicht allein der belarussischen nationalen Historiographie folgt und diese Zeit als Jammertal der Teilung beschreibt. Er fügt den notwendigen geopolitischen Kontext in seine Argumentation ein, in dem er zeigt, dass eine „belarussische Frage“ immer auch ein Spielball zwischen Piłsudski und Stalin war, die im Laufe der 1920er-Jahren nicht nur als zunehmend autoritäre Herrscher auftraten, sondern stets auch die Unterstützung von großen Bevölkerungsteilen absichern mussten. Gleichzeitig zeigt Rudling detailliert, dass dieser größere geopolitische Kontext sowohl im Westen der Sowjetunion als auch im Osten Polens zu politischer und physischer Gewalt führte, die der weiteren belarussischen Nationsbildung nicht gerade zuträglich war.

Dieser Hinweis auf das gewaltsame Ende der Mobilisierung entlang ethnischer Linien erklärt noch nicht, warum in der BSSR nach Ende des Zweiten Weltkriegs eine nicht in erster Linie auf ethnischen Prinzipien basierende Form von sowjetischer Staatlichkeit entstand, die nach dem Ende der Sowjetunion sehr wohl das schuf, was sich die Aktivisten seit 1905 erträumten: Einen modernen belarussischen Nationalstaat. Was Rudling hingegen im vorliegenden Band gut erklärt, ist der aus den gegensätzlichen Staatsgründungen noch im 21. Jahrhundert währende Widerspruch zwischen einer ethnisch begründeten Staatstradition, die heute durch die weiß-rot-weiße Flagge der politischen Opposition symbolisiert ist, und einer sowjetischen Staatstradition, die der Dauerpräsident Alexander Lukaschenko 1995 in einem eigens abgehaltenen Referendum wieder einführen lies: eine abgewandelte sowjetische Flagge der einstigen Teilrepublik. Zu den in Rudlings gut lesbaren und mit einer Vielzahl von Referenzen versehenen Buch klar zu erkennenden Ironien gehört, dass die Belarussische Volksrepublik von 1918 in ihrer Zeit eine viel kleinere Rolle spielte, als ihr heute in der belarussischen Historiographie zugesprochen wird. Rudlings Buch und sein inzwischen auch geographischer Abstand zum Gegenstand – er ist kurz nach Erscheinen des Buches an die Universität von Singapur gewechselt – vermag damit zwei Dinge: Eine nachhaltige Kontextualisierung der belarussischen Staatsgründungen ab 1918 sowie ihre strikte Demystifizierung. Für die Zeit ab 1931 ist das noch zu leisten.

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