Kurz vor der postideologischen Migrationsgeschichte - oder: Was haben Erika Steinbach und Cem Özdemir gemeinsam?
"50 Jahre Bundesrepublik - 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte" heißt ein neuer, druckfrischer Sammelband, der von einer Gruppe von jungen Historikern und Sozialwissenschaftlern herausgegeben wurde. Ein ehrgeiziger Titel, mit dem Jan Motte vom Landeszentrum für Zuwanderung in Solingen, Rainer Ohliger (Humboldt Universität Berlin) und Anne von Oswald (Freie Universität Berlin) selbstbewußt versuchen wollen, die Migrationsgeschichte als rechtmäßigen Teil der "großen Erzählung" Nachkriegsdeutschlands zu etablieren. Die verschiedenen Arten der Einwanderung nach Deutschland sollen gleichberechtigt und mit vergleichbaren theoretischen Herangehensweisen nebeneinander dargestellt werden.
In insgesamt 13 Aufsätzen wird zwischen "privilegierter Zuwanderung" und "Arbeitsmigration" unterschieden. Die Wohnsituation von Flüchtlingen, Lagerbewohnern und Gastarbeitern wird untersucht, die Debatte um den "echten" DDR-Flüchtling beleuchtet, der Gruppe der West-Ost-Migranten ist ebenso ein Aufsatz gewidmet wie den DDR-Vertragsarbeitern und der Geschichte der Migration aus der Türkei. Insgesamt eine eher traditionelle Zusammenstellung von Themen, die durch einen theoretischen Teil ergänzt wird, der bei der Herausarbeitung von universell anwendbaren Begriffen bei der Diskussion um Zuwanderung allerdings einiges zu wünschen übrig läßt.
Zur Buchpremiere wurden zwei illustre Gäste eingeladen: Erika Steinbach, die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, und Cem Özdemir, den grünen Schwaben türkischer Herkunft, trennt vieles. Doch die Veranstalter wollten demonstrieren, daß Steinbach und Özdemir immerhin beide Einwanderer in die Bundesrepublik seien, und als solche legitimerweise Gegenstand ihres Interesses. Eine Demonstration der speziellen Zusammenstellung und Begrifflichkeit des Bandes also, und Erika Steinbach sprang auch sofort auf den Ausdruck "Privilegierte Zuwanderung" an: "Die Vertreibung war keine Einwanderung und schon gar keine privilegierte Einwanderung", ereiferte sie sich, immerhin habe es im Westen eine "massive Barriere" gegen die Flüchtlinge gegeben und die Erinnerungen an die Not nach dem Krieg seien bei vielen Vertriebenen noch sehr lebendig.
Die gelungene Provokation freute Herausgeber Ohliger, immerhin konnte er die Entscheidung für seine Wortwahl gut begründen: "Natürlich waren Flucht und Vertreibung kein Privileg, die Vertriebenen hatten aber einen privilegierten Zugang zu Integrationsmaßnahmen, die die späteren Arbeitsmigranten nicht hatten." Der direkte Zugang zur Staatsbürgerschaft und zu politischen Teilhaberechten führte zu einer Vielzahl von staatlichen Leistungen, die in der offiziellen Geschichte der BRD inzwischen für selbstverständlich gehalten werden. Der Lastenausgleich ist nur ein Beispiel für den Einfluss der 12 Millionen Vertriebenen auf die westdeutsche Politik. So simpel es klingt, aber der Abschied von der isolierten Betrachtung der verschiedenen Gruppen, wie ihn die Herausgeber forcieren, öffnet die Augen für die Begründungen für verstärkte oder bewußt unterlassene Integrationserleichterungen.
Die Beiträge des Buches zeigen das an einer Fülle von unspektakulär anmutenden Einzelbeispielen. Fast alle Autoren konzentrieren sich auf jene Phasen der Einwanderung nach Deutschland, die heute quellenmäßig zu erschließen sind, Asylbewerberdiskussion und die "neue Arbeitsmigration" aus Mittel- und Osteuropa bleiben also außen vor. Im folgenden sollen drei Aufsätze näher vorgestellt werde, weil sich an ihnen die Arbeitsweise und Vergleichsperspektive des ganzen Buches besonders gut zeigen läßt.
Hannelore Oberpenning beschreibt im ersten Aufsatz das "Modell Espelkamp": Sie zeigt, wie diese ostwestfälische Flüchtlingssiedlung zwischen 1948 und heute immer wieder neue Gruppen von Migranten aufgenommen hat und das komplizierte Zusammenleben in der Stadt immer wieder neu eingeübt werden mußte. Galt Espelkamp 1949 noch als Mustersiedlung, die von amerikanischen Flüchtlingsorganisationen als Lösung der Vertriebenenprobleme hingestellt wurde, brachte der massenhafte Zuzug von Aussiedlern aus Osteuropa nach 1989 Unruhe in die inzwischen verfestigte Stadtgemeinschaft, aber auch eine Erinnerung an ihre Anfänge. Die Stadt sah sich "in Anknüpfung an ihre spezielle Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte in der besonderen Verantwortung für die Spätaussiedler", schreibt Oberpenning. Auch sie zieht den Vergleich zwischen beiden Gruppen und betont die Gemeinsamkeiten: Beides seien "echte Einwanderungsprozesse mit allen vorhandenen Fremdheitserfahrungen, Abgrenzungstendenzen, sozialen Konflikten um Anerkennung und interkulturellen Problemlagen" gewesen.
Von der Vertriebenensiedlung zur Lagergesellschaft nach dem Kriege: Zwei Beiträge beschäftigen sich mit den verschiedenen Typen von Lagern, die nach 1945 auf deutschem Territorium existierten. Mathias Beer will eine "Neubewertung" der Funktion der Flüchtlingslager im Eingliederungsprozeß der Nachkriegszeit nachweisen. Am Beispiel des Lagers auf der Schlotwiese in Stuttgart-Zuffenhausen konzentriert sich Beer einerseits auf die distanzierten bis verteufelnden Kommentare von Stadtverwaltung und kirchlichen Organisationen. Lager wurden als "Keimzellen der Entwurzelung und Zerstörung der Familie", als Quellen der "Arbeitsscheu" und "Sittenverwilderung" beschrieben, die schnellst möglich aufzulösen seien. Doch die auf der Schlotwiese über mehrere Jahre angesiedelten Volksdeutschen aus Jugoslawien äußerten in Interviews ganz andere Ansichten über ihr Lager. Für sie war es eine Art zweiter Heimat, eine Möglichkeit für die unfreiwillig Zugewanderten, sich in der fremden Gesellschaft Stuttgarts eingewöhnen zu können. Beer plädiert nach dieser Untersuchung dafür, daß der Begriff der "Kolonie", der "Zwischenwelt", in der Forschung auch für solche Flüchtlingslager Anwendung finden solle. In ihnen habe es nicht nur teilweise erschreckende Lebensverhältnisse gegeben, sie hätten auch eine soziale Funktion ausgeübt.
Nachdem die Flüchtlingslager im Zuge der "Schandfleckbeseitigung" geräumt worden waren, rekurrierten die anwerbenden Betriebe wieder auf die Lagerlösung für die neu eintreffenden Migranten aus Südeuropa. Anne von Oswald und Barbara Schmidt beschreiben detailreich, wie einseitig die Verantwortlichen in den Betrieben auf die Bereitstellung vom billigem Wohnraum fixiert waren und daß dieses Provisorium durchaus gewünscht war. Denn das absolute Minimum an Wohnqualität unterstrich die temporäre Rolle, die Arbeitsmigranten in der bundesrepublikanischen Gesellschaft spielen sollten: "Wer in solchen Unterkünften lebte, konnte nicht auf Dauer bleiben." Zwar wurde vermieden, das Wort "Lager" direkt in den Mund zu nehmen; zu belastet war der Begriff geworden. VW-Generaldirektor Nordhoff demonstrierte aber seine Hilflosigkeit, als er in einem Erlaß 1962 darum bat, "nicht von 'Baracken' und einem 'Lager' zu sprechen. [...] Das Wort 'Lager' könnte Assoziationen hervorrufen, die wir im allseitigen Interesse vermeiden möchten." In Zukunft war also die offizielle Bezeichnung "Unterkünfte Berliner Brücke".
Oswald/ Schmidts Aufsatz zeigt beispielhaft, was solide historische Arbeit für die Bewertung der Einwanderung nach Deutschland leisten kann: Das Durchforsten von Firmenarchiven liefert Diskussionsstoff jenseits von allgemeinen Debatten über "Integrationsfähigkeit", "kulturellen Unterschieden" Gegen Schlagworte in der Debatte über Einwanderung wendet sich auch Herausgeber Jan Motte. Vehement und witzig mokiert er sich über die "Wassermetaphorik" in der öffentlichen Diskussion: "Bei keinem anderen Thema wird so oft von 'Welle' und 'Flut' gesprochen wie bei der Einwanderung. Wir haben darauf geachtet, ein bodenständiges Buch zu machen, in dem die Quellenforschung im Vordergrund steht." Bodenständig ist die konsequente Vergleichsperspektive der Herausgeber eher nicht, und der politische Anspruch ist durchaus zu merken. Sie wollen die "Parzellierung der Migrationsgeschichte(n)" zugunsten der Gemeinsamkeiten jeder Einwanderung überwinden, wie Lale Akgün vom Solinger Landeszentrum für Zuwanderung im Vorwort schreibt. Bezeichnungen wie "Vertriebene", "Flüchtlinge", "Gastarbeiter" oder "Spätaussiedler", so die Herausgeber, haben mit den realen Motiven von Menschen oft nichts zu tun. Aber so ganz sind wir in der Welt der postideologischen und entparzellierten Betrachtung wohl noch nicht angekommen: Auch wenn Erika Steinbach und Cem Özdemir an diesem Abend erstaunlich friedlich miteinander umgingen, war ihnen doch das Unwohlsein darüber anzumerken, plötzlich als Migranten zusammengehören zu sollen.