„Du hattest es besser als ich“. Dieser Vorwurf, der jahrzehntelang zwischen zwei Brüdern steht, ist auch der Titel einer Doppelbiografie, die der emeritierte Didaktikprofessor Frank Nonnenmacher 2014 vorgelegt hat. Nonnenmacher hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Lebensgeschichten seines Vaters (Gustav) und seines Onkels (Ernst) nachzuzeichnen; beide beschreibt er als „objektiv schwer traumatisiert“ (S. 335).
Während Gustav in einem Heim aufwächst, später eine Lehre als Holztechniker absolviert und im Zweiten Weltkrieg zum gefeierten Helden der Luftwaffe wird, bewegt sich Ernst bereits als Jugendlicher in kleinkriminellen Milieus, verbüßt mehrere Haftstrafen und kommt im Mai 1941 als „Asozialer“ in das KZ Flossenbürg. Ausgehend von narrativen Interviews, die der Autor mit seinem Onkel und seinem Vater geführt hat, sowie anhand zahlreicher weiterer Quellen skizziert Nonnenmacher den jeweiligen Werdegang der beiden Männer bis zu ihrem Tod.
Das erste Kapitel ist der kurzen Phase gewidmet, die die Brüder unter einem Dach bei ihrer Mutter Margarete in Stuttgart wohnen. Als Büglerin und alleinerziehende Frau lebt sie mit den beiden Kindern in armen Verhältnissen. Die ökonomische Not veranlasst Margarete im November 1915 schließlich dazu, den damals eineinhalbjährigen Gustav in ein Kinderheim zu geben. Ab diesem Zeitpunkt porträtiert Nonnenmacher die Brüder in sich abwechselnden Kapiteln. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Leben lassen sich doch Parallelen aufzeigen. So zogen beide im Jahr 1935 in der gleichen Region umher und beide versuchten, sich mit verschiedenen Hilfstätigkeiten über Wasser zu halten.
Die Brüder treffen sich erst kurz nach Gustavs 18. Geburtstag wieder. Ernst und seine Mutter suchen Gustav in Holzgerlingen auf, wo er sich in der Lehre befindet. Nach diesem eher unglücklichen Aufeinandertreffen gibt es bis zum Sommer 1958 keine direkte Begegnung zwischen den Halbgeschwistern mehr. Allerdings erhält Gustav im Oktober 1942 einen Brief von seiner Mutter, in dem sie ihn darum bittet, sich als Angehöriger der Luftwaffe für den in KZ-Haft sitzenden Ernst einzusetzen.
Nonnenmacher bettet die beiden Biografien anschaulich in das zeitgeschichtliche Geschehen ein. Die von ihm im Nachwort thematisierte Schwierigkeit, dass ihn mit den Protagonisten „biografisch bedeutsame Erlebnisse und eigene Beziehungsebenen“ (S. 347) verbinden, wird insbesondere dann deutlich, wenn er das schwierige Verhältnis zu seinem eigenen Vater beschreibt. So heißt es etwa im Kontext der geschilderten schulischen Probleme, „Gustav war todunglücklich über die Entwicklung seines Sohnes“ (S. 304). Jahre später, als Student, habe er in „stundenlangen Dialogen“ (S. 307) eine Auseinandersetzung mit dem Verhalten seines Vaters während des Nationalsozialismus eingefordert. Vielleicht liegt in der komplexen Vater-Sohn-Beziehung die bisweilen fast beschwichtigend wirkende Beschreibung einzelner Milieus begründet, in denen der Vater sich bewegte. So erläutert Nonnenmacher, unter den Fürther Flugzeugführern, darunter auch Gustav, seien 1939 „nur wenige in den nationalsozialistischen Begeisterungstaumel“ (S. 141) verfallen. Und bezüglich der Hornburger Bevölkerung, zu der Gustav als Flugzeugbauer der dortigen Segelflugschule zeitweise zählte, kommt er zu dem Schluss, dass 1936 „keiner von den Nazis begeistert“ (S. 120) gewesen sei. Aussagen, die zumindest zweifelhaft erscheinen.
Schonungslos offen wiederum schildert Nonnenmacher die ganz im Zeichen nationalsozialistischer Propaganda ausgerichtete Hochzeit seines Vaters. Und mindestens ambivalent bleitbt die Darstellung des Onkels. Dessen Verbindungen mit der kommunistischen Bewegung in der Weimarer Republik wirken auf Basis von Nonnenmachers Beschreibungen weniger als Folge gereifter politischer Überzeugungen, sondern vielmehr als Ausdruck der Abenteuerlust eines jungen Mannes. Und dies, obwohl sich Ernst unmittelbar nach Kriegsende erneut in der KPD engagiert und in den 1960er-Jahren mit der westdeutschen Studierendenbewegung sympathisiert.
Gerade in der Nähe zu den Protagonisten liegt jedoch auch die Stärke dieser familiengeschichtlichen Abhandlung. Durch die ausführliche Darstellung des Schicksals seines Onkels gelingt es Nonnenmacher, auf Leerstellen hinzuweisen, die auch die zeithistorische Forschung betreffen. Denn das Wissen über Personen, die wie Ernst als „Asozialer“ und „Berufsverbrecher“ in die Konzentrationslager eingewiesen wurden, ist bis heute nur bruchstückhaft. Die historische KZ-Forschung hat sich diesem Thema lange nicht zugewendet, in den letzten Jahren sind jedoch verschiedene Publikationen dazu entstanden.1 Neben dem ebenfalls erst kürzlich von Mitarbeitern der Gedenkstätte Flossenbürg veröffentlichten Erinnerungsbericht des „Berufsverbrechers“ Carl Schrade2 legt Nonnenmacher damit eine weitere Publikation vor, die Zugang zu den persönlichen Erlebnissen eines Angehörigen der bislang weitgehend ignorierter Opfergruppen gewährt.
Eindrucksvoll schildert Nonnenmacher von Ernst’ erlebten Terror der SS ebenso wie Fälle von Freundschaft und Solidarität im Lager. Aus der Stuttgarter Jugendzeit herrührende Kontakte zum Lagerältesten des KZ Flossenbürg helfen Ernst, aus dem Steinbruch in ein leichteres Arbeitskommando versetzt zu werden. Ab August 1941 führt er Reinigungsarbeiten für die SS aus und verliert diesen Posten erst, nachdem er gemeinsam mit anderen Häftlingen Alkohol aus einem Depot der SS schmuggelt. Seine Tätigkeit im „Korbflechterkommando“, für die Ernst im November 1942 in das KZ Sachsenhausen überstellt wird, ist durch den freundschaftlichen Kontakt zu dem kommunistischen Häftling Fritz Fiege geprägt. Die ungewöhnliche und intensive Freundschaft zwischen einem politischen und einem „kriminellen“ Häftling überdauert sogar das Kriegsende und führt dazu, dass die beiden im Frühsommer 1945 eine Korbflechterei in Fieges Heimatstadt Witzenhausen gründen.
Nonnenmacher hat die zu Beginn genannten Traumata zum Ausgangspunkt genommen, sich intensiv mit der Geschichte naher Verwandter zu befassen. Ernst leidet darunter, dass ihm nach seiner Befreiung weder eine materielle Entschädigung noch eine Anerkennung als Opfer zuteil wird. Gerade die enge Zusammenarbeit mit ehemaligen kommunistischen Häftlingen in der Witzenhausener KPD, in die Ernst noch 1945 eintritt, habe ihn mit der ungleichen Behandlung der Überlebenden konfroniert: „Es nagte schwer an ihm, dass er nicht mit dem gleichen Recht wie Fritz sagen konnte: Ich bin ein Verfolgter des Nazifaschismus.“ (S. 264). Als auch der Versuch, unter Nutzung von persönlichen Kontakten vor dem Zwickauer OdF-Ausschuss als Opfer anerkannt zu werden, scheitert, bricht Ernst 1948 mit der KPD. In den folgenden Jahren legt er sich eine neue Lebensgeschichte zu, in der er die Zeit als KZ-Häftling ausspart. Nonnenmacher beginnt etwa dreißig Jahre später, seinen Onkel nach Details zu fragen. Wir erfahren, dass sich Ernst die vielfach gehörte Behauptung, er habe zu Recht im KZ gesessen, selber aneignete. Er habe bald „mit einem gewissen Zynismus auf die verweigerte Anerkennung als Verfolgter geschaut“, sich davon aber „nicht lange beherrschen lassen“ (S. 336).
Gustav hingegen leidet neben den Erlebnissen, die er als Luftwaffenangehöriger gesammelt hat, unter der Frage nach seiner individuellen Schuld. In jenem Zeitraum, in dem sich Ernst in Strafhaft und im KZ befand, ist er selbst zum anerkannten Pilot aufgestiegen und an zahlreichen Kriegsschauplätzen eingesetzt worden. Bereits 1943 für fluguntauglich erklärt, dient er noch bis Kriegsende als Fluglehrer im annektierten Österreich. Seinen letzten Flug tätigt er im März 1945. Nach seiner Rückumsiedlung nach Deutschland macht sich Gustav als Holzbildhauer selbstständig. Seine Arbeit ist fortan von der Auseinandersetzung mit sich selbst beeinflusst. Der 1959 ausgeführte Auftrag zu Rekonstruktionsarbeiten in der Wormser Synagoge habe in Gustav „die Erinnerung an den November 1938, als er sich im entscheidenden Augenblick so kleinlaut davon gemacht hatte“ (S. 299) geweckt. Er war seinerzeit während eines Kurzurlaubs Zeuge der Pogrome in München geworden.
Gustavs überwiegend pazifistischen Mahnmalen steht die Auftragsarbeit für den ehemaligen Luftwaffengeneral und weiterhin bekennenden Rechtsextremisten Hans-Ulrich Rudel gegenüber, die in den 1970er-Jahren zu einem Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn führt. Wie zentral die „Frage nach Schuld und Verantwortung“ (S. 338) für Nonnenmacher ist, wird in seinem Schlusswort deutlich. Sein Buch ist nicht nur ein Appell, sich mit den eigenen Familiengeschichten auseinanderzusetzen, sondern auch die Erlebnisse der bislang weitgehend ungehörten Opfer des KZ-Systems aufzuarbeiten. Er fordert deshalb Angehörige von als „Berufsverbrechern“ Verfolgten dazu auf, „sich mit den Gedenkstätten in Verbindung zu setzen und die Unterlagen für die Forschung zu retten“ (S. 344). Dies wäre auf jeden Fall zu wünschen.
Anmerkungen:
1 Wolfgang Ayaß, Schwarze und grüne Winkel. Die nationalsozialistische Verfolgung von „Asozialen“ und „Kriminellen“– ein Überblick über die Forschungsgeschichte, in: Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland 11 (2009), S. 16–30; Julia Hörath, Terrorinstrumente der „Volksgemeinschaft“? KZ-Haft für „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ 1933 bis 1937/38, in: ZfG 6 (2012), S. 513–532; Dagmar Lieske, „Berufsverbrecher“ als Häftlinge im Konzentrationslager Sachsenhausen. Ein Forschungsbericht, in: Roman Fröhlich u.a. (Hrsg.): Zentrum und Peripherie. Die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Berlin 2013, S. 58–77.
2 Anette Kraus / Jörg Skriebeleit / Kathrin Helldorfer (Hrsg.), Carl Schrade. Elf Jahre, Ein Bericht aus deutschen Konzentrationslagern, Göttingen 2014.