J. Döring u.a.: Alfred Andersch desertiert

Cover
Titel
Alfred Andersch desertiert. Fahnenflucht und Literatur (1944–1952)


Autor(en)
Döring, Jörg; Römer, Felix; Seubert, Rolf
Erschienen
Anzahl Seiten
277 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Wintgens, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin

Die Geschichte beginnt mit ein paar Kirschen. Im Juni 1944 pflückte Alfred Andersch sie in Umbrien von einem Baum, und weil die Geschichte von Zeiten des Umbruchs handelt, schmeckten die Kirschen nicht etwa süß, sondern „frisch und herb“.1 Gerade erst hatte sich der dreißigjährige Wehrmachtssoldat von seiner Einheit entfernt und die Flinte wortwörtlich ins Korn geworfen; kurze Zeit später geriet er in amerikanische Gefangenschaft. In der Zwischenzeit aber war er frei – für einen euphorischen Augenblick weder Soldat noch „prisoner of war“. Den Moment des Übergangs, als für ihn an der italienischen Front der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, beschrieb Andersch später als bewusste Fahnenflucht, als mutigen Akt des Nonkonformismus. In dieser existentialistisch verdichteten Symbolik taufte er sein Buch „Die Kirschen der Freiheit“ – und wurde damit der berühmteste Deserteur der Nachkriegszeit, zumindest der deutschen Literatur.

Aus dem Kriegsgefangenlager war der Alfred Andersch (1914–1980) zurückgekehrt, den wir zu kennen meinen: der Schriftsteller und Radioredakteur, ein linker westdeutscher Intellektueller par excellence. 1957 veröffentlichte er den Schullektüren-Klassiker „Sansibar oder der letzte Grund“. Zusammen mit Hans Werner Richter hatte Andersch 1946 die Zeitschrift „Der Ruf“ gegründet, aus der indirekt die Gruppe 47 hervorgegangen ist. Besonders einflussreich wirkte Andersch in den 1950er-Jahren als Studioleiter beim Kulturradio. Zuerst beim Hessischen, später beim Süddeutschen Rundfunk förderte er Autorenkollegen wie Wolfgang Koeppen und entdeckte einen jungen Redakteur namens Hans Magnus Enzensberger. In der Bilderbuchkarriere, die Andersch zu einer Schlüsselfigur des westdeutschen Literaturbetriebs machte, brachten die „Kirschen“ – sein Bekenntnis, ein Anti-Kriegsheld gewesen zu sein – den öffentlichen Durchbruch.

Der Text verdankte seine Wirkung einer stillschweigenden, lange unhinterfragten Übereinkunft zwischen Autor und Lesern. Diese beruhte auf der Annahme, dass Andersch und der Ich-Erzähler ein und dieselbe Person seien – und dass die Wahrheit berichtet werde. Andersch selbst hat das in den „Kirschen“ Geschilderte zeitlebens für authentisch erklärt: Ein „Bericht“ sei es (so auch der Untertitel), kein Roman! Zwar ist das ein ungewöhnlicher Anspruch für einen Schriftsteller, aber in diesem Fall galten andere Kriterien. Sein Bekenntnis – zur Desertion, auch zu seiner jugendlichen Sympathie für den Kommunismus – war im Erscheinungsjahr 1952, im Kontext von Kaltem Krieg und Wiederbewaffnung, ein streitbarer Standpunkt.

Doch stimmt überhaupt, was in den „Kirschen“ geschrieben steht? Wie bei vielen Deutschen gab es auch bei Andersch einige Überraschungen, als man neben seiner Selbstauskunft weitere Quellen zu Rate zog. So sind seit dem Erscheinen einer nachlassgestützten Biographie im Jahr 19902 verschiedene Aspekte seines Lebens kontrovers diskutiert worden. Kritiker fanden Stoff genug, um Anderschs Eignung als moralische Instanz in Zweifel zu ziehen. Unbekannt war bis dahin etwa, dass er sich 1943 von seiner Ehefrau hatte scheiden lassen, die nach NS-Rassekriterien als „halb-jüdisch“ galt, dass er versucht hatte, in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden, und im Antrag die beabsichtigte Scheidung vordatiert hatte. Der Schriftsteller W.G. Sebald kritisierte Andersch deshalb als charakterschwach; auch dessen Bücher fand er entwertet.3 In der Tat hatte Andersch Teile seines Lebens unter Verschluss gehalten. In den „Kirschen“, die ja sein Lebensbericht bis 1944 sein wollen, wird Angelika Albert, die erste Frau, mit keinem Wort erwähnt.

Von Dichtung und Wahrheit, Erinnerung und Diskurs, Anderschs Biographie und seinem Œuvre handelt auch die Neuerscheinung, um die es hier geht. Allerdings könnte der Kontrast zur früheren Andersch-Kontroverse stärker kaum sein. Denn nachdem diese von Entrüstung, Enttäuschung oder Verteidigung geprägt war, haben die drei Autoren nun eine sachliche, minutiöse Recherche unternommen. Mithilfe deutscher und alliierter Militärakten konzentrieren sie sich auf überprüfbare Fakten, auf deren Kontextualisierung und das historische Verstehen. In methodischer Hinsicht ist „Alfred Andersch desertiert“ damit vorbildlich für die Kooperation von Literaturwissenschaftlern und Historikern: Dem Germanisten Jörg Döring verdanken wir schon Informationen über Koeppens Werkbiographie4; der Historiker Felix Römer hat Befragungs- und Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener monographisch ausgewertet5, und alle drei Autoren des hier vorgestellten Buchs haben sich in einem früheren Sammelband um die Versachlichung der Sebald-Debatte bemüht.6 Auch ihre neueste Erkundung kann man mehrfach empfehlen: der Andersch-Forschung natürlich, außerdem als Mentalitätsgeschichte aus der Mitte des 20. Jahrhunderts sowie als Beispiel einer biographischen Tiefenbohrung.

Was aber geschah wirklich im Juni 1944? Ist Andersch desertiert – oder „nur“ in Gefangenschaft geraten? Hat er sich aktiv von der Truppe entfernt – oder wurde er versprengt und von den Amerikanern überrascht? Zusätzlich kompliziert wird eine Antwort dadurch, dass Andersch insgesamt drei Texte über die Frage seiner Desertion und / oder Gefangennahme geschrieben hat: 1945 das Stück „Amerikaner – erster Eindruck“, das auszugsweise im „Ruf“ erschien; dann im August 1950 eine zweiwöchige Serie fürs Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ), „Flucht in Etrurien“ genannt; und schließlich 1952 „Die Kirschen der Freiheit“ (laut Andersch die gültige Fassung). Und obwohl sich die Varianten 1) und 3) inhaltlich widersprechen, hat Andersch sie jeweils als Augenzeugenbericht deklariert, während der Zeitungsmehrteiler als „Erzählung“, also fiktiv, ausgeflaggt wurde. Im ältesten Text, geschrieben im Kriegsgefangenenlager, ist von einer Fahnenflucht des Ich-Erzählers keine Rede; die Gefangennahme geschieht zufällig. In den „Kirschen“ dagegen entfernt sich der Ich-Erzähler allein von einer Truppe, deren „Kampfmoral“ recht intakt wirkt. „Flucht in Etrurien“ wiederum beschreibt in auktorialer Weise, wie sich zwei Soldaten von ihren gleichfalls kriegsmüden Kameraden verabschieden.

Welche Geschichte nun tatsächlich biographisch richtig ist, können auch Döring, Römer und Seubert nicht mit Sicherheit sagen. Darüber geben weder deutsche noch alliierte Militärakten definitive Gewissheit. Ihre „dichte Beschreibung der Konstellation von Autor, Werk und Diskurs“ (S. 234) kommt jedoch zu einer schlüssigen Interpretation: „Wahrscheinlich ist Alfred Andersch im Juni 1944 tatsächlich von seiner Wehrmachtseinheit desertiert – allerdings wohl nicht als individualistischer Einzelgänger, wie er es in den ‚Kirschen der Freiheit‘ darstellte, sondern vermutlich eher im Kontext einer kollektiven Fahnenflucht, wie es der früheren Darstellung in seiner Erzählung ‚Flucht in Etrurien‘ entsprach.“ (S. 236) Andersch wurde am 6. Juni 1944 vermisst gemeldet, so wie insgesamt 17 Mann seiner Einheit. Für historisch plausibel halten Döring, Römer und Seubert also paradoxerweise die Zeitungsserie von 1950, die als Erzählung gilt und vergleichsweise wenig Beachtung fand. „Erst 1952 wird der Autor Andersch auch zu dem Deserteur, von dem er erzählt. Und zwar zum alleinigen.“ (S. 188)

Im ältesten Text, demjenigen von 1945, hat Andersch nach Auffassung der Autoren die Frage einer Fahnenflucht bewusst ausgeklammert. Nicht weil er nicht desertiert wäre, sondern aus Angst vor Ablehnung – durch Mitgefangene, die den militärischen Gehorsam verinnerlicht hatten, aber auch durch die Amerikaner, bei denen deutsche Deserteure nicht hoch angesehen waren. Zwischen 1950 und 1952 habe er dann seine Erinnerungen zugespitzt. Nun präsentierte sich der Ich-Erzähler als Einzeldeserteur. Andersch tat dies auch aus schriftstellerischem Geltungsbedürfnis: weil die historisch genauere FAZ-Serie kaum Wirkung gehabt hatte, er aber unbedingt den Erfolg des Romans „Die Geschlagenen“ von 1949 übertreffen wollte, mit dem Hans Werner Richter, der Gefährte und Konkurrent, seine Kriegserlebnisse verarbeitet hatte. Zugleich konzipierte Andersch die „Kirschen“ als Kommentar zur Wiederbewaffnungsdebatte, die 1952 eine „Ehrenerklärung“ Adenauers im Bundestag für die Wehrmacht zeitigte (erst 2002 hob das Parlament die Urteile der Wehrmachtsjustiz teilweise auf – vollständig sogar erst 2009). Vergangenheitspolitisch wollte Andersch „das Odium von Feigheit und Verrat“ (S. 221) auf sich konzentrieren. Sein Bekenntnis brachte nicht nur Lorbeer, sondern viel Widerspruch. Andersch, so die These von Döring, Römer und Seubert, zeigte sich, er machte sich angreifbar – und wurde so zum kritischen Intellektuellen.

Anmerkungen:
1 Alfred Andersch, Gesammelte Werke, Bd. 5: Erzählungen 2 / Autobiographische Berichte, hrsg. von Dieter Lamping, Zürich 2004, S. 413.
2 Stephan Reinhardt, Alfred Andersch. Eine Biographie, Zürich 1990.
3 W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München 1999.
4 Jörg Döring, „Ich stellte mich unter, machte mich klein.“ Wolfgang Koeppen 1933–1948, Frankfurt am Main 2001.
5 Felix Römer, Kameraden. Die Wehrmacht von innen, München 2012; rezensiert von Thomas Kühne, in: H-Soz-Kult, 14.05.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19838> (22.05.2015).
6 Jörg Döring / Markus Joch (Hrsg.), Alfred Andersch revisited. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte, Berlin 2011 (enthält u.a. Aufsätze von Felix Römer und Rolf Seubert).