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Titel
So viel Wende war nie. Zur Geschichte des Projekts "Ästhetische Grundbegriffe" – Stationen zwischen 1983 und 2000


Autor(en)
Boden, Petra
Erschienen
Bielefeld 2014: Aisthesis Verlag
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Stopka, Deutsches Literaturinstitut, Universität Leipzig

Die „Ästhetischen Grundbegriffe“ gehören zusammen mit dem „Historischen Wörterbuch der Philosophie“ und den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ zu den wohl einschlägigsten deutschen Wörterbuchprojekten des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, auf die die Geistes- und Kulturwissenschaften zurückgreifen und an denen es sich heute produktiv zu orientieren gilt. Dabei haben die „Ästhetischen Grundbegriffe“ eine besonders bemerkenswerte Geschichte, insofern die Idee zu diesem Wörterbuchprojekt zu Beginn der 1980er-Jahre am Zentralinstitut für Literaturgeschichte (ZIL) der Akademie der Wissenschaften der DDR unter der Federführung des Romanisten Karlheinz Barck (1934–2012) geboren wurde. Die Grundlagen erarbeitete man im Anschluss in einer wissenschaftlichen Kooperation des ZIL, das seinen Sitz in Ost-Berlin hatte, mit den bundesrepublikanischen Universitäten Konstanz und Siegen, vertreten durch die Romanistik-Professoren Hans Robert Jauß und Hans Ulrich Gumbrecht. Mit beiden pflegten Barck und seine Mitarbeiter vom ZIL seit geraumer Zeit einen konstruktiven wissenschaftlichen Austausch, der auf dem gemeinsamen Interesse und der Befassung mit rezeptionstheoretischen Ansätzen in den Literaturwissenschaften basierte.1 Durch das deutsch-deutsche Kulturabkommen von 1986 gelang es, diese Kooperation auch finanziell zu unterstützen. Als ein gesamtdeutsches Projekt konnte das Wörterbuch schließlich über die Wiedervereinigung hinaus weiterentwickelt und zu Ende geführt werden.2

Indes leuchtet es ein, der Genese der „Ästhetischen Grundbegriffe“ eine eigenständige Studie zu widmen, wie dies die Germanistin Petra Boden unternommen hat, die in den 1980er-Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZIL und mithin an der „Geburtsstätte“ des Wörterbuchprojekts tätig war. Boden hat sich entschieden, das langwierige Unternehmen als eine „Geschichte von vier konfliktreichen ‚Wenden‘“ (S. 9) zu erzählen. Die Basis für diese Dokumentation bildet das Quellenmaterial, das in Teilen im Deutschen Literaturarchiv Marbach, im Archiv des Zentrums für Literatur- und Kulturforschung Berlin sowie in privaten Archiven vorliegt; es besteht aus Briefwechseln zwischen beteiligten Wissenschaftlern, Sitzungs- und Tagungsprotokollen, Konzeptionen, Beschlüssen, Perspektivplänen, Anträgen u.ä. Boden identifiziert die vier „Wenden“ als institutionelle, wissenschaftspolitische, konzeptionelle und zwischenmenschliche Umbrüche, die sich „einander überlagern, bedingen, oft parallel verlaufen und auch gegeneinander stehen“, also nicht als chronologische Phasen zu deuten seien (S. 9).

Angesichts der politischen bewegten Zeiten um 1990 überraschen die institutionellen und wissenschaftspolitischen Wenden am wenigsten. Boden zeichnet nach, wie sich das Wörterbuchprojekt nach der Wiedervereinigung neu aufzustellen hatte und welche Anstrengungen und Aufregungen es hinsichtlich der Evaluierung der beteiligten DDR-Wissenschaftler und Wissenschaftseinrichtungen, der Finanzierung, der institutionellen Neuverankerung in der gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft zu verkraften hatte. So standen die Mittel, die im Zuge des deutsch-deutschen Kulturabkommens das Projekt finanzieren sollten, nach dem politischen Umbruch nicht mehr zur Verfügung. Die Akademie der Wissenschaften der DDR und damit auch das ZIL wurden zu Beginn der 1990er-Jahre abgewickelt; die berufliche Zukunft der ostdeutschen Initiatoren des Unternehmens erschien vorübergehend nicht gesichert. Erst im Januar 1992 hatten die beteiligten Wissenschaftler unter dem Dach der Nachfolgeinstitutionen „Forschungsschwerpunkt Literaturwissenschaft“ / „Zentrum für Literaturforschung“ in Berlin wieder eine sichere Basis. Diese Umstände führten auch zu einer Umverteilung der Machtpositionen der beteiligten Universitäten. Die Kooperationspartner in Konstanz und Siegen betrachteten sich bereits seit der Aufnahme des Projekts zugleich immer auch als Konkurrenten – nicht zuletzt, weil sie unterschiedliche konzeptionelle Vorstellungen mit dem Wörterbuchprojekt verbanden. Im Zuge der institutionellen Neuverankerung verschob sich das Verhältnis zugunsten der Konstanzer Gruppe, die mit den Berlinern nun federführend an einem DFG-Antrag zur weiteren Finanzierung des Vorhabens arbeitete. Die Wissenschaftler aus der Siegener Gruppe hingegen wurden nicht nur als Antragsteller nicht mehr mit einbezogen, sondern zudem einigte man sich auf ein Herausgeber-Gremium ohne Beteiligung der Siegener. Dafür wurde mit Friedrich Wolfzettel, der an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main eine Professur innehatte, ein neuer Partner starkgemacht. Dass zwei Jahre später ein vollständiger Rückzug des nach Gumbrechts Weggang verantwortlichen Germanisten Georg Bollenbeck aus dem Projekt erfolgte und es zu einen Bruch der freundschaftlichen Beziehung mit Karlheinz Barck kam, ist indes auch nicht ausschließlich mit inhaltlichen Differenzen zu erklären, wie Boden konstatiert (S. 140, S. 193f.).

Die konzeptionellen Differenzen sind freilich in der Gesamtkonstellation des Projekts nicht zu unterschätzen und waren letztlich zu einem großen Teil verantwortlich für die zwischenmenschlichen Konflikte, die sich im Verlauf von vier Jahren zuspitzten, wie der zunehmend schärfer formulierte Briefverkehr zwischen den Beteiligten zeigt. Dabei spielte zum einen der „zwischen Siegen und Konstanz“ „unauflösbare epistemologische Dissens“ (S. 137) eine wesentliche Rolle, vor allem in Bezug auf das Grundverständnis von Ästhetik. Zum anderen aber wuchsen die Querelen zwischen den Berlinern und den Konstanzern bzw. Frankfurtern hinsichtlich der Verteilung und Verantwortung für die vereinbarten Lemmata des Wörterbuches. Dass diese Konflikte nicht zuletzt von unterschiedlichen Wissenschaftssozialisationen und -mentalitäten in Ost und West herrührten, erläutert Boden an dem Streitfall um die damals an der Humboldt-Universität arbeitende Philosophieprofessorin Karin Hirdina. Der Konstanzer Wissenschaftler Burkhart Steinwachs (im Projekt Nachfolger von Hans Ulrich Gumbrecht) und Friedrich Wolfzettel, beide Mitherausgeber des Wörterbuches, stellten sich massiv gegen die Absicht Barcks, „den Säulenartikel ‚Ästhetik‘“ (so Boden, S. 161) allein der wissenschaftlich in der DDR sozialisierten Hirdina zu überlassen.

Die Dokumentation dieses Streitfalles lässt exemplarisch ein großes Manko von Bodens Studie sichtbar werden: Für Leser, die am Wörterbuchprojekt nicht beteiligt waren, ist die Darstellung mitunter ärgerlich unübersichtlich. So wird Hirdinas wissenschaftliches Prestige in der DDR hervorgehoben, ohne zu erläutern, wodurch sie es erworben hatte – nämlich durch ihre profunden Studien zur Vergesellschaftung und Ästhetik, zur Literatur der DDR sowie zur Geschichte und Theorie der Avantgarde.3 Überhaupt erfährt man zunächst nichts weiter über sie, als dass sie „kein unbeschriebenes Blatt“ gewesen sei (S. 151). Ein unnötiges Hin und Her zwischen dem „Fall“ Hirdina und pauschalen Überlegungen zur Ökonomie der Aufmerksamkeit im Wissenschaftsbetrieb oder zu vermeintlichen grundlegenden Vorbehalten, die westdeutsche Wissenschaftler gegen ostdeutsche Wissenschaftler haben könnten (S. 161), tun ihr Übriges, den Streitfall zu verunklären, zumal die Inhalte, auf denen die Differenzen basierten, nicht benannt werden. Vielmehr heißt es: „Ohne hier in weitere Details gehen zu können: Es ist offensichtlich, dass Wolfzettel und Steinwachs verhindern wollten, Karin Hirdina als weiterhin alleinige Autorin für den zweifellos wichtigsten Artikel des Wörterbuchs zu verpflichten.“ (S. 153) Diese Ungenauigkeit ist bei allen interessanten Einblicken, die Boden in das Wörterbuchprojekt gewährt, leider symptomatisch. Dass ein konziser Überblick zu den Entwicklungen und Auseinandersetzungen nicht gelingt, liegt vor allem an der Kleinteiligkeit und Ausführlichkeit, mit denen eine Vielzahl der Diskussionen und Kontroversen allein durch langatmige Zitate aus dem Quellenmaterial dokumentiert wird. Was häufig fehlt, um eine Übersicht in die wahrlich komplexe Gemengelage zu gewinnen, sind instruktive Fokussierungen und Schlussfolgerungen der Verfasserin. Stattdessen bekommt man Briefwechsel um Briefwechsel zwischen einzelnen Protagonisten präsentiert, die in Details gehen, denen nicht eingeweihte Leser kaum mehr folgen möchten.

In diesem Zusammenhang stellt sich auch die grundsätzliche Frage nach dem Mehrwert der vorliegenden Nachzeichnung gerade der konzeptionellen Diskussionen innerhalb des Herausgeber-Gremiums – ist dies doch ein durchaus alltägliches Procedere im Wissenschaftsbetrieb, wenn es um die Entwicklung neuer Forschungsprojekte geht. Dass dabei Konflikte und gekränkte Eitelkeiten aufkommen, ist nahezu unvermeidlich. Deshalb erscheint auch die vermeintliche „konzeptionelle Wende“, auf die sich Boden beruft, nicht wirklich plausibel, weil dies in Anspielung auf die politische Wende suggeriert, auf konzeptioneller Ebene habe es entscheidende Konflikte gegeben, die sich aus den unterschiedlichen Wissenschaftsselbstverständnissen und -ansprüchen ost- und westdeutscher Akteure gespeist hätten. Dies aber war wohl nicht der Fall, entstanden doch die maßgeblichen inhaltlichen Konflikte zwischen den Konstanzern und den Siegenern. Was zudem äußerst spärlich dokumentiert wird, sind thematische Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe. Hier hätte man sich die Detailliertheit gewünscht, mit der administrative und institutionelle Aspekte behandelt werden. Wie beispielsweise umstrittene Lemmata diskutiert wurden, erfährt man leider nur äußerst punktuell und kursorisch. Gerade solche Perspektiven hätten tiefere Einblicke in die strukturelle Diskussionsatmosphäre des Wörterbuchprojekts geben können, dessen Ergebnis man nicht anmerkt, dass es als eine deutsch-deutsche Kooperation seinen Anfang nahm.

Anmerkungen:
1 Zu diesem produktiven Austausch der DDR-Literaturwissenschaft und der Konstanzer Schule vgl. Mandy Funke, Rezeptionstheorie – Rezeptionsästhetik. Betrachtungen eines deutsch-deutschen Diskurses, Bielefeld 2004.
2 Karlheinz Barck / Martin Fontius / Dieter Schlenstedt / Burkhart Steinwachs / Friedrich Wolfzettel (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2000–2005, Studienausgabe 2010.
3 Karin Hirdina, Pathos der Sachlichkeit. Tendenzen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren, Berlin (Ost) 1981 (mit dem Untertitel „Funktionalismus und Fortschritt ästhetischer Kultur“ auch im Westen erschienen, München 1981); dies., Günter de Bruyn. Leben und Werk, Berlin 1983 (in Ost-Berlin im Verlag Volk und Wissen, in West-Berlin im Verlag Das Europäische Buch).