Titel
Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte


Autor(en)
Medick, Hans
Reihe
Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 126
Erschienen
Göttingen 1997: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
708 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Gorißen, Fak.f.Geschichtswiss., Universitaet Bielefeld

Was ist und wie funktioniert Mikrogeschichte? Die Diskussionen der letzten Jahre innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft um ein neues historiographisches Konzept, das geeignet waere, struktur-, erfahrungs- und alltagsgeschichtliche Perspektiven im ueberschaubaren Horizont einer Dorfstudie zusammenzufuehren, krankten lange Zeit daran, dass Arbeiten, die das neue Konzept beispielhaft vorfuehren, fuer den deutschsprachigen Raum fehlten. Auch zum gegenwaertigen Zeitraum lassen sich die Monographien, die sich explizit eines mikrogeschichtlichen Ansatzes bedienen, noch an einer Hand abzaehlen: Zu nennen sind die Arbeiten von David W. Sabean ueber Neckarshausen, die Studie Juergen Schlumbohms ueber Belm, das Buch von Rainer Beck zu Unterfinning und schliesslich das jetzt hier vorzustellende Werk von Hans Medick ueber den wuerttembergischen Leinenweberort Laichingen. Da Hans Medick seit Jahren zu den profiliertesten und exponiertesten Wortfuehrern in der Debatte um neue Wege in der Sozialgeschichtsschreibung zaehlt (1), wurde die bereits seit langer Zeit angekuendigte Studie mit nicht geringer Spannung erwartet, muss doch das von Medick propagierte neue Paradigma der Mikrogeschichte seine Probe aufs Exempel erst noch bestehen.

Nicht nur methodisch, auch inhaltlich greift Medicks Studie auf einen prominenten, wiederum von Medick selbst massgeblich mitgepraegten Diskussionszusammenhang (2) zurueck, naemlich auf das Theorem der "Proto-Industrialisierung", das auf eine Erklaerung der Genese der modernen Fabrikindustrie aus vorindustriellen Formen laendlicher, zugleich jedoch exportorientierter und in Regionen verdichteter Gewerbetaetigkeit zielt. In diesem Zusammenhang ist es das Anliegen der Arbeit zum wuerttembergischen Leinenweberort Laichingen, als Fallstudie zentrale Annahmen des Proto-Industrialisierungsmodells ueber die Zusammenhaenge von demographischer, sozialer, agrarischer und gewerblicher Entwicklung am Beispiel der wuerttembergischen Leinengewerbe einer empirischen Ueberpruefung zu unterziehen. Auch die Gewerbe- und Industrialisierungsforschung erwartete daher Medicks Arbeit mit grossem Interesse.

Auf diese Weise gut in den fachinternen Debatten vorbereitet, legt Medick mit seinem Laichingen-Buch eine bewundernswuerdige und in vielerlei Hinsicht mustergueltige und gut lesbare Studie vor, die nicht nur ein lebendiges und anschauliches Bild der Gesellschaft und Oekonomie des Leinenweberortes zwischen der zweiten Haelfte des 17. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnet, sondern zugleich die Leser und Leserinnen rueckblickend immer sehr konkret und praezise am Forschungsprozess teilhaben laesst. Dem Rezensenten sind nur wenige Studien bekannt, die eine aehnlich genaue Vorstellung vom Umgang des Autors mit seinen Quellen, von seinen einzelnen Interpretations- und Konstruktionsschritten zu vermitteln bereit oder in der Lage sind.

Sein Thema geht Medick in sechs grossen Kapiteln an, von denen die drei ersten sich mit der oekonomischen und sozialen Geschichte der Bewohner des Ortes Laichingen und seiner Umgebung beschaeftigen. Nach einer Einleitung, welche den mikrohistorischen Zugriff der Studie beschreibt - hierauf wird zurueckzukommen sein -, fragt das erste Kapitel nach der "politischen Oekonomie" Altwuerttembergs, verstanden als Frage nach dem staatlich gesetzten bzw. legitimierten rechtlich-institutionellen Rahmen oekonomischen Handelns. Der wuerttembergische Merkantilismus des 18. Jahrhunderts zeigte sich im Leinengewerbe der Schwaebischen Alb zunaechst in einer Privilegierung des staedtischen Handelskapitals, hier der Uracher Leinwandhandlungs-Compagnie, die den Handel mit den am laendlichen Standort hergestellten Produkten zu monopolisieren trachtete, hiermit jedoch letztlich am Widerstand der Laichinger Weber scheiterte, die erfolgreich auf einer eigenstaendigen Vermarktung ihrer Produkte beharrten und sich - im Unterschied zu ihren staedtischen Kollegen aus Urach, nicht zuletzt dank der Grenzlage des Ortes - allen kontrollierenden Zugriffen entziehen konnten. Entsprechend belegen die Zollabrechnungen fuer die zweite Haelfte des 18. Jahrhunderts auf Seite der staedtischen Gewerbe den wirtschaftlichen Niedergang, waehrend sich im gleichen Zeitraum die Produktion an den laendlichen Standorten erheblich ausweitete. Mit dem gewerblichen Wachstum aenderte sich der oekonomischen Charakter des Ortes Laichingen, wie Medick anhand einer Serie von Steuerverzeichnissen des 18. Jahrhunderts nachweist, tiefgreifend: Zwar blieb man in Laichingen ueberwiegend noch der Agrarwirtschaft verbunden, ein schnell wachsender Teil der Dorfbevoelkerung war dieser jedoch bereits entwachsen. Der Expansionsprozess des Laichinger Leinengewerbes fand seinen Abschluss erst in den 1820er und 1830er Jahren, als krisenhafte Veraenderungen der Nachfrage das protoindustrielle System an seine Grenzen fuehrten.

Das gewerbliche Wachstum in Laichingen bedingte jedoch keineswegs, wie Medick im zweiten Kapitel, das sich mit den sozialen Konsequenzen der oekonomischen Entwicklung fuer die Dorfgesellschaft beschaeftigt, nachweist, eine durchgaengige Proletarisierung der Gewerbetreibenden, verstanden als Entaeusserung von jeglichen Produktionsmitteln. Kennzeichnend fuer die soziale Lage der protoindustriellen Arbeiter in Laichingen blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein die Tendenz, das eigene Auskommen durch den Erwerb und Unterhalt einer kleinen Landwirtschaft zu sichern. Medick diskutiert hier ausfuehrlich die Annahmen des Proto-Industrialisierungsmodells, das von einem uebergreifenden Trend der Proletarisierung ausgegangen war. Das entscheidende, langfristig wirksame Strukturmerkmal fuer die oekonomische Entwicklung Laichingens sieht Medick im Zusammenfallen von gewerblicher und agrarischer Betaetigung im Haushalt der protoindustriellen Handwerker, ein Muster, das oftmals als geradezu konstitutiv fuer den wuerttembergischen Weg in die Industrialisierung angesehen wurde.

Die Moeglichkeiten, das gewerbliche Einkommen wiederum zum Erwerb von Grund und Boden einzusetzen, waren jedoch vorrangig von den jeweiligen gewerblichen Konjunkturen, denen Medick sich im dritten Kapitel zuwendet, abhaengig. Auf der Grundlage von Steuerlisten und von Informationen aus Inventuren und Teilungen zeigt der Autor hier nochmals am Beispiel des Schicksals einzelner Familien sehr anschaulich, wie nach einer saekularen Wachstumsphase im 18. Jahrhundert die Moeglichkeiten zur Erwirtschaftung von Vermoegen durch protoindustrielle Betaetigung im Leinengewerbe an der Wende zum 19. Jahrhundert an ihre Grenzen stiessen. Von der durch "exogene Momente", vor allem durch Handelsstockungen im Gefolge der Napoleonischen Kriege und anschliessend durch die uebermaechtige Substitutionskonkurrenz der englischen Baumwolle, ausgeloesten Krise waren besonders die Weber betroffen, die ihr Vermoegen vorrangig im gewerblichen Sektor angelegt hatten und ueber keine agrarische Subsistenz verfuegten, was sich deutlich waehrend der Erntekrise von 1816/17 zeigte. Hunger erlitten jetzt vor allem die landlosen Weber-Haeusler, zugleich ging die Bedeutung der Gruppe der Weber-Bauern in der ersten Haelfte des 19. Jahrhunderts kontinuierlich zurueck. Die zum Teil erhebliche Verschuldung der Weber betraf ueberwiegend Hypotheken oder Kapitalkredite, resultierte aber auch aus Steuerschulden. Konsumkredite besassen demgegenueber eine untergeordnete Bedeutung. Angesichts der meist bei den oertlichen Kaufleuten aufgenommenen Kredite wandelten sich die Produktionsverhaeltnisse von der Stueckweberei formal unabhaengiger Handwerker zur Lohnweberei abhaengiger Verlagsarbeiter. Trotz der eindringlich beschriebenen materiellen Not und Abhaengigkeit, von welcher der groesste Teil der protoindustriellen Produzenten waehrend der ersten Haelfte des 19. Jahrhunderts betroffen war, lehnt Medick die Verwendung des Begriffs "Proletarisierung" fuer die Entwicklung im wuerttembergischen Weberort ab. Entscheidend ist fuer ihn vielmehr, dass noch in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts der landwirtschaftliche Kleinstbesitz eine wichtige Existenzvoraussetzung fuer die hausindustriellen Weber Laichingens blieb. In der Verfuegbarkeit einer agrarischen Subsistenz sieht der Autor gar den entscheidenden Garanten fuer die Persistenz des Gewerbes. Hinzu trat ausserdem eine spezifische handwerkliche "Findigkeit", die sich als Spezialisierung auf die Herstellung von Qualitaetsprodukten und in den besonderen Vermarktungsformen eines von den Webern selbst betriebenen Wanderhandels zeigte. Auf diesen Grundlagen konnte das protoindustrielle Leinengewerbe Laichingens auf kleingewerblicher Grundlage gewissermassen in einer Nische neben der grossbetrieblich organisierten textilen Massenproduktion bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts ueberwintern.

An die sozio-oekonomische Analyse schliesst Medick drei Abschnitte an, welche Faktoren der demographischen Entwicklung und kulturelle Aspekte der Laichinger Gesellschaft, naemlich die "Kleiderkultur" sowie das Leseverhalten und den Buchbesitz thematisieren. Die demographische Analyse setzt mit einer Kritik des in der historischen Demographie weithin dominierendens Blicks auf Probleme des Heiratsverhaltens und der Fertilitaet ein. Die Verhaeltnisse in Laichingen belegen gerade die Bedeutung des "Regimes der Mortalitaet" (so im Titel des vierten Kapitels): Den Annahmen des Protoindustrialisierungsmodells entgegen, verzeichnet Laichingen zwischen 1730 und 1830 kein nennenswertes Bevoelkerungswachstum, was in einem vergleichsweise hohen Sterblichkeitsniveau und wiederholten heftigen Sterblichkeitskrisen, in denen die Sterberate die Geburtenrate uebertraf, seine Ursache besass. Die Bevoelkerungsstagnation in der zweiten Haelfte des 18. Jahrhunderts laesst sich jedenfalls nicht auf ein hohes Heiratsalter zurueckfuehren: Dieses lag bei allen Bevoelkerungsgruppen waehrend des gesamten 18. Jahrhunderts relativ niedrig. Soziale Unterschiede waren hier weniger eine Folge der spezifischen Arbeitserfordernisse, als vielmehr eine Funktion der Vermoegensverhaeltnisse der Eheleute: je hoeher die materielle Ausstattung, desto niedriger das Heiratsalter, wobei der Besitz einer oft im Ergang erworbenen Wohnung entscheidend war und nicht, wie urspruenglich angenommen, die Ausdehnung der Protoindustrie am Ort. Das niedrige Heiratsalter traf dann in Laichingen auf eine aussergewoehnlich hohe eheliche Fruchtbarkeit, die ihre hoechsten Werte wiederum nicht bei den protoindustriellen Bevoerlkerungsgruppen fand, sondern bei den vermoegenden Bauern und Wirten. Dass niedriges Heiratsalter und hohe Fertilitaet nicht zu einem raschen Bevoelkerungswachstum fuehrten, ist ausschliesslich auf die ungewoehnlich hohe Mortalitaet, vor allem in Form der Kinder- und Saeuglingssterblichkeit zurueckzufuehren, die bis in die 1870er Jahre hinein regelmaessig mehr als die Haelfte der Kinder vor Vollendung des fuenften Lebensjahres sterben liess. Die Ursachen fuer diese im europaeischen Vergleich ungewoehnlich hohen Werte sahen bereits die Zeitgenossen in Versaemnissen bei der Kinderpflege, insbesondere in der verbreiteten Ablehnung des Stillens durch die Muetter. Fuer diese Praxis macht Medick neben der hohen Arbeitsbelastung von Muettern in der Landwirtschaft, die eine Vernachlaessigung der Kinderbetreuung bedingte, vor allem sozialstrukturell unspezifische, pietistisch gepraegte, kulturelle Dispositionen verantwortlich, die sich waehrend des gesamten Untersuchungszeitraums finden lassen.

Den "Kleidungsaufwand" der Laichinger Bevoelkerung, mit dem sich das fuenfte Kapitel des Buches beschaeftigt, versteht Medick als "Instrument kollektiver Identitaetsbildung", das sich einerseits innerhalb der Dorfgesellschaft auf die Kategorie "Ehre" bezieht und hier soziale Distinktion bewirkt, sich andererseits aber auch staatlich-herrschaftlichen Zusammenhaengen zuordnet, wie sie in Kleiderordnungen ihren Ausdruck fanden. Die wuerttembergischen Kleiderordnungen des 18. Jahrhunderts zielten dabei auf zweierlei: zum einen sollte einer vermeindlichen Verschwendungssucht in der Laichinger Bevoelkerung Einhalt geboten werden, zum anderen war die Verwaltung bestrebt, die heimischen Textilgewerbe etwa durch das Verbot auslaendischer Stoffe zu foerdern. Die Vorschriften der Regierung wurden jedoch schon im 17. Jahrhundert nur maessig und noch seltener im 18. Jahrhundert eingehalten. Der Kleidungsaufwand stieg kontinuierlich, was Medick als Ausdruck eines "untertaenigen Eigensinns" interpretiert. Dieser zeigte sich am deutlichsten bei der Frage einer angemessenen Bekleidung anlaesslich von Amtsbesuchen: Wie Medick am Beispiel des Verhaltens des Kuefers Goesele detailliert belegt, konnte die Kleidung auch anlaesslich des Erscheinens vor staatlichen Autoritaeten Ausdruck eines spezifischen Handwerkerstolzes sein und sich gegen die "symbolische Anerkennung staatlich-amtlicher Ueberlegenheit" richten. Seit der zweiten Haelfte des 18. Jahrhunderts wuchs besonders der Kleidervorrat der Frauen, der sich mehr und mehr zu einem wesentlichen "Gradmesser des symbolischen materiellen Gesamtkapitals" entwickelte. Besonders gross war der Aufwand, den neben den doerflichen Oberschichten die aermeren Weber trieben, besonders hinsichtlich Wert und Quantitaet der oeffentlich sichtbaren Kleidungsstuecke der Frauen. Aenderungen bei den dominierenden Farben der Kleidungsstuecke wurden dagegen zunaechst von den groesseren Webern vollzogen und dienten dazu, das Ansehen dieser Gruppe zu manifestieren. Auf diese Weise spiegelte sich letztlich die hierarchische gesellschaftliche Ordnung auch in der zahlreichen Wandlungen der Mode und koerperlicher Ideale unterworfenen "Kultur des Ansehens".

Weit ueberraschender als die grosse Zahl von Kleidungsstuecken war jedoch der Buecherreichtum aller Laichinger Bevoelkerungsgruppen, wie er sich in den Teilungen und Inventuren spiegelt. In den von Medick ausgewerteten 1478 Verzeichnissen fanden sich Angaben zu insgesamt fast 14000 Buechern, die fast ausschliesslich religioeser Natur waren. Im vorletzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts fanden sich durchschnittlich sogar 13-14 Buecher in jedem Haushalt, ohne dass Unterschiede zwischen den verschiedenen Berufsgruppen hier das gleiche Ausmass aufgewiesen haetten, wie die Vermoegensunterschiede. Angesichts solcher Befunde stellt Medick die gaengigen modernisierungstheoretischen Thesen der Historiographie zur Leseforschung, die von einem linearen Fortschritt der Lesefaehigkeit zwischen 18. und 20. Jahrhundert bei gleichzeitigem Stadt-Land-Gefaelle ausgeht, in Frage. Im Zentrum seiner Ueberlegungen steht jedoch die Frage nach dem Inhalt der Buecher und dem Umgang mit ihnen, mentalitaetsgeschichtliche Fragen also nach Leseverhalten und nach den Einstellungen der Buchbesitzer. Die hohe Wertschaetzung religioeser Literatur deutet Medick in diesem Kontext zunaechst als Anspruch auf eine eigenstaendige und legitime Interpretation des Wortes Gottes, die sich gegen die Auslegungsautoritaet des Pfarrers richten konnte. Zugleich betont der Autor die Bedeutung des Buchbesitzes im Kontext des symbolisch-repraesentativen Konsums, in welchem die Buecher die Bedeutung "protestantischen Reliquien" annehmen konnten. Im Umgang mit den Buechern zeigen sich darueber hinaus signifikante geschlechtsspezifische Unterschiede: waehrend Maenner vor allem Gesangbuecher in die Ehe mitbrachten, steuerten die Frauen durchschnittlich eine groessere Zahl von Buechern, meist Bibeln sowie Gebets- und Andachtsbuecher, bei. Der Nachweis des Besitzes einer Bibel war seit 1739 in Wuerttemberg Voraussetzung zur Erteilung des obrigkeitlichen Ehekonsensus, das Gesangbuch besass demgegenueber als oeffentlich demonstrierbares Zeichen eine hohe symbolische Bedeutung. Dass sich der Buchbesitz der Laichinger jedoch nicht einfach auf die obrigkeitlichen Vorgaben zurueckfuehren laesst, offenbart der Gesangbuchstreit des Jahres 1791: der Versuch der Einfuehrung eines neuen, aufklaererischen Gedanken verpflichteten Gesangbuches stiess auf heftigen, oeffentlichen Widerstand der Maenner und vor allem auch der Frauen, der sich Medick zufolge in den "stummen Daten zum Gesangbuchbesitz" zeigte. Die Bevorzugung von Bibeln und Andachtsbuechern durch die Frauen verweist darueber hinaus auf die wachsende Bedeutung der Praxis von Hausandachten, verstanden als "wahre Herzensandacht" einer pietistischen Religioesitaet, die sich kritisch gegen die offiziellen Predigten der Amtskirche richten konnte. Medick stuetzt seine Interpretation zum Umgang mit Buechern zu einem grossen Teil auf detailliert aufgearbeitete Einzelfaelle. Vor allem der Abgang von Buechern im Lebenszyklus ist ihm Indiz fuer einen aktiven Umgang mit Buechern und fuer einen Zusammenhang zwischen Buchbesitz und lebenszyklisch sich wandelnder religioeser Lebensfuehrung. Nicht selten waren die Buecher auch die einzigen repraesentativen Gegenstaende eines Haushalts. Zeichen einer aufgeklaert-buergerlichen Lebenskultur waren sie indes nur in einigen wenigen Einzelfaellen. Bestimmend blieb vielmehr eine pietistisch gepraegte Mentalitaet, die sich vor allem in der zweiten Haelfte des 18. und im fruehen 19. Jahrhundert in einer Vorliebe fuer die regionalen Erbauungsschriftsteller aeusserte, die einer "Heiligung des Lebens" durch die praktische Bewaeltigung alltaeglicher Lebensmuehsal das Wort redeten. Diesem wuerttembergischen Pietismus galt Medick zufolge nicht der oekonomische Erfolg im Sinne der Weberschen protestantischen Ethik als die entscheidende Voraussetzung zur Erlangung himmlischer Freuden, sondern das alltaegliche Aus- und Durchhalten von Muehsal, Anstrengung und Last, mithin eine "protestantische Ethik ohne Geist des Kapitalismus."

Soweit die zentralen Ergebnisse der Studie, die Medick mit fuenf quellenkritischen Exkursen und einem "Postscriptum" abschliesst. Was ist nun der Kern des mikrohistorischen Ansatzes dieses Buches, wodurch unterscheidet es sich von herkoemmlichen sozialgeschichtlichen Dorfstudien? Befragt man hierzu die Einleitung, so liegt offensichtlich im Kern des von Medick propagierten Konzepts ein besonderer methodischer Zugriff, den der Autor als "Kontextualisierung" und "'Dialogisierung' der historischen Quellen" (S. 28f.) kennzeichnet. Hiermit sind jedoch keine wirklich neuen, sondern vielmehr eine Radikalisierung der klassischen Methoden unserer Disziplin gemeint, freilich unter Zuhilfenahme moderner, EDV-gestuetzter Datenbanktechnologien. Das zentrale Verfahren der Mikrogeschichte Medickscher Praegung ist das des "Nominative Record Linkage", also des Zusammenfuehrens moeglichst ALLER verfuegbaren Informationen in einer Datenbank auf der Basis einzelner, namhaft gemachter Personen als kleinster Erhebungseinheit. Im Mittelpunkt des Datenpools steht die aus den Kirchenbuechern generierte Familienrekonstitution, um die dann alle uebrigen Daten zur Sozial-, Wirtschafts- und Konfliktgeschichte der doerflichen Gesellschaft gruppiert werden. Jeder, der bereits einmal den Versuch unternommen hat, disparates historisches Quellenmaterial nominativ zusammenzubinden, weiss, welch enormer Aufwand bei unsicherem Ausgang mit einem solchen Arbeitsprogramm verbunden ist. Die Vorzuege, die das von Medick gewaehlte Verfahren bietet, liegen auf der Hand: Quellenkritik und -interpretation vermoegen in weit tiefere Ebenen hinabzusteigen und Zusammenhaenge zu beleuchten, die ohne das wechselseitige Aufeinanderverweisen von Informationen verschiedenster Provenienz in einer Datenbank allenfalls vermutet, aber kaum belegt werden koennen. Medick selbst vergleicht seine Methode mit "Physik kleinster Teilchen" (S. 23), die mit dem Blick auf die Details neue Kenntnisse zu uebergreifenden Strukturen und Zusammenhaengen zu entdecken vermag.

Ein dichtes, personenbezogenes Informationsnetz mit seinen vielfaeltigen Moeglichkeiten im Ruecken, neigt Medick manchmal allerdings dazu, die auch dieser Methode anhaftenden Grenzen aus dem Auge zu verlieren: Entscheidend fuer die Tiefe der Darstellungsmoeglichkeit ist zunaechst die Ueberlieferungsgeschichte, vor allem die Geschichte der Ueberlieferungsverluste. Nur wenn wir wissen, welche Zusammenhaenge sich mit dem erhaltenen Material nicht rekonstruieren lassen, koennen wir die Bedeutung der erkannten Zusammenhaenge einschaetzen. Die Ueberlieferungsgeschichte blendet Medick zwar nicht voellig aus (hierzu finden sich Ueberlegungen vor allem in den quellenkritischen Exkursen), sie wird insgesamt jedoch eher randstaendig thematisiert und ist vor allem in der Darstellung nicht praesent. Dass der Autor zeitweise sogar wie geblendet von der eigenen Datenfuelle wirkt, zeigt sich besonders in den Passagen der Einleitung, in denen er den Anspruch einer "histoire totale" erhebt (S. 24f., 27), so als haette es gerade um diesen Begriff in den letzten Jahrzehnten keine kritische Diskussion gegeben. Die Vielzahl von moeglichen Themen einer Ortsgeschichte, die Medick allenfalls am Rande streift, wie Herrschaft, Haushalt, Verwandtschaft u.v.m., zeigt im uebrigen, dass von einer Umsetzung dieses Anspruchs keine Rede sein kann, ungeachtet der gewaltigen darstellerischen Leistung, die uns in dieser Studie vorliegt.

Auch wenn Medick vorgibt, die Quellen selbst wuerden die Erklaerungen und Theorien, welche eine Interpretation des Materials erst ermoeglichen, also "ihre Bezugspunkte zunaechst in sich tragen" (S. 34), so liegt dieser Denkfigur letztlich eine Ueberschaetzung der Bedeutung des Quellenmaterials zugrunde. Der Autor kritisiert eine historiographische Praxis, wonach "der Historiker ... die 'Spielregeln' in Form von Fragestellungen, Forschungsstrategien und Methoden so vorgibt, dass das historische Verstehen letzten Endes als eine Art Zeugenverhoer abzulaufen hat" und fragt seine Leser und Leserinnen, "was geschieht, wenn die historischen Subjekte gleichsam selbst die Hypothesenbildung in die Hand nehmen, indem sie eigene Konzepte, Leitvorstellungen, ja theoretische Entwuerfe hervorbringen, die sich mit den Interpretationen der Historiker nicht decken". In einem solchen Fall spricht Medick von einer "theoretische(n) Dimension der Quelle selbst" (S. 64). Einen solchen "theoretischen Sinn" der Quellen sieht Medick im Kampf der Laichinger und Urbacher Leineweber nach "freiem Handel fuer die Zunft" am Werk. Gemeint ist hiermit die Forderung der Weber, ueber die Vermarktung ihrer Produkte frei entscheiden zu koennen, also nicht dem Handelsmonopol der Uracher Handlungskompagnie unterworfen zu werden, sondern sich ihre Handelspartner frei waehlen zu koennen. Den "theoretischen Sinn" dieser Auseinandersetzungen findet Medick in den Quellen, in programmatischen Schriften der Weber und ihrer Rechtsvertreter. Die theoretischen Annahmen der Historiker wuerden dagegen, so Medicks Vorwurf, in Anlehnung an E.P. Thompson vorschnell ein dichotomisches Modell von "moralischer Oekonomie" versus "Marktoekonomie" verwenden und damit die Laichinger Konstellation, in der diese beiden Prinzipien partiell vereinbar sind, nicht angemessen greifen koennen.

Hier liegt ganz offensichtlich ein epistemologisches Missverstaendnis vor. Das theoretische Wissen der Historiker kann niemals mit dem theoretischen Wissen der historischen Subjekte, die Gegenstand der Untersuchung sind, in Konkurrenz treten, vielmehr ist zur Aufspuerung vergangenen theoretischen Wissens genauso theoretisches Wissen des Historikers vonnoeten, wie zur Bearbeitung jedes anderen historischen Themas. Was Medick hier tatsaechlich leistet, ist eine wichtige und ueberzeugende Kritik an einer vorschnellen Generalisierung des Modells von E.P. Thompson. Das ist aber genau das, was man von einer theoretisch orientierten historischen Arbeit erwartet, naemlich die Falsifizierung und Modifikation von theoretischen Modellen, die aus anderen Zusammenhaengen stammen. Hierzu ist selbstverstaendlich auch bei Medick theoretisches Wissen im Spiel, etwa ueber die grundsaetzlichen Konfliktlinien in der wuerttembergischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts oder ueber die oekonomische Rationalitaet der dort handelnden Individuen, nur dass dieses theoretische Wissen nicht explizit als solches angesprochen wird. Wenn Medick gar vorgibt, mit der Wiederentdeckung des "theoretischen Sinns der Quellen" so etwas wie eine Ehrenrettung historischer Subjekte zu leisten, so ist m.E. das genaue Gegenteil der Fall: eine Geschichtsschreibung, die sich der unaufhebbaren Distanz zwischen einer vergangenen Wirklichkeit und einer aktuellen historischen Rekonstruktion bewusst ist, und die diese Distanz in der Explizierung von theoretischen Modellen deutlich macht, belaesst den historischen Subjekten insofern weit eher ihre Autonomie, als hierbei immer schon deutlich ist, dass die Interpretation bei Anwendung anderer Modelle voellig anders ausfallen koennte. Der Anspruch hingegen, eine quellenimmanente, von historiographischen Konstruktionsprinzipien unabhaengige Interpretation zu liefern, laeuft in letzter Konsequenz auf eine "Kolonialisierung" dieser historischen Wirklichkeiten durch den Historiker hinaus. An diesem Punkt haette Medicks Arbeit m.E. eine etwas staerkere theoretische Orientierung gut angestanden.

Mit diesen Hinweisen soll jedoch weder die Fruchtbarkeit der Methode, das verfuegbare Quellenmaterial umfassend personenbezogen in Form einer Datenbank aufzubereiten, in Abrede gestellt werden, noch das weiterreichende Argument, dass sich aus einer solchen Kombination der Quellen gewissermassen als "Synergieeffekte" neue Erkenntnismoeglichkeiten ergeben. Medick umschreibt diese Methode als "sozialhistorisches Gegenstueck zur ethnologischen rekonstruktiven 'dichten Beschreibung'" (S. 28f.) im Sinne Clifford Geertz'. Dass hier allerdings mit Bezug auf die Ueberlegungen Geertz' ein Missverstaendnis vorliegt, dessen Begriff auf eine "radikalisierte Hermeneutik"gerade angesichts des Problems des "hermeneutischen Zirkels" abzielt, hierauf hat bereits Thomas Sokoll ueberzeugend hingewiesen.(3)

Die zentralen Fragen an den von Medick vorgefuehrten mikrohistorischen Ansatz betreffen die Beziehung der Ortsstudie zu uebergeordneten Strukturen und Prozessen und lassen sich mit den Schlagworten "Reichweite" und "Autonomie" umreissen. Zunaechst stellt sich die Frage nach der Bedeutung und der Berechtigung einer mikrogeschichtlichen Fallstudie zu einem kleinen Ort, fuer den ein eigenstaendiges Interesse nicht geltend gemacht wird. Medick geht in der Einleitung wiederholt auf das Problem des Stellenwerts der Ortsstudie ein und betont vor allem, dass diese Form der Geschichtsschreibung sich explizit dem Individuellen und Konkreten zuwenden moechte, den Einzelfall also nicht auf seine Beziehung zu uebergeordneten Prozessen und Strukturen zu reduzieren trachtet. Mikrogeschichte in der hier von Medick vorgefuehrten Spielart fragt damit nicht nach der Repaesentativitaet ihrer Detailanalysen, sondern vertraut auf deren Eigenwert. Laichingen ist Medick zufolge "nicht typisch im Sinne der Modellvorstellungen der Proto-Industrialisierung", dem Ort kommt vielmehr der Status eines "normalen Ausnahmefalls" (Ginzburg/Poni) zu, verstanden als "Extremfall des Moeglichen" (S. 34f). Gruende fuer die Auffassung, dass nicht das statistisch Signifikante, sondern die Kenntnis des Einzelfalls relevant sei, obwohl die Zahl der so verstandenen historischen Ausnahmen gegen unendlich tendiert, bieten allerdings weder Ginzburg und Poni noch Medick.(4) Elegante Formulierungen, wie das zitierte Paradoxon, vermoegen das zugrundeliegende Problem nicht zu loesen, sie kaschieren es in rhetorischem Nebel. Bereits der Ausgangspunkt von Medicks Studie, die Protoindustrialisierungsdiskussion, verweist jedoch darauf, dass die dem Fall Laichingen zugrundeliegenden Interessen urspruenglich weit ueber den Ort hinausgriffen und universalhistorische Probleme, naemlich die Abloesung von Gesellschaftsformationen, im Auge hatten. Die Bedeutung einer Fallstudie im Konzept einer solchen Diskussion laege darin, die im Modell formulierten weitreichenden Hypothesen ueber Zusammenhaenge zwischen verschiedenen historischen Wirklichkeitsbereichen am konkreten Beispiel einer empirisch gesaettigten und moeglichst genauen Ueberpruefung zu unterziehen. Aus einem Vergleich der Ergebnisse solcher Fallstudie koennte dann auf einer breiteren Argumentationsgrundlage erneut in die theoretische Debatte eingestiegen werden. Eine solche "Instrumentalisierung" der Studie lehnt Medick jedoch explizit ab. Der allzu bequeme Anspruch, die Studie moege fuer sich selbst sprechen und Laichingen sei vor allem insofern relevant (das ist wohl mit dem Zusatz "normal" gemeint), als es einen Ausnahmefall darstelle, vermag allerdings kaum zu ueberzeugen. Im Kern wuerde eine solche Vorstellung auf die Leugnung ueberindividueller Strukturen hinauslaufen, ohne dass erkennbar wuerde, wo dann im Meer der Beliebigkeiten Wissenschaft noch ihren Platz finden koennte.

Tatsaechlich ist der Problemhorizont "Protoindustrialisierung" bzw. "Genese des modernen Industriekapitalismus" in Medicks Studie immer gegenwaertig - ob er explizit diskutiert wird, wie vor allem in den Abschnitten 2.1 und 2.2, die sich mit dem Problem der Proletarisierung in der Protoindustriedebatte und mit der Frage eines wuerttembergischen Wegs in das Fabrikzeitalter beschaeftigen, oder ob die uebergeordnete Ausgangsfrage mehr stillschweigend die Aufmerksamkeit der Leser und Leserinnen leitet. Allerdings folgt die Darstellung nicht primaer einem solchen theoretischen Interesse, die theoretischen Erwaegungen gleichen vielmehr lakonischen Kommentaren zum Forschungsstand, die mal breiter, mal duerftiger ausfallen. Eine Konsequenz dieser Darstellungsform ist, dass die diversen, in den verschiedenen Kapiteln abgehandelten Themen, nur sehr locker untereinander verbunden sind und sich widersprechende Eindruecke aus den verschiedenen Abschnitten nicht diskutiert werden. So ist dem Rezensenten nicht verstaendlich geworden, wie der in Kapitel 5 betonte ausserordentliche Kleideraufwand aller Laichinger Bevoelkerungsgruppen zur im folgenden Kapitel herausgearbeiteten pietistischen Kultur der Duerftigkeit und zur Mentalitaet des bescheidenen Ausharrens in einer rauhen Wirklichkeit passt. Waere die Darstellung einem expliziten Modell gefolgt, so haetten die einzelnen Wirklichkeitsbereiche zwangslaeufig staerker aufeinander bezogen werden muessen.

Das zweite Problem betrifft die Interaktion der Ortsgeschichte mit bzw. die Abhaengigkeit von uebergeordneten Strukturen und Prozessen. Zunaechst ist in Rechnung zu stellen, dass Mikrogeschichte in der hier vorgestellten Spielart, als Dorfstudie auf der Basis einer umfangreichen nominativen Datenbank, in aehnlicher Weise fuer andere Zeiten und andere Untersuchungsraeume kaum vorstellbar ist. Waehrend fuer das fruehe oder hohe Mittelalter kaum von einer hinreichenden Ueberlieferungsdichte ausgegangen werden kann, die ein vergleichbares Verfahren ermoeglichen wuerde, wird das verstreut an vielen Orten aufzufindende Material ueber die Menschen eines Dorfes des 20. Jahrhunderts kaum mehr in vergleichbar umfassendem Sinne zu bewaeltigen sein. Auch staedtische Gesellschaften duerften angesichts der Fuelle von Ueberlieferungen kaum vergleichbar umfassend zu bearbeiten sein.

Nicht nur konstituiert die Frage der Verfuegbarkeit von Quellenmaterial den Gegenstand, zugleich ist eine scharfe Abgrenzung nach aussen angesichts der arbeitsintensiven Quellenaufbereitung zwingender als bei den meisten mit herkoemmlichen Methoden operierenden Untersuchungen. Der umfassende Zugriff auf die Dorfgesellschaft und das weitgehende Ausblenden von Phaenomen, die ausserhalb dieser kleinen Welt liegen, die Betonung der Eigenstaendigkeit und Autonomie dieser Gesellschaft, setzt voraus, dass der Untersuchungsgegenstand dem Ideal eines in sich geschlossenen Mikrokosmos moeglichst nahe kommt. Medick weist zwar in der Einleitung die Vorstellung einer "doerflichen Welt ..., die gewissermassen als ein Kosmos fuer sich existierte", explizit zurueck, erklaert aber gleich im Anschluss die vermeintlich "zentristischen Perspektiven" der "makroskopischen historischen Erkenntnisperspektiven" (S. 20) zum eigentlichen Problem. Erst ein mikrohistorischer Zugriff koenne historischen Prozessen in ihrer Vielschichtigkeit und Widerspruechlichkeit wirklich gerecht werden. Das eigentliche Problem liegt m.E. jedoch tiefer: Die zentrale Frage lautet, wie weit die Erklaerungen reichen, die ein Blick ins Innere einer Dorfgesellschaft anzubieten vermag. Inwieweit birgt die Gesellschaft Laichingens im 18. und 19. Jahrhundert tatsaechlich ihre wesentlichen Bewegungsgesetze in sich, hatten die Laichinger ihre Geschichte wirklich selbst "in der Hand", ermoeglicht tatsaechlich ein Blick auf ihre Beziehungen und auf ihr Handeln, Struktur und Wandel der Laichinger Gesellschaft umfassend zu analysieren? Dass hiervon nicht ohne weiteres ausgegangen werden kann, zeigt sich deutlich in Medicks Analyse der Konjunkturen und Krisen des protoindustriellen Leinengewerbes an der Wende zum 19. Jahrhundert. Der entscheidende Grund, warum die gute Konjunktur des Gewerbes in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts ihr Ende fand und in eine krisenhafte Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts muendete, ist in Ereignissen zu suchen, die weit entfernt von Laichingen ihren Ausgangspunkt fanden, naemlich in Veraenderungen der internationalen Marktlage unter dem Eindruck der politischen Neugestaltung Europas. Auch den Prozess der Eroberung einer Marktnische seit der Mitte des 19. Jahrhunderts kann mit Verweis auf die besondere Laichinger "Findigkeit" nicht wirklich angemessen erklaert werden. Zu fragen waere auch hier nach der Entwicklung ueberregionaler und internationaler Maerkte. Medick bietet solche Erklaerungen fuer den Konjunkturwechsel im fruehen 19. Jahrhundert, welche auf die genannten Marktprozesse abheben. Allerdings lassen sich die Dimensionen dieses Wandels, dessen Konsequenzen in nahezu jedem Kapitel des Buches in all ihren Nuancen diskutiert werden, kaum auf etwas mehr als einer halben Seite angemessen abhandeln. Die Vermarktungsseite, die doch massgeblich ueber Aufstieg, Persistenz und Niedergang (nicht nur) des Laichinger Leinengewerbes entschied, bleibt bei Medick leider hoffnungslos unterbelichtet.

Was bietet Medick als entscheidenden innerdoerflichen Faktor zur Erklaerung der Persistenz des protoindustriellen Gewerbes bis ins fruehe 20. Jahrhundert an? Sein zentrales Argument lautet, dass eine besondere Form agrarisch-gewerblicher Mischbetaetigung der protoindustriellen Weber Laichingens, Ausdruck ihrer besonderen "Findigkeit", es diesen ermoeglicht habe, auf die konjunkturellen Wechsellagen einer sich industrialisierenden Gesellschaft insofern flexibel zu reagieren, als die Bedeutung der einzelnen Taetigkeiten von Zeit zu Zeit zu- oder abnahm. Mir scheint jedoch, dass eine solche Erklaerung mehr Fragen aufwirft, als sie zu loesen im Stande ist. Zunaechst ist eine agrarisch-gewerbliche Mischbetaetigung keineswegs als Laichinger oder auch nur ein Wuerttemberger Sonderfall anzusehen, sie stellte vielmehr die (im Sinne von statistisch signifikant) "normale" Form der Beschaeftigung in vielen deutschen Regionen und Branchen waehrend der Industrialisierung dar, und sie entsprach einem weitverbreiteten Ideal der deutschen Arbeiterklasse, ohne dass hiermit immer das Ueberleben heimgewerblicher Produktionsformen verbunden war(5). Darueber hinaus faellt es in dem Moment schwer, mit dem Argument der "besonderen Findigkeit" umzugehen, in dem das Interesse ueber Laichingen hinausreicht. Laeuft Medicks Argument im Umkehrschluss nicht darauf hinaus, dass Orte mit protoindustriellem Gewerbe und agrarisch-heimgewerblichen Verflechtung, die in der ersten Haelfte des 19. Jahrhunderts in eine schwere Pauperismuskrise gerieten und die einen Niedergang der gewerblichen Beschaeftigungsmoeglichkeiten hinnehmen mussten, lediglich nicht hinreichend "findige" Arbeitskraefte aufwiesen?

Die zahlreichen kritischen Bemerkungen und Fragen zu Medicks grossem Buch koennen jedoch den Respekt vor der erbrachten Leistung nicht nachhaltig mindern: Die vorgestellte Arbeit ist, darauf sei abschliessend nochmals sehr deutlich verwiesen, ein grosses Buch der deutschen Historiographie des ausgehenden 20. Jahrhunderts und es wird seinen Platz in der Geschichte unserer Disziplin ohne Zweifel und mit jedem Recht finden. Dass es auch Kritik herauszufordern vermag, darf als Staerke der Arbeit und des in ihr erprobten mikrohistorischen Ansatzes gelten. Die Diskussion hierzu duerfte noch laengst nicht abgeschlossen sein.

Anmerkungen:
(1) Vgl. Hans Medick, "Missionare im Ruderboot"? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Alf Luedtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt 1989, S. 48-84 sowie ders., Mikro-Historie, in: Wilfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Goettingen 1994, S. 40-53.
(2) Peter Kriedte; Hans Medick; Juergen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung: Gewerbliche Warenproduktion auf dem Land in der Formationsperiode des Kapitalismus, Goettingen 1977; vgl. auch den Rueckblick auf 15 Jahre Protoindustrialisierungsforschung durch die drei Autoren: Proto-industrialization revisited: demography, social structure, and modern domestic industry, in: Continuity and Change 8 (1993), S. 217-252; den aktuellen Forschungsstand repraesentiert der juengst erschiene Sammelband Dietrich Ebeling, Wolfgang Mager (Hg.), Protoindustrie in der Region. Europaeische Gewerbelandschaften vom 16. bis 18. Jahrhundert, Bielefeld 1997.
(3) Sokoll, Thomas, Kulturanthropologie und Historische Sozialwissenschaft, in: Thomas Mergel; Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beitraege zu einer Theoriedebatte, Muenchen 1997, S. 233-272, hier S. 233ff.
(4) Hierauf hat bereits vor etlichen Jahren Winfried Schulze hingewiesen: Mikrohistorie vs. Makrohistorie? Anmerkungen zu einer aktuellen Diskussion, in: Christian Meier; Joern Ruesen (Hg.), Historische Methode, Muenchen 1988, S. 319-341.
(5) Vgl. etwa Friedeburg, Robert von, Heimgewerbliche Verflechtung, Wanderarbeit und Parzellenbesitz in der laendlichen Gesellschaft des Kaiserreichs, in: AfS 36 (1996), S. 27-50.