In ihrem Buch „Zukünfte“ schildert Elke Seefried, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg im transatlantischen Austausch eine eigene Disziplin – besser Metadisziplin oder Wissensordnung (S. 177) – namens „Zukunftsforschung“ herausbildete, welche verschiedenen ineinander übergehenden, aber auch inkommensurablen Ansätze diese Disziplin verfolgte, und wie sie in der Politik und öffentlichen Verwaltung der Bundesrepublik Anwendung fand. Seefrieds Münchener Habilitationsschrift, auf der das Buch basiert, wurde beim 50. Deutschen Historikertag in Göttingen (2014) mit dem Carl-Erdmann-Preis ausgezeichnet.
Die Literatur über Zukunftsforschung ist beträchtlich, wurde aber meist von jenen geschrieben, die sich selbst als Zukunftsforscher bezeichnen – so etwa Karlheinz Steinmüllers dreiteiliger „Versuch eines historischen Abrisses“ über die Zukunftsforschung in Deutschland.1 Eine historisierende Außensicht auf das Konglomerat von Denkstilen, Ideen, Praktiken, Diagnosen und Lösungsansätzen, die sich vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren zur Zukunftsforschung verbanden, gab es bisher selten.
Seefrieds Arbeit ordnet sich in die bundesdeutsche sowie zudem in die westeuropäische und US-amerikanische Zeitgeschichtsschreibung über die 1960er- und 1970er-Jahre ein, aber auch in weiter ausgreifende Literatur über Zukunftsvorstellungen. Für die noch vergleichsweise spärliche geschichtswissenschaftliche Literatur über das Entstehen und Wirken der Zukunftsforschung ist Seefried Pionierin. Ihr Buch ist eines der ersten Werke, die sich mit historischen Hintergründen und Entwicklungen in der Zukunftsforschung beschäftigen, und das bislang einzige, das dies in einer monographischen Tiefe wie auch Breite tut.
Der Titel „Zukünfte“ steht bewusst im Plural, und der Inhalt ist ebenfalls mehrschichtig. In den drei Hauptteilen der Arbeit stecken im Grunde zwei Bücher, die man nebeneinander stellen könnte. In Teil 1 und 2 findet sich zunächst die Geschichte einer transnationalen Zukunftsforschung und ihrer Vorläufer seit dem 19. Jahrhundert, die sich ab etwa 1960 vornehmlich in transatlantischen Netzwerken herausbildete. Ein zweites Buch könnte man aus Teil 3 schälen, in dem es um die Anwendung von „Zukunftswissen“ in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er- bis späten 1970er-Jahre geht. Diese Aufteilung macht das Werk gut benutzbar, ist dem Lesefluss allerdings stellenweise abträglich. So wird die Entstehung des Club of Rome und dessen vielbeachteter Studie „The Limits to Growth“ auf den Seiten 235–292 dargestellt, der Einfluss des Buchs auf die Bundesregierung jedoch erst ab Seite 452.
In den ersten beiden Kapiteln von Teil 1 bietet Seefried eine umfassende Übersicht der Vorläufer dessen, was einmal Zukunftsforschung heißen sollte. Kapitel I spannt auf wenigen Seiten den Bogen vom „Zeitverständnis und den Zukunftsvorstellungen europäischer Eliten, in erster Linie von Intellektuellen, Wissenschaftlern und politischen Akteuren, aber auch kirchlichen und politischen Zeitregimen vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert“ (S. 29). Kapitel II skizziert die „Ausgangspunkte der Zukunftsforschung nach 1945“. Seefried legt dar, wie die US-amerikanische Big Science der unmittelbaren Nachkriegszeit Forschungsinhalte und Forschungsorganisation auch in Europa beeinflusste (S. 50f.). Think Tanks, allen voran die RAND Corporation, die sich durch „Operationalisierung von drei (im Kern neuen) wissenschaftlichen Theorien oder Meta-Wissenschaften: der Kybernetik, der Spieltheorie und der Rational-Choice-Theorie“ auszeichnete (S. 53), waren im Kontext des Kalten Kriegs Vorbilder für westeuropäische Forschungsplaner (S. 52). Der neue Ansatz Zukunftsforschung entstand indes erst, „nachdem sich um 1960 in einem transatlantischen Prozess europäische und US-amerikanische Wissensbestände zu Konzeptionalisierungen von Zukunftsforschung verbanden, welche dann auch wieder in die USA zurückwirkten“ (S. 70).
In Kapitel III, „Wege in die Zukunftsforschung in den 1960er Jahren“, stellt Seefried ihre Einteilung der zukunftsforscherischen Grundannahmen und Zugänge vor. Diese Aufteilung entspricht derjenigen, die die Verfasserin schon in ihrem Aufsatz „Steering the Future“ von 2013/14 verwendet hat.2 Zum einen nennt sie den „normativ-ontologisch[en]“ Ansatz; dessen Vertreter waren etwa Bertrand de Jouvenel und Carl Friedrich von Weizsäcker. Hinzu kommen der „empirisch-positivistisch[e]“ Ansatz – zum Beispiel mit Herman Kahn und Olaf Helmer – sowie schließlich der „kritisch-emanzipatorisch[e]“, personifiziert durch die Remigranten Ossip Flechtheim und Robert Jungk. Diese Kategorisierung hilft, verschiedene Verständnisse des Herangehens der beschriebenen Akteure und die mit ihnen verbundenen Plattformen und Organisationen einordnen zu können. Sie unterscheidet sich von der Aufteilung in vier Herangehensweisen, die Rolf Kreibich 2009 für die heutige Zukunftsforschung vorgenommen hat, teilt mit dieser jedoch gewisse Grundzüge.3
In einem Zwischenfazit bilanziert Seefried knapp die bis dahin erzielten Befunde – unter anderem das Außenseitertum der Gründer der Zukunftsforschung sowie die Wichtigkeit der Idee nicht einer determinierten Zukunft, sondern durch Planung erschließ- und machbarer „Zukünfte“ für die Etablierung der (Meta-)Disziplin. Sie vertritt die These, die Zukunftsforschung habe einen Paradigmenwechsel im Sinne von Thomas Kuhns „The Structure of Scientific Revolutions“ dargestellt (S. 155). Ob dem letztlich so ist, darüber lässt sich trefflich streiten, vor allem da die Futurologie methodisch so überaus vielfältig war und sich quasi im Finden dieses Paradigmas erst formierte. Teil 1 schließt in Kapitel IV mit einer Betrachtung der „Interaktionen zwischen Zukunftsforschung und medialer Öffentlichkeit in den 1960er-Jahren“. Die Autorin argumentiert hier überzeugend, dieses Wechselverhältnis sei für die Zukunftsforschung prägend gewesen.
Teil 2 führt die Zukunftsforschung aus verschiedenen nationalen Kontexten in einen transnationalen, wenn auch hauptsächlich euro-amerikanischen Zusammenhang. Seefried nimmt sich hier der Netzwerke der Futurologen an und erörtert die Herausbildung mehrerer internationaler Organisationen der Zukunftsforschung, wie Mankind 2000 oder des Club of Rome. Die schon erwähnte Analyse des Diskurses um „The Limits to Growth“ nimmt ebenfalls einen gewichtigen Teil ein.
Teil 3 schließlich zeigt, wie die in verschiedenen Strängen der Futurologie entstandenen Methoden und Theorien im Kontext der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er- und 1970er-Jahre Ausprägungen und Anwendungen fanden. Seefrieds Fallstudien, die sie unter die Überkategorien „Formation: Institutionen und die Produktion von Zukunftswissen“ (S. 313) sowie „Diffusion und Verwendung […] zwischen Planungseuphorie und Wachstumskritik“ (S. 411) stellt, decken eine repräsentative Bandbreite von Herangehensweisen an Zukunftsforschung sowie deren Relevanz für die (Bundes-)Politik ab. Die Wirtschaftsprognostik (anhand der Prognos AG) kommt hier ebenso vor wie die Verwendung von Zukunfts-Expertisen für die Planungsabteilung des Bundeskanzleramts – um nur zwei Felder zu nennen. Dabei treten auch manche bekannte Aspekte in neue Zusammenhänge.
Seefried situiert ihre Arbeit „am Schnittpunkt von wissenschafts-, kultur-, ideen- und politikgeschichtlichen Ansätzen“ (S. 15). Diese ragen unterschiedlich stark in das Werk hinein. Vergleichsweise dominant ist die Ideengeschichte, am schwächsten berücksichtigt die Kulturgeschichte. Das ist zwar ein Manko, aber wer das Buch unter diesen Vorzeichen liest, wird es trotzdem mit Gewinn tun. Äußerst positiv hervorzuheben ist die Souveränität, mit der Seefried im Gewimmel der Handelnden und ihrer Motive, ihrer vielzähligen, sich teils überlappenden Einbettungen in Organisationen, nationale und internationale Kontexte sowie politische und ideelle Traditionen die narrativen und analytischen Zügel in der Hand behält. Dem Fazit, dass eine „pragmatisierte, managementorientierte Zukunftsforschung“ (S. 507) seit den 1990er-Jahren wieder auf dem Vormarsch sei, allerdings beraubt um die Steuerungseuphorie und den emanzipatorischen Aspekt, kann man unumwunden zustimmen.
Insgesamt bietet das Buch einen tiefen und umfassenden Einblick in Denkstrukturen, Entwicklungen und Netzwerke vor allem der westlichen bzw. westdeutsch-amerikanischen Zukunftsforschung. Wer sich für deren Geschichte, aber auch für diejenige von Planungs- und Zukunftsdenken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgemein interessiert, wird von Elke Seefrieds multiplen „Zukünften“ sehr profitieren. Das Werk ist im besten Sinne grundlegend.
Anmerkungen:
1 Karlheinz Steinmüller, Zukunftsforschung in Deutschland. Versuch eines historischen Abrisses (Teil 1), in: Zeitschrift für Zukunftsforschung 1/2012, S. 6–19, sowie zwei weitere Teile in Ausgabe 1/2013, S. 5–21, und 1/2014, S. 5–24; <http://www.zeitschrift-zukunftsforschung.de> (20.11.2015).
2 Elke Seefried, Steering the Future. The Emergence of “Western” Futures Research and Its Production of Expertise, 1950s to Early 1970s, in: European Journal of Futures Research 2 (2014), <http://dx.doi.org/10.1007/s40309-013-0029-y> (20.11.2015), S. 4.
3 Rolf Kreibich, Die Zukunft der Zukunftsforschung. Ossip K. Flechtheim – 100 Jahre, Arbeitsbericht des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung, Berlin, 32 (2009), <https://www.izt.de/fileadmin/downloads/pdf/IZT_AB32.pdf> (20.11.2015), S. 19. Er differenziert „exploratives empirisch-analytisches“, „normativ-prospektives“, „kommunikativ-projektierendes“ und „partizipativ-gestaltendes Vorgehen“.