A. Grafton: Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote

Titel
Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote.


Autor(en)
Grafton, Anthony
Erschienen
Berlin 1995: Berlin Verlag
Anzahl Seiten
228 S.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Marsch, Max-Planck-Gesellschaft Muenchen

Nicht nur in der Geschichtswissenschaft, auch in vielen anderen Disziplinen werden heute Fussnoten und Anmerkungen als Standard des wissenschaftlichen Arbeitens vorausgesetzt. Dem geneigten wissenschaftlich Arbeitenden sind sicherlich aus Schulzeiten noch die Glossen zu klassischen Texten erinnerlich, also Anmerkungen zum Text in der Zeile, spaeter daneben. Die Glossen zu kirchlichen Ueberlieferungen oder die beruehmten Anmerkungen zu grundlegenden juristischen Kodices des fruehen Mittelalters sind nicht nur Theologen und Juristen ein Begriff. Es mag naheliegen, darin auch die Urspruenge fuer spaetere Fussnoten in historischen Arbeiten zu sehen. Dennoch unterscheiden sich diese Anmerkungen und die heutigen Fussnoten betraechtlich. Anliegen des Buches von Grafton ist es, das Spezifische von Fussnoten, im Gegensatz zu anderen Methoden von Anmerkungen, herauszuarbeiten. Dabei beschraenkt er sich allerdings auf geschichtswissenschaftliche Arbeiten und vernachlaessigt andere Fachgebiete, in denen Fussnoten zwar heute auch ueblich sind, aber keine so zentrale Bedeutung haben. Mit dem Aufkommen des kritischen Arbeitens, der Ueberpruefbarkeit der zugrunde gelegten Texte und Originialquellen in der narrativen historischen Darstellung geht die Geschichte ueber vom unkritischen Erzaehlen zur wissenschaftlichen Analyse. Der Uebergang von der Nutzung dieser Methode hin zum Standard des historischen Arbeitens ist fuer Grafton der Uebergang in die moderne Geschichtswissenschaft. In seinem Band, einem spekulativen Essay, wie er ihn selbst nennt, versucht er herauszufinden, wann, wo und weshalb Historiker diese Methode anzuwenden begannen.

In seinem Essay geht Grafton dabei den Weg von Ranke aus rueckwaerts. Mit Ranke habe die Methodik des historischen Arbeitens eine neue Grundlage erhalten und sich in Deutschland durchgesetzt. Gleichzeitig ist es auch schon der zeitliche Endpunkt des Essays, denn mit ihm beginnt die historische Moderne. Grafton zeigt die Akribie, mit der Ranke aeltere Schriften auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersuchte, kritisch verglich und mit seinen eigenen Findungen und Anmerkungen versah oder in seine Texte einbaute. Daneben geht er auf die Rezeption der Werke Rankes ein und beschreibt ihre kritische Aufnahme, gerade in anderen Staaten in den letzten Jahren.

An dieser Stelle nimmt das Buch eine Wendung, denn Grafton beginnt eine andere Geschichte ueber Ranke und die Tradition der Methodik in der Geschichte zu schreiben, von der Ranke selbst behauptete, er habe sie gebrochen. Grafton sucht also die moderne Geschichtswissenschaft lange vor Ranke. Er hat sie gefunden, und laesst seine Leser in lebendiger und spannender Art und Weise daran teilhaben.

Anhand Rankes Studienganges und seiner ersten Arbeiten zeigt Grafton, dass schon Ranke in der Methodik ausgebildet worden war, Alter, Wert und Tradition von historischen Quellen kritisch zu hinterfragen. Also muss die Genealogie der Fussnote deutlich aelter sein. Auf seiner Reise durch Zeit, Laender und eine Vielzahl historischer Werke und moderner Schriften verlaesst Grafton den Historismus, streift dabei die Philosophie der Aufklaerung und kommt zu Gibbon's "Decline and Fall of the Roman Empire" von 1776. Nicht so sehr das Werk an sich steht dabei im Vordergrund, sondern eine Kritik eines Herrn Davis' an Gibbon's - Fussnoten. Gibbon zermahlte seinen Gegner argumentativ zu Staub. Noch wichtiger ist aber, dass beide, Gibbon und Davis, es fuer voellig selbstverstaendlich hielten, dass ein historisches Werk nachpruefbare Quellenbelege beinhalten muss.

Von Gibbon, dessen zweite Auflage des "Decline" mit echten Fussnoten, statt wie zuvor mit Endnoten, gedruckt wurde, kommt Grafton ueber den einige Jahre juengeren Justus Moeser in Osnabrueck und Pope, der ebenfalls Fussnoten benutzte, allerdings weniger als Quellenbelege, sondern um seinen Gegnern ihre Fehler nachzuweisen, zu Richard White und seinem Hauptwerk von 1597 (Fruehe Geschichte Englands), dessen Rand- und Endnoten immerhin fast 120 Seiten ausmachten. Weite Teile des Buches nimmt dann das Werk von Jacques-Auguste deThou und dessen Geschichte Europas von 1544-1607 ein - das umfangreichste historische Werk fuer einige hundert Jahre. Die Vorgehensweise de Thous beim Abfassen und staendigen Nachkorrigieren seines Werkes, das er in ganz Europa versandte und Freunde und Herrscher um Ergaenzungen bat, und ebenso die Rezeption dieses Werkes sind ueberaus lebendig, sachlich und spannend, aber nicht reisserisch geschrieben und vermitteln einen guten Eindruck der Bemuehungen von damaligen Autoren, moeglichst exakt und wahrheitsgemaess zu schreiben, sich allerdings dabei der Grenzen der historischen Objektivitaet bewusst werdend.

Es ist keine Frage, dass in einer solchen Reihe auch ein Kapitel ueber Kirchenhistoriker verschiedener Laender nicht fehlen darf. Grafton zeigt, dass auch diese bereits auf eine bekannte und auch akzeptierte Methodik zurueckgriffen. Und dass das, was oft ein Methodenproblem zu sein schien, tatsaechlich ein Forschungsproblem war. Das Problem der Wissensbeschaffung und die Unmoeglichkeit, dies zu aendern, veranlasste nicht nur Historiker, sondern auch Philosophen verhaeltnismaessig unkritisch auf das schon Bekannte zurueckzugreifen. Um dieses Forschungsproblem mit verlaesslichen Methoden zu beheben, verfasste Pierre Bayle sein " Dictionaire historique et critique" von 1697. Es war bald ein umungaengliches Hilfsmittel fuer zeitgenoessische und noch folgende Historiker. Bayle verfasste ein Lexikon ueber Menschen und Orte der Antike, des Mittelalters und seiner Zeit. Gespickt mit Fussnoten, Hinweisen auf Fehler anderer Autoren, Quellenkritik und Korrekturen diente es Generationen von Historikern als Nachschlagewerk und auch als Anleitung zur historischen Methodik. Ein Beispiel waere Bayles Anspruch, dass Quellen und Verweise so exakt wie nur irgend moeglich sein sollten.Grafton nennt dieses Werk und den dahinter liegenden Anspruch eine "profunde Uebung in Wahrheitssuche" (S. 201), auch wenn Bayle zugeben musste, dass es letzte Gewissheit nicht geben koenne. Nicht nur darin unterscheidet sich Bayle von anderen Autoren, sondern auch, dass er die moderne Form der Narrative einfuehrte: waehrend im Text das Resultat geschildert wurde, zeigten Kommentar und Fussnoten den Weg dorthin. Indem Grafton diesem Autor mit Recht und durchaus ansprechend viel Platz in seinem Buch widmet, ihn haeufig und ausfuehrlich zitiert, zeigt er so Arbeitsweise und Selbstverstaendnis Bayles.

Dieses Kapitel und das ueber Ranke gehoeren ganz sicher zu den grundlegenden in diesem Buch. Damit zeigt Grafton auch, dass die Moderne in der Geschichtswissenschaft also um 1700 begann, als Bayles Methode und Anspruch erkannt, anerkannt und in ganz Europa verbreitet wurden.

Es mag in den letzten Jahren Kritik an der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Fussnoten gegeben haben. Immerhin wurde ein Standardwerk ueber das lange 19. Jahrhundert in drei Baenden ohne Fussnoten geschrieben und als solches auch anerkannt. Und es ist sicherlich richtig, von Zeit zu Zeit das eigene Handeln und Schreiben kritisch zu ueberdenken. Ob aber Abhandlungen, die eine originaere Forschungsleistung darstellen, ohne wissenschaftlichen Apparat auskommen, scheint zur Zeit fraglich. Denn gerade Fussnoten und Anmerkungen zeigen Gedankengaenge und Methode, ein Thema wissenschaftlich-kritisch zu bearbeiten.

Es ist eine der Staerken dieses Buches, auf lesbare, essayistische aber nicht oberflaechliche Weise die geistesgeschichtlichen und methodologischen Hintergruende des historischen Arbeitens wie der geschichtswissenschaftlichen Moderne aufgezeigt und Neugier auf manche der Werke geweckt zu haben, die in 288 Fussnoten genannt werden.

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