J. Scheiner u.a. (Hrsg.): Räumliche Mobilität und Lebenslauf

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Titel
Räumliche Mobilität und Lebenslauf.


Herausgeber
Scheiner, Joachim; Holz-Rau, Christian
Reihe
Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung
Erschienen
Wiesbaden 2015: Springer VS
Anzahl Seiten
XVI, 315 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marie-Kristin Döbler, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Der Sammelband „Räumliche Mobilität und Lebenslauf“ bündelt Studien und empirische Arbeiten, die individuelle Lebensverläufe im Längsschnitt auf Mobilität untersuchen. Im Fokus stehen alltägliche Formen der Mobilität, wie der Weg zur Arbeit, sowie seltenere bzw. einmalige Ereignisse, z.B. ein Umzug. Den Hintergrund der Veröffentlichung bilden der Workshop „Mobilitätsbiografien und Mobilitätssozialisation“, der 2014 an der TU Dortmund stattfand, und das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) und den Schweizer Nationalfonds (SNF) geförderte Projekt „Mobility Biographies: A life-Course Approach to Travel Behaviour and Residential Choice“.

Den vier thematischen Blöcken – „Theoretische und methodische Perspektiven“ (Teil I), „Schlüsselereignisse in der Alltagsmobilität“ (Teil II), „Mobilitätssozialisation“ (Teil III), „Wohn- und Arbeitsmobilität im Längsschnitt“ (Teil IV) – geht ein Vorwort der Herausgeber voraus, allerdings vermisst man eine ‚klassische Einleitung‘, die näher dargelegt hätte, was der Band zu bieten hat, was die Beiträge leisten sollen und in welcher Verbindung sie zueinander stehen, etwa indem sie ähnliche Themen behandeln. Das erste Kapitel, das von den Herausgebern als Einführung zu den Workshopbeiträgen ergänzt wurde, ist jedoch hilfreich für einen Einstieg in die Thematik der räumlichen Mobilität im Lebenslauf. Es werden der Stand der Forschung sowie die Konzepte der Mobilitätsbiografie und der Mobilitätssozialisation vorgestellt und theoretisch verortet. Ebenso werden Forschungslücken aufgezeigt und Schlussfolgerungen für die Forschung gezogen, die teils auf die Rationalität der im Folgenden präsentierten Studien verweisen. Dieser Punkt wäre ideal gewesen, um Bezüge konkret zu machen. Holz-Rau und Scheiner erwähnen jedoch lediglich im Falle der „bisher kaum untersucht[en]“ „Sozialisationseinflüsse[] in der Mobilität“, dass die Beiträge von Döring oder Albrecht sich mit dieser Thematik beschäftigen (S. 16). Gleiches hätten sie jedoch auch etwa mit den noch untererforschten „Schlüsselereignisse[n]“ machen können, die „ sich nicht nur auf die betroffene Person auswirken, sondern z.B. auch auf deren Partner/in“. Doch erst das Lesen der einzelnen Beiträge verdeutlicht, dass diese „Linked lives“ verschiedentlich mehr oder minder explizit z.B. von Hannah Müggenburg und Martin Lanzendorf oder Karin Kirsch diskutiert werden.

Damit ist ein Punkt benannt, der für den ganzen Sammelband als problematisch zu betrachten ist: Es mangelt an Querverweisen, vor allem zwischen den Beiträgen. Alle würden davon profitieren, wenn Beiträge durch Vor- oder Rückverweise ergänzt wären. Vor allem jene Beiträge, die gemeinsam dem oben benannten Projekt entspringen, könnten sich auf ihre jeweiligen empirischen Ergebnisse konzentrieren und müssten nicht die Definitionen von Konzepten wiederholen.

Nach der Einleitung in „Theoretische und methodische Perspektiven“ (Teil I) durch Holz-Rau und Scheiner, widmet sich Lisa Dörings Beitrag der theoretischen Basis für empirische Arbeiten zum „Mobilitätshandeln im Lebenslauf und familiären Kontext“. Dabei geht es sowohl um Sozialisationsaspekte und -effekte, die insbesondere im Rückgriff auf das „Modell der produktiven Realitätsverarbeitung“ erläutert werden, als auch um Wirkungsbeziehungen zwischen Familienmitgliedern und Angehörigen verschiedener Generationen. Bei all dem steht die Ausbildung von Mobilitätsbiografien und dabei relevanter Fähigkeiten im Fokus. Raphaela Koglers Beitrag widmet sich ebenfalls der Mobilitätssozialisation. Im Blickpunkt stehen das Kindesalter und die als Teil der Alltagsmobilität verstandene Raumaneignung. Beide Aspekte werden im Rückgriff auf vier sozialräumliche Zugänge analysiert: Zonenmodell, Inselmodell, Lebensweltkonzept und Sozialraummodell. Kogler beleuchtet die Konzepte auf ihre Eignung für die empirische Praxis und zieht das Fazit, dass die unterschiedlichen zu Grunde liegenden Raumkonzepte je nach Fragestellung verschiedentlich geeignet sind.

Anna Lippardts Fragestellung verweist zwar auf kein bestimmtes Raumkonzept, macht aber deutlich, dass bestimmte Fragestellungen mit spezifischen methodologischen Herausforderungen konfrontieren. Sie beschäftigt sich mit „hochmobilen Künstlerinnen und Künstlern“ bzw. der „biographischen Erzählung von hochfrequenter Mobilität als Teil der künstlerischen Tätigkeit“ (S. 59). An diesem Beispiel verdeutlicht Lippardt, dass sich nicht nur das Forschungsfeld verändert, sondern sich auch die Methoden anpassen müssten. Somit sei etwa eine „multi-sited ethnography“ notwendig (S. 62), um dem Gegenstand gerecht zu werden. Die Probleme der Ressourcenbeschränkung (von Forscher und Erforschtem) sowie der Ortsgebundenheit des Forschers (etwa durch berufliche und/oder persönliche Verpflichtungen) blieben dabei aber erhalten, weshalb sie einer angemessenen Berücksichtigung und Reflexion bedürften. Leider liefert Lippardt nur Begründungen, warum ein Mitreisen oder Vor-Ort-Forschen erforderlich ist (z.B.: Die Inszenierungen gewohnten Künstler produzieren in Interviews nur vorgefertigte Narrative, die einer Realitätsprüfung nicht standhalten, was jedoch nur durch Beobachtung und Teilnahme des Forschers am Feld erkannt werden kann.), aber keine Lösungsansätze wie die geforderten „neue[n] mobile[n] Forschungsstrategien“ (S. 62) umzusetzen und die erwähnten Probleme überwunden werden können. Dieser Mangel mag jedoch der Kürze des Beitrags geschuldet sein und könnte durch einen Verweis auf ‚weiterführende Informationen‘ oder die Erörterung andern Orts überwunden werden.

Müggenburg und Lanzendorf machen mit ihrer „intergenerationalen Untersuchung zum Einfluss beruflicher Lebensereignisse auf das Verkehrshandeln“ den Auftakt zu Teil II. Sie erforschen und vergleichen drei Generationen hinsichtlich der Frage, welche Lebensereignisse welchen Einfluss auf die Pkw-Verfügbarkeit haben, mit welchen Veränderungen des Verkehrshandelns dies einhergeht und ob es Unterschiede zwischen den Alterskohorten gibt. Dabei vertreten sie die These, dass Verkehrshandeln durch (Alltags-)Routinen bestimmt ist, die höchstens „durch Kontextveränderungen in der Biografie“ (S. 80) in Frage gestellt werden. Diese „Gelegenheitsfenster“ sollten ihres Erachtens in den Blick genommen werden, wenn es um die „Entwicklung zielgruppenspezifischen Mobilitätsmanagements“ geht (S. 79ff.). Um Pkw-Verfügbarkeit geht es bei Ben Clark, Kiron Chatterjee und Glenn Lyon. Sie identifizieren das Fehlen einer Verbindung zwischen bisher existierenden empirischen Erkenntnissen zum variierenden Pkw-Besitz von Haushalten und der Theorie. Ihres Erachtens bietet das Konzept der „Mobility Biographies“ neue Möglichkeiten, Empirie und Theorie nicht nur in Einklang zu bringen, sondern darin sei vor allem auch die Chance enthalten, das Verständnis für die sich im Lebenslauf verändernde Pkw-Verfügbarkeit zu analysieren.

Den Hintergrund für die Ausführungen von Heather Jones, Kiron Chatterjee und Selena Gray zum Verständnis von Wandel und Kontinuität von „Walking and Cycling“ bildet ebenfalls die Identifikation eines Mangels: Bislang mangelte es an Langzeitstudien zum Verhalten von ‚Gehern‘ und ‚Radfahrern‘. Statt deren Verkehrshandeln als Resultat ihrer Erfahrungen und vergangener Handlungen zu erklären, würden immer nur aktuelle Kontextbedingungen berücksichtigt. Jones, Chatterjee und Gray hingegen nutzen biographische Interviews, um individuelle Begründungen für Handlungskontinuität und -wandel zu erheben und aktuelles Handeln aus der Biografie der Befragten heraus zu begründen. Auch Gesa Matthes fragt nach Veränderungen der Alltagsmobilität. Zentrales Schlüsselereignis ist in ihrem Fall der Umzug vom Umland in die Stadt. Als Datengrundlage dient ihr ein qualitatives Pseudopanel, anhand dessen sie Verkehrshandeln zu verschiedenen Zeitpunkten vor und nach der Wanderung vergleicht und feststellt: Der neue Wohnort hat einen starken Effekt auf das Verkehrshandeln. Diese Feststellung allein wäre zu einfach, wenn nicht gar banal. Glücklicherweise liefert Matthes jedoch Begründungen, Erklärungen und eine theoretische Verortung, die diese Erkenntnis zu einer interessanten und informativen Einsicht werden lassen. Kirsch stellt eindeutig identifizierbaren Schlüsselereignissen „schleichende Prozesse“, „Lebensübergänge“ gegenüber. Hierbei versucht sie, die durch quantitative Methoden erreichten Erkenntnisse durch „standardisierte Interviews und qualitative Fallstudien auf ihre Relevanz als mobilitätswirksame Lebensübergänge“ zu überprüfen (S. 151). Zentrales Element von Kirschs Beitrag sind Definitionen der Begriffe „Mobilität“ (S. 154) und „Alternsprozesse“ (S. 155) sowie deren Verbindung unter Rückgriff auf Ansätze der Alternssoziologie und der Mobilitätsbiografien. Als wichtige Einflussgrößen werden soziodemografische und -ökonomische Faktoren, individuelle Ressourcen und Kontextbedingungen bestimmt. Anhand dieser werden „Mobilitätstypen“ erarbeitet (S. 165f.), bevor diese beispielhaft durch empirische Ergebnisse illustriert werden.

Teil III wird von Juliane Stark und Reinhard Hössinger mit einem Beitrag zur „Verkehrsmittelwahl bei Jugendlichen“ eingeleitet, in dem sie die Ergebnisse des Forschungsprojekts UNTERWEGS zusammen, das aus der Perspektive der Theory of Planned Behaviour das Mobilitätsverhalten und die Einstellungen von Jugendlichen im Alter von 12 bis 14 untersucht. Janina Welsch wiederum beschäftigt sich mit sozio-kulturellen Einflussgrößen, die Unterschiede im Mobilitätsverhalten von Migranten erklären. Zu den zentralen Erkenntnissen der von ihr analysierten quantitativen Telefoninterviews zählt bspw. die Feststellung, dass Migranten seltener mit dem Rad, dafür häufiger mit dem öffentlichen (Nah-)Verkehr fahren. Welsch zieht vor diesem Hintergrund das Fazit, dass die Herkunft und andere mit der Sozialisation verknüpfte Aspekte zu Erklärung von Unterschieden im Mobilitätsverhalten herangezogen werden können und diese Dimensionen in der bisherigen Verkehrsforschung und -politik unterberücksichtigt bleiben. Olaf Kühne und Antje Schönwald erforschen aus einer konstruktivistisch-biografischen Perspektive die subjektiven Sichtweisen auf Raumentwicklung und -wahrnehmung. Die durch ihre Forschung bestätigte These ist, dass die Wahrnehmung von Landschaft und damit verbundene Mobilitätsmuster von individuellen biografischen Erfahrungen abhängt und die „Biografien von Menschen und Orten [...] untrennbar miteinander verflochten“ sind (S. 235).

Damit wird schon auf die Notwendigkeit von Betrachtungen verwiesen, die die Entwicklungspfade im Zeitverlauf nachzeichnen. Dies ist das Leitthema des IV. Teils: „Wohn- und Arbeitsmobilität im Längsschnitt“. Janna Albrecht spannt in ihrem Beitrag den zeitlichen Bogen von der Kindheit bis zur Familiengründungsphase. Sie geht der Frage nach, inwiefern Wohnstandortentscheidungen von räumlicher Bindung an Orte der Kindheit oder Jugend abhängen. Trotz des von ihr als beschränkt, da sehr einseitig bezeichneten Samples (Raumplanungsstudierende, deren Eltern und Großeltern), liefern die quantitativen Befragung interessante Erkenntnisse, die Albrecht zu Folge, bislang in der Forschung wenig Berücksichtigung finden: Als signifikante Faktoren erweisen sich der Mobilitätstyp der eigenen Eltern, damit Sozialisationserfahrungen, und der eigene Bildungsstand. Leider streift Alberts Beitrag nur marginal die angekündigte Analyse des Effekts, den die räumliche Bindung an Orte der Kindheit oder Jugend auf die Wohnstandortentscheidungen haben, weil andere Aspekte im Vordergrund stehen. Ilka Ehreke und Kay W. Axhausen nehmen das Arbeiten anstelle des Wohnens in den Blick. Sie verstehen Erwerbsbiografien als Teil von Mobilitätsbiografien. Unter Rückgriff auf die in der eingangs erwähnte DFG-geförderte Studie, erläutern sie den Einfluss von Schlüsselereignissen sowie Geschlechter- und Generationenunterschiede auf die räumliche Wahl des Arbeitsplatzes. In den entdeckten Mustern, erkennen sie, dass sich bestimmte Prozesse im Lebensverlauf parallel bewegen. Auch hier zeigt sich jedoch wieder, was bereits oben als Manko des Sammelbands bestimmt wurde: Es erfolgt keine Bezugnahme, es gibt keine Querverweise. So erläutern Ehreke und Axhausen noch einmal neu die Studie, die Datengrundlage und die methodischen Vorüberlegungen; das ist unnötig bzw. hätte wesentlich kürzer, durch einen Rückverweis abgehandelt werden können, wodurch z.B. der Ergebnisdarstellung Platz hätte gegeben werden können; der Mehrwert davon wäre sicher größer gewesen.

Intention zur Multilokalisierung bei Akademiker/innen ist das Thema das Beitrags von Knut Petzold und Nicola Hilti. Sie definieren Multilokalisierung zunächst als Wohnen an mehreren Orten und stellen es als mobile Lebensform neben Pendeln und Umziehen. Dann fragen sie nach den Motiven oder (Hinter-)Gründen, auf die zurückzuführen ist, warum sich Menschen für die eine und gegen die andere Variante entscheiden. Auch für sie ist die Antwort in der Biografie der Menschen zu finden. Zusammengefasst heißt das: Erfahrung macht den Unterschied. Auch im letzten Beitrag des Sammelbands geht es um Arbeit und die Entscheidung, mobil zu werden bzw. den Arbeitsort zu wechseln. Wichtig ist Christian Seynstahl dabei zwischen inter- und intraregionaler Arbeitsmarktmobilität zu differenzieren. Es werden verschiedene Theorien angeführt (z.B. Humankapitaltheorie, Suchtheorie, Matching-Theorie), die alle jeweils nur bestimmte Aspekte des Arbeitsmarktmobilität erfassen könnten, andere jedoch wiederum vernachlässigen müssten. Seynstahls Fazit verdeutlicht dies: Alle vom Beitrag erwähnten Theorien finden dort zur Interpretation der empirischen Daten Anwendung, was man vielleicht als Patchwork verstehen kann und die Hoffnung auf eine Synthese zu einer ‚umfassenden Theorie‘ ggf. unbefriedigt lässt.

Abschließend gilt festzuhalten, dass die Herausgeber im Vorwort Zutreffendes ankündigen: Sie geben „keinen systematischen Überblick über die weltweite Forschung“ (S. VI), zeigen aber viele verschiedene, vermutlich auch wesentliche Ansätze zumindest des deutschen Sprachraums auf. Daher bietet der Sammelband einen guten Einstieg in die Thematik der Verknüpfung aus räumlicher Mobilität und Lebenslauf.

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