Bei der Arbeit handelt es sich um eine an der Universität Oldenburg angenommene Dissertation, die im Rahmen des Niedersächsischen Forschungskollegs zur „Nationalsozialistischen Volksgemeinschaft? Konstruktion, gesellschaftliche Wirkungsmacht und Erinnerung vor Ort“ entstanden ist. Die Arbeit geht der Frage nach, inwieweit die Arbeit der Justiz, betrachtet am Beispiel der Hansestadt Bremen, einen Beitrag zur Konstituierung und Aufrechterhaltung der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung geleistet hat. Dabei fragt die Autorin nicht nur nach der Art und Weise, wie die Rechtsprechung in die Bremer Öffentlichkeit hineinwirkte und dabei half, „Volksgemeinschaft“ als gesellschaftliches Ordnungskriterium zu institutionalisieren. Vielmehr geht sie auch der Frage nach, welche gesellschaftliche Wirkungsmacht „Volksgemeinschaft“ als Narrativ über die Zäsur des Jahres 1945 hinweg zukam. Und schließlich widmet sich die Arbeit auch der Entnazifizierung der Justiz sowie den Problemen eines intergenerationellen Diskurses zwischen Tätern und Kindern beziehungsweise Kindeskindern über Fragen persönlicher Schuld und Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus. Schon daraus ergibt sich, dass gut ein Drittel des Buches mit Themen oder historischen Kontexten beschäftigt ist, die nicht im unmittelbaren Zusammenhang mit „Rechtspraxis und Selbstverständnis von Bremer Juristen im ‚Dritten Reich‘“ stehen.
Und genau hier liegt das zentrale Problem der Arbeit: Anstatt sich auf ihren thematischen Kern zu konzentrieren, lässt sich die Autorin von ihren Quellen zu jeweils längeren, jedoch nicht notwendig in den Kontext der Arbeit gehörenden Exkursen verleiten: Insbesondere bei der Frage der Entnazifizierung der Bremer Justiz (S. 298ff.) und der Frage der juristischen „Ahndung von NS-Verbrechen in Westdeutschland“ (S. 328ff.) gleitet die Arbeit oft länger in eine allgemeine, das konkrete Bremer Beispiel verlassende Darstellung der Thematik ab. Dies erschwert dem Leser eine stringente Lektüre, weil die Notwendigkeit dazu im Kontext des eigentlichen Themas des Buches nicht recht einleuchten will. Dabei schwächt dieses Vorgehen die grundsätzlich verdienstvolle Arbeit ohne Not, zumal gerade zu den genannten Themenaspekten bereits eine erhebliche Bandbreite an fundierter Forschungsliteratur existiert.
Dies ist umso bedauerlicher, als die vorliegende Arbeit im Grunde erstmalig seit Michael Stolleis‘ Aufsatz aus den 1970er-Jahren wieder die Frage aufwirft, wie Rechtsprechung im NS-Staat gesellschaftliche Ordnung konstituierte und legitimierte.1 Die Autorin rekurriert dabei ausgiebig auf die Arbeiten Alf Lüdtkes über den auch unter diktatorischen Regimes fortbestehenden „Eigen-Sinn“ der Individuen (S. 45 und öfter). Diese hätten sich ihr Leben, ihre Umwelt, ihre Erfahrungen jeweils subjektiv angeeignet, in ihr Selbstbild eingepasst und dann entsprechend (re-)agiert; sich also in gewisser Weise und in einem aufgrund gesellschaftlicher Verflechtungen begrenzen Rahmen ihre subjektive, soziale Wirklichkeit selbst konstruiert.2 Weitere theoretisch-methodologische Anleihen nimmt die Arbeit bei den Untersuchungen von Harald Welzer und Sönke Neitzel,3 die das Handeln von NS-Tätern mittels des soziologischen Konzeptes einer Handlungsrahmenanalyse zu ergründen suchen.4 Davon ausgehend kommt die Autorin zu der zutreffenden Einschätzung, „dass Herrschaft im Nationalsozialismus als soziale Praxis verstanden werden muss, innerhalb derer Beziehungen und Deutungsmuster im Alltag immer wieder neu ausgehandelt wurden“ (S. 45).
Jedoch bleibt anschließend über die gesamte Untersuchung hinweg unklar, was die Autorin unter dem für die Arbeit zentralen Begriff der „Volksgemeinschaft“ konkret versteht, da sie diesen in unterschiedlichen und mitunter widersprüchlichen semantischen Kontexten gebraucht. Einerseits steht am Ende der Einleitung die durchaus zutreffende – und von der jüngeren Forschung zum Thema durchweg geteilte – Einschätzung, dass die lange Zeit der „Verklärung […] der ‚Volksgemeinschaft‘ als Idealzustand der Gesellschaft“ ihrer wissenschaftlichen Aufarbeitung lange im Wege gestanden habe (S. 55). An anderer Stelle bekräftigt sie jedoch genau diese eher traditionelle Sicht der Dinge, wenn sie von der „Parole der ‚Volksgemeinschaft‘“ und deren appellativem Charakter spricht, der „als Verheißung einer besseren Zukunft und als sozialer Kitt“ (S. 275) eine Rolle bei der Überdeckung gegenwärtiger, sozialer Spannungen zugekommen sei. Dann wieder ist „Volksgemeinschaft“ ein (realer? – sozial konstruierter?) Handlungsrahmen, ohne dass dabei konkretisiert würde, was damit für die tatsächliche Interaktion von „Volksgenossen“ denn eigentlich gemeint sei (ebenso S. 275). Hier fehlt es an Konkretion und an einem Transfer des analytischen Konzeptes aus dem Himmel der Theorie in die Realität der vorhandenen Quellen. Wenige Seiten weiter wird die Verwirrung vollends komplett, wenn erneut konstatiert wird, dass ‚Volksgemeinschaft‘ zwar eine Utopie geblieben, aber dennoch im alltäglichen Handeln wirkmächtig geworden sei (S. 279). Zwar ahnt man, was die Autorin damit meint, doch es fehlt an einer klaren, präzisen Skizze, wie diese beiden Perspektiven zusammenzubringen sind – und wie das im Rahmen des zu verhandelnden Themas analytisch umzusetzen wäre.
Denn im Grundsatz lässt sich aus den weiteren Ausführungen über die ‚Volksgemeinschaft‘ als Bezugsgröße bei Aushandlungskonflikten durchaus herauslesen, als was die Autorin den Begriff eigentlich interpretiert (S. 281f.); als eine Art Wertmaßstab, über dessen Leisten jedwedes Sozialverhalten zu schlagen und mithin auf seine gesellschaftliche Kompatibilität zu prüfen war. Da es dabei seitens des Regimes keine abschließende, verbindliche Festlegung gab, wie der Tugendkatalog des untadeligen „Volksgenossen“ auszusehen hatte, führten divergierende Auslegungen dieses Verhaltensmaßstabes naturgemäß zu Aushandlungskonflikten, bei denen sich die Kontrahenten wechselseitig auf die „Volksgemeinschaft“ im Sinne eines quasi kategorischen Imperativs nationalsozialistischer Spielart beziehen, dabei aber auch gänzlich konträres Verhalten ableiten konnten (Beispiele auf den S. 236–279).
Diese Dimension des Themas nicht nur auf die internen Debatten der Bremer Justizorgane zu beziehen, sondern konkret der Frage nachzugehen, wie die Rechtsprechung durch Urteilsbegründung und Prozessberichterstattung auf der sprachlichen Ebene half, in die gesellschaftliche Öffentlichkeit hinein eine hochselektive und extrem ungleiche Gesellschaftsordnung zu etablieren und zu stabilisieren, unterbleibt jedoch weitgehend. Zwar wird dargelegt, wie die Kommunikation der Gerichte in die Presselandschaft institutionell organisiert war (S. 111–115), doch wie die Inhalte aussahen und wie sie sprachlich verfasst waren, bleibt weitgehend unerwähnt (vgl. S. 128 über die Bekanntmachung von Hinrichtungen mittels blutroter Plakate).
Stattdessen geht die Arbeit anhand der Biografien ausgewählter Juristen letztlich mehr und mehr der Frage nach, aus welchen Motiven sie sich dem Nationalsozialismus gegenüber aufgeschlossen gezeigt hatten. Auch hier kommt die Autorin zu fraglos ebenso wichtigen wie richtigen Erkenntnissen, etwa, wenn sie konstatiert: „Schon im Bemühen, möglichst nicht aufzufallen und dabei pflichtbewusst die an sie gestellten Anforderungen zu erfüllen, leisteten viele Zeitgenossen ihren Beitrag zum Erhalt und zur Stabilität des NS-Regimes.“ (S. 371) Ebenso ist zutreffend, dass weniger das eigene Verhalten als vielmehr die Wahrnehmung desselben durch das Regime darüber entschied, ob eine Person als loyaler „Volksgenosse“ oder aber als sanktionsbedürftiger Regimegegner beziehungsweise „Volksfeind“ galt (S. 81). Eher banal ist die letztliche Feststellung, dass die motivationalen Ursachen des Mittuns im NS-System bei allen im Rahmen der Analyse betrachteten Personen eine Melange aus unterschiedlichen Teilursachen war (S. 408).
Zusammenfassend bleibt das Gefühl, dass die vorliegende Arbeit zwar durchaus wichtige Befunde aufzuweisen vermag, dass sie aber ausgehend von ihrem eigentlichen Thema im Entstehungsprozess an entscheidender Stelle gleichsam falsch abgebogen ist. Insofern erfährt man viel Lesenswertes über die intergenerationelle Aushandlung von persönlicher Schuld und Verantwortung in Bremer Juristenfamilien, doch geht darüber die Ausgangsfrage nach der Bedeutung der Rechtsprechung für die Konstituierung der „Volksgemeinschaft“ im Sinne einer nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung verloren. Das ist schade, denn so verkauft sich die Arbeit unter Wert, weil sie am Ende die Antworten auf die Fragen schuldig bleibt, die anfangs richtigerweise aufgeworfen wurden.
Anmerkungen:
1 Michael Stolleis, Gemeinschaft und Volksgemeinschaft. Zur juristischen Terminologie im Nationalsozialismus, in: VfZ 20 (1972), S. 16–38.
2 Klassisch: Peter L. Berger / Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 21. Aufl., Frankfurt am Main 2007.
3 V.a. Sönke Neitzel / Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, 3. Aufl., Frankfurt am Main 2011.
4 Dabei fehlt in der vorliegenden Arbeit ein Verweis auf Ursprung und Hintergrund des Konzeptes, das insofern nur aus zweiter Hand rezipiert wird; siehe dafür: Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt am Main 1980.