Sie ist die angeblich erste „Programmiererin“ der Geschichte: Ada Lovelace, eigentlich Augusta Ada Byron King, Countess of Lovelace. Sie wurde 1815 geboren und starb bereits mit 36 Jahren an Krebs. Der Sammelband nimmt Lovelace als Ausgangspunkt einer Untersuchung über Frauen in der Computernutzung, -anwendung und -entwicklung. Hervorgegangen ist der Band aus der Sonderausstellung „Am Anfang war Ada. Frauen in der Computergeschichte“ des Heinz Nixdorf MuseumsForums (September 2015 – Juli 2016), die mit Lovelaces 200. Geburtstag zusammenfällt.1 Gegliedert ist das Buch in drei Teile: Der erste Teil widmet sich der Protagonistin selbst. Der zweite Teil befasst sich mit Frauen und Computertechnologie im 20. Jahrhundert, und im letzten Teil berichten Frauen von Erfahrungen und aktuellen Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung.
In dieser Geschichte, so die kritische Ausgangshypothese des Bandes, würden Frauen bislang marginalisiert. Die Frage nach den Ursachen dafür beantworten die Beiträge auf verschiedene Weise. Dabei geht es nicht nur um die Nachfolgerinnen in der Computertechnologie, sondern auch um eine Fortsetzung der Marginalisierung, für die Lovelaces Geschichte sinnbildlich steht: Als Übersetzerin von Luigi Menabreas Artikel über Charles Babbages „Analytical Engine“ (1842) wurde Lovelace ihre Eigenleistung in den Textanmerkungen lange aberkannt. In diesen Anmerkungen, die den Umfang des Artikels mehr als verdoppelten, zeigte sie anhand von Tabellen für die Berechnung von Bernoulli-Zahlen auf, wie die Maschine arbeiten könnte. Zudem stellte sie sich vor, dass die Maschine Musik und Sprache verarbeiten könnte. Gebaut wurde Babbages Maschine jedoch nicht, und Lovelaces Beitrag wurde kontrovers in der Forschung diskutiert.
Doreen Hartmann stellt in ihrem Beitrag Lovelaces vielschichtiges Leben dar. Als Gründe für die Marginalisierung macht die Autorin die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts und die damals vorherrschenden Geschlechterrollen aus. Hartmann schließt mit der Bemerkung: „Gerade vor dem Hintergrund der schlechten Bildungsbedingungen für Frauen im 19. Jahrhundert ist Ada Lovelaces Leistung alles andere als selbstverständlich!“ (S. 30) Nun zeigt die Autorin zuvor ausführlich, dass Lovelaces Mutter ihr mathematische Bildung nicht nur ermöglichte, sondern sie gerade dazu anwies. Ebenso unterstützte sie ihr Ehemann. Im Gegensatz zu den meisten Zeitgenossinnen der Oberschicht wurde Lovelace nicht maßgeblich in den „schönen Künsten“ ausgebildet. Zieht man dann noch die folgenden Ausführungen von Annette Pohlke zur schottischen Astronomin und Mathematikerin Mary Somerville hinzu, bleibt die Frage unbeantwortet, ob es lediglich Lovelaces unkonventioneller Lebensstil gegenüber dem konventionelleren Verhalten Somervilles war, der sie um eine frühere Anerkennung ihrer Leistungen brachte. Somerville eignete sich ihr Wissen selbst an, konnte aber im Gegensatz zu Lovelace durchaus Ansehen für ihre Leistungen genießen.
Bernhard J. Dotzler sieht vor allem in der Publikationspraxis und der verworrenen Quellenlage einen Grund dafür, warum Lovelaces Leistungen nicht eindeutig belegbar sind. Lange vergessen worden sei Lovelace außerdem deshalb, weil ihr Name in den Anmerkungen nur in Initialen erschien. Den Inhalt dieser Anmerkungen beleuchtet Dotzler genauer und erklärt, dass Lovelaces Ausführungen über die Operationalität der Maschine sie zu einer Ikone der Computergeschichte werden ließen. Dies problematisiert wiederum Jens Schröter auf ganz andere Weise: Durch das heutige Wissen über den Computer bewerte man Lovelaces Ideen als „visionär“ (S. 70) und erschaffe durch den Blick auf die Vergangenheit eine Linearität zur Computertechnologie. Sybille Krämer fragt hingegen zunächst einmal danach, was denn eigentlich ein „Programm“ sei. Dabei erklärt sie gelungen, was den universalen Charakter einer Maschine ausmacht, die ein Programm braucht, und betont in diesem Zusammenhang Lovelaces Leistung. Zur Marginalisierung merkt Krämer außerdem an, Lovelace habe Babbage um die Formel zur Berechnung der Bernoulli-Reihen gebeten. Hierdurch wurde ihre Leistung auch in Frage gestellt, wenngleich sie die Idee für die beispielhafte Operation entwickelte und diese in Tabellenform verdeutlichte (S. 86).
In vielen der Aufsätze finden sich interessante Beispiele zum Kritikpunkt, dass Frauen in der Computergeschichte stets nur als Vermittlerinnen wiederzufinden seien. In Bezug auf Lovelace drängt sich nach der Lektüre mehrerer Beiträge allerdings die Frage auf: Warum wird eigentlich ein Vergessen Lovelaces kritisiert? Nicht nur in der Forschungsliteratur, sondern auch in „Unterhaltungsmedien“ war Lovelace bereits lange vor diesem Sammelband durchaus präsent.2 Ebenso wie sie wurden auch Babbage und seine Idee der „Analytical Engine“ lange Zeit ignoriert.
Im nächsten Abschnitt des Bandes („Rechnende Frauen, Gender und die Digitalisierung“) stellt Janet Abbate heraus, dass Frauen als Bedienerinnen von Computern nicht so prominent waren wie die Erfinder der Technologie. Vor dem Zweiten Weltkrieg, so die Autorin, waren Frauen selbst „Computer“ im Sinne einer rechnenden Person. Die Fähigkeiten, die sie dabei erlernten, konnten sie in das neue Berufsfeld des Programmierens einbringen. Die Beispiele, unter anderem Grace Murray Hopper und Mary Allen Wilkes, liefern über den Genderdiskurs und das Wirken von Frauen in der Computertechnik hinaus spannende Facetten einer Geschichte der Computerisierung. Man gewinnt Einblicke in die Begeisterung für die Maschinen und in den Prozess des Programmierens sowie darüber, welche Rolle der Nutzer / die Nutzerin hierbei spielte.
Tanja Paulitz betrachtet dann eingehend, welche kulturellen Mechanismen dafür verantwortlich sind, dass die Rolle der Frauen in der Wissenschafts- und Technikgeschichte oft vernachlässigt wird. Unter Rückgriff auf Bourdieus „feine Unterschiede“ verfolgt sie unter anderem die Geschichte der Astronomin Eleanor A. Lamson (1875–1932). Paulitz macht die Distinktionsmerkmale innerhalb der Geowissenschaften als Grund für die Nichtbeachtung Lamsons aus, was etwa auf die mythischen Heldengeschichten in der Feldforschung des Faches zurückzuführen sei. Wie Lovelace erscheint Lamson nicht offensichtlich als Forscherin in Publikationen; sie wird als Verfasserin eines Anhangs nicht spezifisch genannt.
Auch Heidi Schelhowe untersucht das Feld der Wissenschaften eingehender. Wie beeinflusste die Zusammensetzung der Informatik aus Mathematik und Ingenieurwesen das Fach und die Rolle der Frau darin? Die Autorin liefert hierbei eine entscheidende Antwort, warum Lovelace neu und anders bewertet werden konnte: erst durch die spätere Trennung von Hardware und Software. Dies habe es ermöglicht, Lovelace durch ihre Kommentare zu der nicht realisierten Maschine Babbages als „Pionierin der Computertechnik“ anzusehen (S. 134).
Der Band schließt mit „Tendenzen der Digitalisierung“. Hier erzählt zum Beispiel Christiane Floyd, die 1987 die erste Informatikprofessorin im deutschsprachigen Raum wurde, von Dissertationen von Frauen in der Informatik. Sie geht dabei nicht nur auf die Themen selbst ein, sondern streift auch kurz die Rahmenbedingungen, unter denen diese Frauen geforscht haben. Nadja Magnenat-Thalmann, Leiterin eines Robotik-Projekts in Genf, berichtet von der Arbeit der humanoiden Roboterforschung. Am Beispiel der Humanoiden „Nadine“ erklärt sie Anforderungen und Wege der Forschung. Dabei kann man sich hier fragen – vor allem in Bezug auf den im Sammelband herausgearbeiteten Genderaspekt und die Rolle der Frau als Vermittlerin zwischen Mensch und Technik –, warum „Nadine“ eigentlich wieder „weiblich“ ist.
Die Beiträge veranschaulichen vielfältige Traditionen und Strukturen der Marginalisierung von Frauen in der Computergeschichte. Das Buch liefert nicht nur einen Blick auf eine Gendergeschichte; es belegt an interessanten Beispielen, wann, wo und wie Frauen in der Geschichte der Computer mitgewirkt haben und unsichtbar gemacht wurden. Darüber hinaus zeigen sich allgemeine Forschungsdiskurse und Strukturen von Disziplinen. Wie und unter welchen Umständen Themen oder Personen relevant werden oder welche Defizite in verschiedenen Fachrichtungen auszumachen sind, kann man hier spannend nachlesen. Das führt auch an die Frage heran, warum Ada Lovelace vergessen und marginalisiert, dann wiederentdeckt, ja zur Ikone gemacht wurde und heute, zumindest was die Literatur anbelangt, alles andere als vergessen ist. Auch dieser Sammelband und die Rahmenbedingungen, unter denen er entstanden ist, sowie die breite Rezeption3 sind letztlich selbst Zeugnisse einer solchen Forschungskonjunktur.
Anmerkungen:
1 <http://www.hnf.de/ausstellungen/ada-lovelace.html> (20.01.2016). Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Rezeption, dass die Hauptfigur meist nur mit ihrem Vornamen genannt wird.
2 Zu nennen wären hier unter anderem der Film „Conceiving Ada“ von 1998 und die Programmiersprache „Ada“, die in den 1970er-Jahren nach Lovelace benannt wurde. Beides wird in diesem Sammelband auch erwähnt.
3 Rezensionen und sonstige Artikel zum Sammelband finden sich zahlreich, z.B.: Till Kinzel, in: Informationsmittel. Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft, o.D., <http://ifb.bsz-bw.de/bsz434309796rez-1.pdf>; Bettina Schabschneider, in: Medienimpulse, o.D., <http://www.medienimpulse.at/articles/view/885>; Jenny Jörgensen, Am Anfang war Ada, in: Tagesspiegel, 11.07.2015, <http://www.tagesspiegel.de/themen/freie-universitaet-berlin/pionierin-in-der-computergeschichte-am-anfang-war-ada/12440526.html>; Judith Rauch, Am Anfang war Ada, in: Emma, 09.12.2015, <http://www.emma.de/artikel/am-anfang-war-ada-330971>; Tabea Grzeszyk, Die Erfinderin des ersten Computerprogramms, in: Deutschlandradio Kultur, 09.12.2015, <http://www.deutschlandradiokultur.de/sybille-kraemer-ada-lovelace-die-erfinderin-des-ersten.950.de.html?dram:article_id=339232>; Stefan Betschon, Die Zahlenzauberin, in: Neue Zürcher Zeitung, 10.12.2015, <http://www.nzz.ch/feuilleton/die-zahlenzauberin-ld.3551> (alle Links: 10.02.2016).