K. Vandorpe: Graeco-Roman archives from the Fayum

Cover
Titel
Graeco-Roman archives from the Fayum.


Autor(en)
Vandorpe, Katelijn; Clarysse, Willy; Verreth, Herbert
Reihe
Collectanea Hellenistica 6
Erschienen
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 105,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Reinard, Alte Geschichte, Universität Trier

Die vorliegende Publikation resultiert aus der ausgesprochen wichtigen und nützlichen Arbeit des seit 2002 aktiven „Papyrus-Archiv-Project“ an der KU Leuven. Das Projekt hat zum Ziel, Informationen zu den zahlreichen Archiven aus dem griechisch-römischen sowie dem spätantik-byzantinischen Ägypten zusammenzustellen und über die Trismegistos-Seite online – versehen mit einer individuellen ArchID-Nummer – als PDF-Dokumente verfügbar zu machen. Es ist zu begrüßen, dass man diese enorme Sammlung von Informationen und Erkenntnissen zu den Archiven nun auch geographisch geordnet als Buchpublikationen veröffentlicht und damit als Arbeitsinstrument noch leichter zugänglich macht. Nachdem bereits die Pathyris-Archive in jüngerer Vergangenheit vorgelegt wurden1, folgen jetzt die von Katelijn Vandorpe, Willy Clarysse und Herbert Verreth zusammengestellten Archive aus dem Fayum.

In der Einleitung stehen zunächst kurze Bemerkungen zur Definition des Begriffs „Archiv“, der hier in seinem in der Papyrologie üblichen Sinn verstanden wird: Alle Texte, die einer Person, einer Familie, einer Personengruppe (z.B. Priester) oder ein und derselben amtlichen Behörde eines Ortes zugerechnet werden können, werden als „Archiv“ aufgefasst (S. 16). Dabei ist erst ab der Anzahl von drei eigenständigen Dokumenten von einem Archiv zu sprechen. Weitere Ausführungen der Einleitung widmen sich den Arbeitsmethoden, mittels welchen eine Identifizierung von Archivzusammenhängen erwiesen werden kann. Neben der – sofern dokumentiert – archäologischen Befundsituation sind die Prosopographie, die Paläographie und die archivalische Untersuchung der „Wege“ von Papyri und Ostraka in einzelne neuzeitliche Sammlungen (wichtig sind hierbei Fundorte, Verkaufsdaten usw.) notwendige Arbeitsschritte (S. 17). Auch das methodische Problem der Wiederverwendung von Papyrusblättern in der Antike und die damit einhergehende Schwierigkeit einer sicheren Zurechnung einzelner Dokumente zu Archiven werden in der Einleitung geschildert (S. 17). Ferner erklären Vandorpe, Clarysse und Verreth die Aufnahme der Archive in einem „bottom up-approach“, was bedeutet, dass nur in Ausnahmefällen Archive zu größeren Archivkontexten zusammengefasst wurden (S. 18). Die Autoren bevorzugen eine ausdifferenzierte Auflistung sämtlicher „Sub“-Archive, was eine gut nachvollziehbare und für den Benutzer sehr positive Entscheidung ist, da ein übersichtlicher Zugriff auf kleinere Textsammlungen so erleichtert wird.

Nach knappen Bemerkungen zu den modernen Rufnamen der Archive werden die drei Hauptkategorien von Archiven vorgestellt (S. 21): Die Autoren unterscheiden „archives of private nature“, „archives of an official nature“ sowie die Kategorie „miscellaneous“, worunter beispielsweise Tempelarchive oder -bibliotheken verstanden werden. Problematisch erscheint die Kategorisierung eines „tax receipts archive“ in die Rubrik „miscellaneous“, das „only tax receipts on ostraca, kept by the tax payer“ beinhaltet. Könnte man dieses nicht auch als privates Archiv auffassen? Sehr plausibel sind schließlich drei Kategorien, die auf die Deutung einzelner Archivtexte angewendet werden: Unterschieden wird zwischen „incoming, outcoming and internal documents“; die Perspektive der „Richtung“ eines Dokuments, etwa bei Briefen oder Steuerurkunden, ist für die Interpretation sehr wichtig und nun für die Fayum-Archive schnell erschließbar: In der Auflistung im Hauptteil informieren die Autoren in der Rubrik „Texttypen“ bei Briefen und anderen entsprechenden Texten jeweils durch den Zusatz „= in-/outcoming documents“ über diese „Richtung“. Nützlich sind zudem die Bemerkungen zu Archiven, deren Fundort in Wohnhäusern, in Tempelbereichen, in Grabkontexten oder im Kontext von Mumienkartonage archäologisch gesichert ist (S. 20–26). Die Publikation bietet hier eine sehr schnelle und übersichtliche Orientierung über Grabungen und Fundorte, da die Archive mit den wichtigsten Daten in chronologischer Ordnung gelistet werden. Abgeschlossen wird die lesenswerte Einleitung durch Bemerkungen zu Archiven, die nach ihrer Auffindung durch den Verkauf im Antikenhandel in verschiedene Sammlungen gekommen sind (S. 27–30). Insbesondere die Ausführungen zu dem „illicit trade“ und dem berühmten „Deutschen Papyruskartel“ (S. 28f.) sind aufschlussreich. Allerdings bleibt festzuhalten, dass die wissenschaftsgeschichtliche Aufarbeitung dieser „Fachhistorie“ weiterhin ein Desiderat darstellt.

In dem Hauptteil des Bandes sind insgesamt 145 Archive in alphabetischer Ordnung aufgelistet (S. 31–455), die chronologisch vom 3. Jahrhundert v.Chr. bis zum Jahr 400 n.Chr. reichen. Wie Vandorpe, Clarysse und Verreth in der Einleitung darlegen, sind erst im 6./7. Jahrhundert wieder etwa 20 Archive im Fayum fassbar, die allerdings gemeinsam mit anderen byzantinischen Archiven diskutiert und publiziert werden sollen (S. 16); aus dem 5. Jahrhundert ist nur ein Fayum-Archiv (ArchID 222) bekannt. Von den 145 Archiven ist die Mehrzahl in griechischer Sprache verfasst; lediglich fünf Archive sind demotisch, 28 bilingual (21 Griechisch und Demotisch; sieben Griechisch und Latein). Nur sieben Archive bestehen aus Ostraka, was allerdings für den Fayum nicht verwundert (S. 16).

Die Einträge zu einzelnen Archiven sind unterschiedlich lang, was aufgrund der verschiedenen Anzahl an Texten sowie der jeweils divergierenden Forschungsstände nicht erstaunlich ist. Jeder Eintrag gliedert sich in vier Abschnitte: eine Bibliographie, die Beschreibung des Archivs, die Archivtexte und die Texttypen; gelegentlich kommen als fünfter Punkt Appendices hinzu. Die „Beschreibungen“, die Lexikonartikeln gleichen, sind jeweils der längste Bestandteil eines Eintrags. In ihnen werden die Fundumstände, der Weg der Archivtexte in bestimmte Sammlungen, gegebenenfalls Beobachtungen zur Wiederverwendung von Urkunden sowie die wesentlichen Informationen über die in den Texten greifbaren Personen und Inhalte referiert. Sehr ausführlich und fundiert ist die Aufarbeitung des Apollinarius-Archivs (ArchID 116) aus dem Zeitraum von den 70er-Jahren bis zum Jahr 147 n.Chr. (S. 186–198); positiv hervorzuheben ist hier auch die Auflistung noch unpublizierter Textstücke (S. 195).

Die Appendices bieten zu manchen Archiven sehr nützliche Ergänzungen: So wird etwa Familienstemma, beispielsweise zu den beiden Archiven der nekrotaphoi von Hawara (ArchID 145 von 365–175 v.Chr., S. 426f.; ArchID 359 von 140–30 v.Chr., S. 428–431), präsentiert. Ferner werden mehrmals in Graphiken die statistisch-chronologische Verteilung von Urkunden eines Archivs verbildlicht, so etwa zum Tesenouphis-Archiv (ArchID 238 von 224–217 v.Chr., S. 406f.). Häufig nutzen die Autoren die Appendices auch, um bei größeren Archiven einzelne thematisch oder dokumenttypisch gleiche oder ähnliche Texte tabellarisch zusammenzustellen, so etwa beim Archiv der „tax collectors from Soknopaiou Nesos“ (ArchID 337 von 194–225 n.Chr., S. 383–386). Von inhaltlichem Interesse sind tabellarische Zusammenstellungen der chronologischen Verteilung von Steuerzahlungen, wie sie im Appendix zu dem Soterichos-und-Didymos-Archiv (ArchID 226 von 65–135 n.Chr., S. 379–382) präsentiert werden. Nützlich sind ferner auch Tabellen, in welchen Archivtexte nach Dokumentgattungen und dem archäologischen Fundort gesondert aufgelistet sind; als Beispiel sei auf das Archiv des „tax collectors“ Sokrates und seiner Familie (ArchID 109 von 142–185 n.Chr., S. 373–378) verwiesen.

In den Appendices werden teilweise auch sehr hochwertige Abbildungen präsentiert. Ein Foto zeigt etwa die archäologische Fundsituation der Papyri des sogenannten „threshold papyri of Karanis“-Archivs (ArchID 251 von 68–115/16 n.Chr., S. 414–416). Im Appendix des Eintrags zum Pnephoros, Sohn des Petheus-Archivs (ArchID 544 von 144–146/47 n.Chr., S. 318–320) wird ein Foto der Holzbox gezeigt, in welchem man die Papyri des Archivs gefunden hat. Im Appendix des bereits angesprochenen Apollinarius-Archivs findet sich eine Abbildung des Textils, in welchem P.Mich. 562 gefunden wurde. Hilfreich ist auch der als Appendix präsentierte archäologische Plan von „granary C123“ in Karanis, jenem Gebäude, in welchem das Archiv von Satabous, Sohn des Pnepheros, und seiner Familie (ArchID 407 von 87/88–131 n.Chr., S. 350–357) entdeckt wurde. Die Abbildungen sind jeweils von hervorragender Qualität. Die in den Appendices präsentierten zahlreichen Graphiken, Statistiken, Tabellen und Abbildungen erweisen sich so als einer der Hauptgewinne der Publikation.

Lediglich Marginalien können ergänzt werden: Beim Archiv des „estate manager“ Epagathos (ArchID 134 von 94–110 n.Chr., S. 132–136), das in der Forschung häufig auch als Gemellus-Archiv bezeichnet wird, können in der Bibliographie Studien von Ast, Azzarello oder Olsson ergänzt werden2; Olssons deutsche Übersetzung ist zwar in Teilen zu korrigieren, die Zeilenkommentare sind aber immer noch nützlich. Beim Tiberianus-Archiv (ArchID 54 von 100–125 n.Chr., S. 113–117) sollten die Aufsätze von Adams in der Bibliographie ergänzt werden.3 Unverständlich ist, warum man im Familienstemma im Appendix Tiberianus als Vater des Claudius Terentianus angibt (S. 117). Diese keineswegs sichere Interpretation wird auf S. 115f. zu Recht kritisch diskutiert. Zudem vermisst man auf S. 115 bei der Erläuterung der militärischen Karriere des Terentianus einen Verweis auf den Jüdischen Aufstand in spättrajanischer Zeit, welcher den von der Flotte zum Landheer wechselnden Soldaten mit einiger Wahrscheinlichkeit tangiert haben dürfte.4

Insgesamt ist der Band ein sehr gutes Grundlagenwerk. Der Forschungsstand zu den Fayum-Archiven ist in hervorragender Art und Weise zusammengefasst. Der übersichtliche Aufbau der einzelnen Einträge sowie die zahlreichen Tabellen, Graphiken und Auflistungen bieten einen sehr schnellen und ausgesprochen informativen Zugang. Bedenkt man die zahlreichen Papyrustexte sowie die aus ihnen zu gewinnenden zahllosen Daten und Informationen, kann man sich nur glücklich schätzen, dass durch diese Publikation jetzt eine schnelle Orientierung möglich ist.

Anmerkungen:
1 Katelijn Vandorpe / Sofie Waebens, Reconstructing Pathyris’ Archives. A Multicultural Community in Hellenistic Egypt, Brüssel 2010.
2 Rodney Ast / Giuseppina Azzarello, A Roman Veteran and his Skilful Administrator: Gemellus and Epagathus in Light of unpublished Papyri, in: Paul Schubert (Hrsg.), Actes du 26e congrès international de papyrologie 2010, Genf 2012, S. 67–71; Giuseppina Azzarello, Olives and More in P.Fay. 102: Complete Edition of Acount from the Gemellos’ Archive, in: Papyrologica lupiensia 18/19 (2009/2010), S. 5–36; Bror Olsson, Papyrusbriefe aus der frühesten Römerzeit, Diss. Uppsala 1925, Nr. 52–65.
3 James N. Adams, The Vulgar Latin of the Letters of Claudius Terentianus (P. Mich. VIII, 467–72), Manchester 1977; James N. Adams, Two Unexplained Misspellings in Claudius Terentianus: Greek Interference in Egyptian Latin?, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 31 (1978), S. 135–137.
4 Silvia Strassi, L’archivio di Claudius Tiberianus da Karanis, Berlin 2008, S. 87–90.

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