Die Kommunistische Internationale (Komintern) wurde im März 1919 in Moskau von den Anhängern der bolschewistischen Revolution in der internationalen Arbeiterbewegung gegründet. Ihre Kongresse waren das höchste Gremium dieser Organisation. Hier trafen die Delegierten der einzelnen kommunistischen Parteien zusammen – oder in der Anfangszeit überwiegend von den politischen Kräften, die sich zu solchen erst noch konstituieren wollten. Sie sollten die politische Linie und die organisatorischen Maßnahmen festlegen, den von der auf dem vorhergehenden Kongress gewählten Führung vorgelegten Rechenschaftsbericht diskutieren und eine neue Führung bestimmen. Soweit die statutarische Theorie.
In der konkreten Praxis sah diese „idealtypische Bestimmung“, ähnlich wie bei jeder Organisation, höchst different aus. In der Anfangszeit prallten Teilnehmer mit verschiedenen Meinungen offen aufeinander. Unter anderem schätzten sie die politische Situation unterschiedlich ein und leiteten daraus unterschiedliche Aufgaben ab. Die Kongresse fanden zunächst jährlich statt. Erst nach dem vierten Kongress im Jahre 1922 begann sich der Abstand zu verlängern. Der fünfte tagte erst 1924, nicht von ungefähr nach dem Tod Lenins; der sechste 1928 – ganz im Zeichen von Stalins endgültiger Durchsetzung in der Sowjetunion – und der siebte und letzte schließlich 1935, bevor die Komintern 1943 im Zuge der sowjetischen Zusammenarbeit mit den Westmächten aufgelöst wurde.
Die ersten vier Kongresse wurden trotz der großen materiellen Schwierigkeiten während und unmittelbar nach dem Bürgerkrieg in Protokollbänden umfassend dokumentiert; während der Kongresse 1921 und 1922 erschien sogar eine eigene Tageszeitung. Der Ablauf der Plenarsitzungen wurde auch für den fünften Kongress von 1924 dokumentiert. Doch zeichnete sich dieser schon dadurch aus, dass ein Großteil der Differenzen weitgehend außerhalb der öffentlichen Diskussionen abgeklärt worden war. Z.B. legten die Delegierten keine Rechenschaft über das Scheitern der Revolutionsvorbereitungen in Deutschland im Jahr zuvor ab, noch thematisierten sie die inzwischen erfolgte faktische Ausschaltung Trotzkis – zum Teil als Folge davon. Erst recht galt dies für den sechsten und siebten Kongress, die nun sogar nur noch eingeschränkt dokumentiert wurden. Denn die jeweils beschlossenen Positionen wurden fast unmittelbar danach nicht nur hinfällig, auch viele der Redner wurden Opfer von Marginalisierung, Ausschlüssen oder – in den dreißiger Jahren – des Terrors. Als Folge davon wurden in der Sowjetunion die Veröffentlichungen aus der Anfangszeit der Komintern zur ideologischen „Abweichung“ erklärt und in den Bibliotheken in die „Giftschränke“ umsortiert.
Die zeitgenössische Veröffentlichung der Protokolle geschah zunächst auf Deutsch, der Sprache der internationalen kommunistischen Bewegung bis Ende der zwanziger Jahre. Manchmal waren auf die unter großem Zeitdruck möglichst zeitnah zu den Tagungen erfolgten ersten Veröffentlichungen später verbesserte Fassungen nachgefolgt, die dann auch durch russische Editionen nochmals ergänzt werden konnten. All diese Ausgaben waren aber nach dem Zweiten Weltkrieg für die Geschichtsschreibung im Westen oft nur schwer zu beschaffen und allenfalls in wenigen Spezialbibliotheken zu finden. Das in den sechziger Jahren neu entstandene Interesse an der Geschichte der Arbeiterbewegung führte dann dazu, dass auf der Grundlage des in der Bibliothek Fondazione Giangiacomo Feltrinelli in Mailand gesammelten Bestandes eine umfangreiche Serie von (bald auch noch „geraubdruckten“) Reprints – ohne jedweden Anspruch auf eine kritische Ausgabe durch Vergleich aller zeitgenössischen Fassungen und ohne irgendwelche Erläuterungen – die bibliothekarischen Lücken in vielen Ländern auffüllte. Das geschah zudem „rechtzeitig“, als im Gefolge von 1968 auch die Geschichte des Kommunismus als Steinbruch entdeckt wurde, um damit „revolutionäre Organisationen“ neu zu begründen.
Im Jahr 1984 nahm dann John Riddell in dem aus der Tradition des amerikanischen Trotzkismus kommenden New Yorker Verlag Pathfinder Press eine umfangreiche englischsprachige Dokumentation der Frühzeit der Komintern – zu Lenins Lebzeiten – in Angriff. Der Schwerpunkt des Projektes lag auf den Protokollen der ersten vier Kongresse. Die Edition zielte zwar zuallererst auf die Selbstvergewisserung bestimmter politischer Traditionen und Kontinuitäten, hat sich aber für jeden Kommunismus-Forscher, der über diese Zeit arbeitet, aufgrund der soliden Bearbeitung grundlegender und umfangreicher Quellenbestände als unverzichtbares Hilfsmittel erwiesen. Nach Bänden über die Herausbildung des internationalen Kommunismus im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg und der Rätebewegung an seinem Ende folgten Protokolle des ersten Kongresses (1919) und des zweiten (1920) sowie eines Kongresses für die antikolonialen Bewegungen im Nahen Osten, der – ebenfalls 1920 – in Baku stattfand. Hermann Webers Bewertung des Bandes zum Gründungskongress als „hervorragende Dokumentation“1 gilt dabei für alle vorgelegten Bände. Damit wurden diese Materialien vielfach auch zum ersten Mal auf Englisch vorgelegt, das in der Anfangszeit für die Kominternpropaganda nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte.
Die Veröffentlichung dieser Reihe endete jedoch beim ursprünglichen Verlag vorzeitig mit dem Band zum Baku-Kongress. Der Herausgeber hat sie nun aber für die beiden darauffolgenden Kominternkongresse von 1921 und 1922 wieder aufgenommen und kann dabei auch von der nach 1991 erfolgten Öffnung des Kominternarchivs profitieren. Die neuen Bände erscheinen beim Verlag Brill in der Historical Materialism Book Series, die die gleichnamige Zeitschrift begleitet.2 Zusätzlich zu den beiden Protokollbänden sind in der Buchreihe u.a. jüngst auch Dokumentationen zu den programmatischen Diskussionen in der Zweiten Internationale sowie zur Linken in der Weimarer Republik vorgelegt worden. Aus verlegerischen Gründen sind die beiden Protokollbände in umgekehrter Reihenfolge zur Chronologie erschienen; dagegen soll die Besprechung hier der Logik des historischen Nacheinanders folgen.
Der dritte Kominternkongress fand vom 22. Juni bis 12. Juli 1921 statt. Er stand unter der Losung „Zu den Massen“, die der jetzigen Veröffentlichung auch den Titel gegeben hat. Nach dem vorhergehenden Kongress von 1920 waren durch eine Reihe von Spaltungen und Fusionen in Westeuropa zwar kommunistische Massenparteien entstanden, diese drohten aber bereits wieder an Einfluss zu verlieren. Grund dafür war die sogenannte Märzaktion, als im Frühjahr 1921 die KPD nach einer Reihe von Zusammenstößen mit Polizei und Reichswehr in ihrer neuen Hochburg im Gebiet Halle-Merseburg die Zeit für reif zur Revolution hielt, was auch auf den Einfluss einer Reihe von aus Moskau entsandten Beratern zurückging.3 Doch die „revolutionäre Offensive“ endete in einer Niederlage und stürzte die KPD in die Krise. Ähnliche Entwicklungen fanden auch in anderen kommunistischen Parteien statt. Das Nachkriegseuropa befand sich allerdings keineswegs mehr unmittelbar vor der Revolution, stattdessen stabilisierte sich die politische Ordnung in vielen Ländern. Dies wollten starke Strömungen in der Mitgliedschaft nicht anerkennen, die in einer solchen Bestandsaufnahme den Weg zum „Opportunismus“, also zurück zur Sozialdemokratie, vermuteten. Auch in der sowjetischen Führung kam es zu vergleichbaren Auseinandersetzungen, da zunächst nur Lenin und Trotzki mit einer realistischen Kräfteanalyse dagegen argumentierten. Dabei hatten sich die Bolschewiki bereits im Frühjahr 1921 innenpolitisch zu einem „taktischen Rückzug“ gezwungen gesehen, als sie mit der „Neuen Ökonomischen Politik“ in der Landwirtschaft wieder Marktbeziehungen einführten, anstelle der Beschlagnahmepolitik aus dem Bürgerkrieg.
Vor diesem Hintergrund war das Hauptthema des dritten Kominternkongresses die Neubestimmung der internationalen Lage und der entsprechend zu entwickelnden Taktik. Lenin und Trotzki konnten sich weitgehend mit ihrer Einschätzung durchsetzen, dass die „Gewinnung der Massen“ erst noch zu leisten und die Taktik darauf auszurichten war. Das beinhaltete eine Absage an verfrühte Aufstandsaufrufe, wie in Deutschland geschehen, und in Sowjetrussland eine Bestätigung der Aufgabe des „Kriegskommunismus“. Auf eine Diskussion über die Verantwortung der Führung der Komintern für solche Entwicklungen wie die „Märzaktion“ wurde verzichtet, um die organisatorische Einheit nicht zu gefährden. Zusätzlich kamen auch noch die vielfältigen speziellen Angelegenheiten in einzelnen Ländern und Parteien zur Sprache. Auch Probleme der organisatorischen Struktur und Weiterentwicklung der Komintern und die Situation ihrer Vorfeldorganisationen im gewerkschaftlichen oder Jugendbereich wurden erörtert. Der Entwicklung des Kommunismus in den „kolonialen und halb-kolonialen“ Ländern war am letzten Kongresstag ein abschließender Tagesordnungspunkt gewidmet. Damit nahm er allerdings noch nicht den Raum ein, den diese Länder schließlich für den internationalen Kommunismus annehmen würden.
Zum Verständnis des Kongressverlaufs hat der Herausgeber eine ausführliche Einleitung vorangestellt, die die Entwicklungen in den wichtigsten kommunistischen Parteien seit dem zweiten Kominternkongress mit dem Schwerpunkt auf Deutschland in ihren Grundzügen nachzeichnet. Ebenso umreißt er den Kongressverlauf und zeigt die Hintergründe und Zusammenhänge der sich dabei artikulierenden Strömungen auf. Denn, wie Riddell schreibt, war sein Ablauf mehr als auf jedem anderen Kominternkongress zu Lenins Zeiten durch Diskussionen außerhalb seiner Plenarsitzungen beeinflusst. Entsprechendes Material aus dem inzwischen zugänglichen Archiv der Komintern hat der Herausgeber für die Einleitung und die sachlichen und biographischen Anmerkungen im Protokolltext, aber auch für einen Anhang mit ergänzenden Dokumenten, teilweise Erstveröffentlichungen, benutzt. Sie erlauben insbesondere Einblicke in die Auseinandersetzung um die „Märzaktion“ vor und während des Kongresses. Für die Erstellung des Protokolltextes nahm er wieder die zeitgenössischen Veröffentlichungen als Ausgangspunkt für seine Übersetzung nach sorgfältigem Vergleich. Eine Abklärung ausgewählter Passagen mit den während des Kongresses angefertigten Stenogrammen im Kominternarchiv zeigte, dass Abweichungen nur minimal waren und damit keine Bedeutungsänderungen an den Reden darstellten.
Mehr als ein Jahr später trat im November 1922 der vierte Kominternkongress zusammen; es war auch der letzte unter Beteiligung Lenins (der über „Fünf Jahre russische Revolution“ referierte). Aus der im Jahr zuvor proklamierten „Hinwendung zu den Massen“ war inzwischen die Losung der „Einheitsfront“ geworden, die hier intensiv diskutiert wurde. Noch immer war der internationale Kommunismus auf die Entwicklung in Deutschland fokussiert, wo von der stärksten Sektion der Komintern außerhalb Sowjetrußlands trotz Rückschlägen in nicht allzu ferner Zeit eine revolutionäre Machtergreifung erwartet wurde. Angesichts des Fortbestandes einer sozialdemokratischen Massenpartei und mit ihr verbundener Gewerkschaften ging es nun um die dafür erforderliche Taktik (vor allem unter dem Blickwinkel der Bildung einer „Arbeiterregierung“ aus der Zusammenarbeit der beiden Arbeiterparteien). Zudem machte sich, ausgehend von Italien, eine neue Form von reaktionärer Massenbewegung, der Faschismus, bemerkbar. Das nahm einen Großteil der Diskussionen ein, die diesmal stärker grundsätzlich-programmatisch geführt wurden. Dazu traten wieder zahlreiche organisatorische Probleme in einzelnen Ländern. Der „Kolonialfrage“ wurde diesmal ein größerer Platz eingeräumt. Über die „Agrarfrage“, und damit über die Erweiterung der Losung der „Arbeiterregierung“ zur „Arbeiter- und Bauernregierung“, wurde erstmals debattiert.
Auch diese Ausgabe basiert auf einem sorgfältigen Textvergleich der seinerzeitigen Ausgaben in mehreren Sprachen. Eine ausführliche Einleitung führt in die den Kongressdiskussionen zugrunde liegenden Probleme ein und skizziert deren historische Kontexte. Weitere Erläuterungen finden sich in den Anmerkungen zum Protokoll bzw. in einem Anhang mit Kurzbiographien. Auch hier gibt es einen Anhang mit erläuternden Dokumenten, auf die im Verlaufe der Diskussionen Bezug genommen wurde. Darunter sind aber keine bisher unveröffentlichten Archivmaterialien, die im Kongressverlauf nicht benannte, weil von den Teilnehmern vorausgesetzte und womöglich entscheidende Hintergründe aufgezeigt hätten, wie das beim Protokollband zum Kongress von 1921 geschah.
Beide Bände bestätigen die ausgezeichnete Qualität der Edition. Sie ist damit den verschiedenen zeitgenössischen (zumeist deutschen) Ausgaben überlegen, die ja in vielen wissenschaftlichen Bibliotheken – wenn auch oft nur als Reprint – vorhanden sind. Will man jedoch zu aufwändigen „Tiefenbohrungen“ in die Kongressdiskussionen ansetzen, die über die Plenarsitzungen mit ihren veröffentlichten Protokollen hinausgehen, kommt man nicht umhin, die im Kominternarchiv aufbewahrten zusätzlichen Materialien heranzuziehen. Diese umfassen unter anderem Dokumente zur Kongressvorbereitung, zu den Kommissionssitzungen und anderen begleitenden Beratungen. Hierfür kann man inzwischen erfreulicherweise auf eine umfangreiche Mikrofiche-Sammlung zurückgreifen, die auch in einigen deutschen Bibliotheken vorhanden ist.4 Eine in den neunziger Jahren nach der Archivöffnung in Zusammenarbeit mit einer niederländischen Firma in Angriff genommene Online-Bereitstellung ausgewählter Dokumente ist inzwischen auf dem russischen Archivportal „Dokumente der sowjetischen Epoche“ frei zugänglich zu finden. Das verfügbare Quellenkonvolut, ursprünglich unter dem Titel „Comintern Online“ veröffentlicht, enthält allerdings oft nur Findbuch-Angaben anstelle von Archivdokumenten.5 Insgesamt bietet die Edition von John Riddell daher die solideste und am leichtesten zugängliche Ausgangsbasis für einschlägige Thematiken der Kommunismusgeschichte.
Anmerkungen:
1 In seiner Anzeige des Buchs in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 36 (1988), S. 621. Siehe auch meine Besprechung der Protokolle des zweiten und des Bakuer Kongresses in Jahrbuch für historische Kommunismusforschung 2 (1994), S. 402–405. Zum ersten Komintern-Kongress liegt inzwischen auch eine neue deutschsprachige Edition vor, deren Vorzug der Rückgriff auf die Materialien des Kominternarchivs ist, das John Riddell seinerzeit noch nicht zugänglich war: Wladislaw Hedeler / Alexander Vatlin (Hrsg.), Die Weltpartei aus Moskau. Der Gründungskongress der Kommunistischen Internationale 1919. Protokoll und neue Dokumente, Berlin 2008.
2 Zeitschrift wie Buchreihe widmen sich nicht nur der ganzen Bandbreite der Theoriebildung, sondern zu ihren Themen gehört ebenso die Aufarbeitung der Geschichte der unter marxistischen Prämissen angetretenen politischen Bewegung.
3 Zu diesem einschneidenden Ereignis vgl. Stefan Weber, Ein kommunistischer Putsch? Märzaktion 1921 in Mitteldeutschland, Berlin 1991, und vor allem Sigrid Koch-Baumgarten, Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921, Frankfurt 1986.
4 Unter dem Titel „Comintern Archive 1917–1940“ (Leiden 1995) besteht sie aus zwei Serien, die nicht nur die Fonds zu den Kongressen, sondern auch zu den zwischen den Kongressen teilweise öffentlich stattgefundenen Plenarsitzungen des Exekutivkomitees reproduzieren.
5 „Dokumenty sovetskoj epochi“, http://sovdoc.rusarchives.ru/#!tematicsection§ionId=233826 (29. 9. 2016).