D. Morat u.a.: Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930

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Titel
Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930


Autor(en)
Morat, Daniel; Becker, Tobias; Lange, Kerstin; Niedbalski, Johanna; Gnausch, Anne; Nolte, Paul
Erschienen
Göttingen 2016: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Nathaus, Department of Archaeology, Conservation and History, University of Oslo

Die Geschichtswissenschaft hat Vergnügungen wie Kirmes, Tanz und Tingel-Tangel zuerst mit dem Fokus auf Klassenbeziehungen untersucht und auf ihre Rolle im Kampf um „kulturelle Hegemonie“ und „soziale Kontrolle“ hin befragt. Die dadurch implizierte Gleichsetzung von kommerzieller Populärkultur und Arbeiterfreizeit erschien jedoch bald problematisch, da auch Angehörige von Mittel- und Oberschicht Gefallen an solcherart Unterhaltung fanden. Die Ambivalenz sozialer Grenzverläufe in der Massenkultur sprach fortan dafür, das Phänomen als genuin neuartig zu verstehen und als Indikator und Faktor von Modernisierung in den Blick zu nehmen.1 In dieser historiographischen Diskussion um kulturelle Modernisierung ist der vorliegende Band zu verorten, der aus zwei größeren, vergleichs- und transfergeschichtlichen Forschungsprojekten zur Berliner Vergnügungs- bzw. Theaterkultur während der „langen“ Jahrhundertwende hervorgegangen ist. Aus diesem Zusammenhang sind unlängst weitere Monographien und Sammelbände erschienen, welche das hier rezensierte Werk vertiefen und ergänzen.2 „Weltstadtvergnügen“ bündelt zentrale Thesen der beiden Forschungsinitiativen und mag der weiteren Erkundung ihrer Ergebnisse als Einstieg dienen.

Die zentrale Frage des vorliegenden Bandes zielt auf die „Rolle der Vergnügungskultur bei der mentalen Verarbeitung der großstädtischen Lebensbedingungen und bei der Herausbildung eines großstädtischen Habitus“ (S. 13). Dieser Prozess der „inneren Urbanisierung“ wird in Abschnitten zu Unterhaltungstheater, Tanzvergnügen, Populärmusik, Vergnügungsparks und Kokainkonsum im Detail verfolgt. Dabei sorgen Daniel Morats effektive Einleitung, Paul Noltes konziser Ausblick und die durchgängig ähnliche Gliederung der einzelnen, von den jeweiligen Spezialistinnen und Spezialisten geschriebenen Kapitel für größtmögliche Kohärenz. Es sei betont, dass es sich bei diesem Buch nicht um einen Sammelband im üblichen Sinne, sondern eher um eine gemeinsam verfasste Monographie handelt – eine Veröffentlichungsform, von der man sich wünscht, dass sie Schule macht.

Die Beiträge zeigen zunächst, in welcher Weise kommerzielle Unterhaltungsangebote den Berlinerinnen und Berlinern der Jahrhundertwende die Anpassung an den rapiden großstädtischen Wandel ermöglichten. Sie schildern zum einen, wie beispielsweise der Vergnügungspark und die allgegenwärtigen Schlager und Gassenhauer gewissermaßen im Spielmodus spezifisch moderne Erfahrungen von sozialer Heterogenität, kakophonischem Lärm, Gedränge und Tempo ermöglichten, welche das Leben in der Großstadt kennzeichneten. Zum anderen wird untersucht, in welcher Weise die „kosmopolitische“ Populärkultur die Welt auf die Bühnen, Tanzböden und Konzertpodien brachte und in Bezug zu Berlin setzte. Im kosmopolitischen „Weltstadtvergnügen“ etablierte sich, so die These, unter fortlaufender Selbst- und Fremdbeobachtung eine großstädtische Berliner Identität. Diese maß sich an Metropolen wie Paris und London ebenso wie sie Selbstbewusstsein aus kolonialistischen Phantasien bezog.

Über dieses „Wie“ der „inneren Urbanisierung“ hinaus argumentiert der Band dafür, das „Wann“ dieses Vorgangs zeitlich früher anzusetzen als die bisherige Forschung. In diesem Punkt kritisiert er nachhaltig die Datierung des Durchbruchs der Massenkultur in Deutschland auf die 1920er-Jahre. Mit Ausnahme des Kapitels zum Kokainkonsum (ein Nachweltkriegsphänomen, das sich darin von den übrigen im vorliegenden Buch behandelten Themen unterscheidet) weisen alle Beiträge überzeugend nach, dass das kommerzielle Vergnügen bereits um 1900 im Hinblick auf seine geschäftliche Organisation, transnationale Reichweite sowie welt- und zukunftsgewandten Inhalte im höchsten Maße „modern“ war. Wenn überhaupt brachten der Weltkrieg und die 1920er-Jahre in diesen Hinsichten Rückschritte. Tobias Becker, Kerstin Lange, Daniel Morat und Johanna Niedbalski verweisen auf die beginnende Verstaatlichung des Theaters, die Unterbrechung transnationaler Kulturtransfers und finanziellen Schwierigkeiten des Vergnügungsbetriebes infolge des Krieges. Ferner konstatieren sie für die Weimarer Zeit einen Trend in den Bühnen- und Musik-Repertoires weg vom mondänen Optimismus hin zum Nostalgisch-Sentimentalen.

Überzeugend plädiert der Band für eine differenzierte Sicht auf die 1920er-Jahre, die sich nicht auf Jazztaumel, Amerikabegeisterung und die „Neue Frau“ reduzieren lassen. Ebenso plausibel argumentiert er für die Behandlung der „langen“ Jahrhundertwende als einheitliche Epoche. Weder bewirkte der Krieg einen grundlegenden Richtungswechsel in der Populärkultur, noch bedeutete 1933 eine vollständige Zäsur, da die Nationalsozialisten in vielerlei Hinsicht an kulturpolitische Initiativen der Weimarer Republik anschlossen. In Übereinstimmung mit der anglo-amerikanischen Forschung wird diese Periode der Populärkulturgeschichte in erster Linie medientechnologisch und wirtschaftlich begrenzt und unterteilt.

Die Markierung des Endes der „langen“ Jahrhundertwende durch Weltwirtschaftskrise und den Aufstieg von Tonfilm und Radio erscheint dabei klarer als die des Anfangs. Diesen datiert der Band eher ungefähr mit knappem Verweis auf die Einführung elektrischer Beleuchtung auf die frühen 1880er-Jahre. Diese Unschärfe zeigt an, dass der Frage nach dem „Warum“ des raschen Durchbruchs moderner Vergnügungskultur vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit geschenkt wird. Entsprechend setzen die einzelnen Kapitel teilweise sehr viel früher an und beschreiben meist einen graduellen Wandel. Die Konjunktur der Kommerzkultur wird somit letztlich an die Stadtentwicklung gekoppelt. Diese wiederum habe bei den Berlinerinnen und Berlinern Bedürfnisse nach modernen Identitäten und Ausdrucksformen wachgerufen, die von Theaterunternehmern mit „untrüglichem Gespür“ (S. 39) identifiziert oder in Modetänzen „gespiegelt“ und „ausgehandelt“ worden seien (S. 107f.). Dieser Interpretation liegt die Vorstellung eines bedürfnisgeleiteten kulturellen Wandels zugrunde, was der Eigendynamik und Kontingenz auf der Anbieterseite sowie den technologischen, rechtlichen und organisatorischen, für kommerzielle Kulturproduktion spezifischen Rahmenbedingungen nicht gerecht wird. Kritisch anzumerken wäre daher, dass vom Vergnügungsparkbetreiber bis zum Straßenmusiker die Produzenten des Vergnügens im vorliegenden Band zwar durchaus und mitunter umfänglich Erwähnung finden, ihr spezifischer Einfluss auf den Wandel des Berliner „Weltstadtvergnügens“ aber eigentlich nicht näher ausgelotet wird.3

Sämtliche Kapitel des Bandes thematisieren den Aspekt der sozialen Differenzierung und fragen somit auch nach dem „Wer“ der „inneren Urbanisierung“. Zusammenfassend attestiert Nolte der großstädtischen Massenkultur durchaus eine nivellierende Wirkung, da sie „etablierte Trennlinien“ von Klasse, Geschlecht und Milieu „zumindest situativ auf[weichten, KN]“ (S. 235), ohne sie allerdings vollständig zu erodieren. Die versammelten Einzelstudien zeigen, dass sich innerhalb der Vergnügungskultur alte soziale Differenzierungen reproduzierten und neue etablierten, etwa wenn Vergnügungsparks an „Elitetagen“ ihre Eintrittspreise anhoben. Beckers Kapitel zum Theater und Langes Abschnitt zum Tanz behandeln vornehmlich ein gehobenes Publikum, das sich teure Premierenkarten für die Jahresrevuen des Metropol-Theaters kaufte und sich vom „‚Tangofieber‘“ anstecken ließ. Damit lenken sie den Blick auf den wichtigen innerbürgerlichen Konflikt um das großstädtische Vergnügen zwischen einer aufstrebenden neuen Mittelschicht („Tout Berlin“) und älteren Eliten. Der Band benennt somit zentrale soziale Differenzierungen, ohne allerdings ihre oft subtile Funktionsweise näher herauszuarbeiten. Praktiken wie das „Slumming“ und das „Treating“ oder der in zeitgenössischen Quellen häufig geäußerte Snobismus gegenüber dem sprichwörtlichen Provinzler wären im Zusammenhang mit großstädtischer Identitätskonstruktion im Medium populärer Kultur zumindest zu erwähnen.4

Unter dem Strich ist „Weltstadtvergnügen“ ein in seiner Anlage und seinen zentralen Thesen überzeugender, mit Vergnügen zu lesender Band. Er verweist auf Aspekte wie Metropolenkonkurrenz, Musikerarbeit, großstädtische „Soundscapes“, soziale Differenzierung, globale Transfers von Repertoires und Künstlern sowie Netzwerke von Kulturunternehmern. Diese werden in anderen Studien der beteiligten Autorinnen und Autoren eingehender behandelt, welche sicher auch neue Forschungen anstoßen werden. Zu beherzigen wäre schließlich auch der im Ausblick angedeutete Brückenschlag von der vorletzten zur letzten Jahrhundertwende. Studien zur Vergnügungskultur um 1900, Forschungen zur Massenkultur der 1930er- und 1940er-Jahre und die Zeitgeschichte des Pop sind in den letzten Jahren erblüht und könnten einen (noch) intensiveren Dialog pflegen.

Anmerkungen:
1 Zur Illustration dieses Forschungstrends vgl. etwa Dagmar Kift (Hrsg.), Kirmes – Kneipe – Kino. Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen Kommerz und Kontrolle (1850–1914), Paderborn 1992 und Kaspar Maase / Wolfgang Kaschuba (Hrsg.), Schund und Schönheit. Populäre Kultur um 1900, Köln 2001.
2 Tobis Becker, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berliner und London, 1880–1930, München 2014; ders. / Anna Littmann / Johanna Niedbalski (Hrsg.), Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011; Paul Nolte (Hrsg.), Die Vergnügungskultur der Großstadt. Orte – Inszenierungen – Netzwerke (1880–1930), Köln 2016; Kerstin Lange, Tango in Paris und Berlin. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900, Göttingen 2015; Len Platt / Tobias Becker / David Linton (Hrsg.), Popular Musical Theatre in London and Berlin, 1890–1939, Cambridge 2014.
3 Warum man dies tun sollte und wie es machen könnte zeigt David Suisman, Selling Sounds. The Commercial Revolution in American Music, Cambridge, MA, 2009.
4 Vgl. etwa Chad Heap, Slumming. Sexual and Racial Encounters in American Nightlife, 1885–1940, Chicago 2009; Elizabeth Alice Clement, Love for Sale. Courting, Treating, and Prostitution in New York City, 1900–1945, Chapel Hill 2006.

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