U. Fenske u.a. (Hrsg.): Kolonialismus und Dekolonisation

Cover
Titel
Kolonialismus und Dekolonisation in nationalen Geschichtskulturen und Erinnerungspolitiken in Europa. Module für den Geschichtsunterricht


Herausgeber
Fenske, Uta; Groth, Daniel; Guse, Klaus-Michael; Kuhn, Bärbel P.
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 56,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Bernhard, Geschichtsdidaktik, Pädagogische Hochschule Salzburg Stefan Zweig

Der Band ist des Ergebnis eines von der EU geförderten internationalen Projektes CoDec, im Zuge dessen Wissenschaftler/innen aus Belgien, Estland, Österreich, Polen, Schottland, der Schweiz und Deutschland das Thema Kolonialismus in 21 Unterrichtsmodulen aufbereiten und dabei unter anderem Diskurse aus dem Bereich der Postcolonial Studies, der New Imperial History und Studien über Kulturtransfer verarbeiten. Der Band ist gegliedert in vier Sektionen, wobei pro Sektion vier bis sechs Module angeboten werden, die zum Teil in einer Weise aufbereitet sind, dass sie direkt im Unterricht angewendet werden können.

Praktisch gut umsetzbare Module finden sich in der Sektion I „Übersee-Kolonialismus“. Als theoretische Grundlage der Module fungiert ein Modell von Reinhard Wendt, in dem Stadien des historischen Wandels Europas durch die Aneignung von kulturellen Praktiken aus Übersee vorgestellt werden.1 Die heute potenziell identitätsstiftende „typisch deutsche Kartoffel“ gab es vor 1492 noch gar nicht in Europa. Susanne Popp und Miriam Hannig zeigen in einem Modul, wie Schüler/innen mit dem Modell von Wendt erarbeiten können, wie die Kartoffel, ein anfangs als „fremd“ bestauntes amerikanisches Gemüse, im Laufe der Jahrhunderte zum typisch deutschen Grundnahrungsmittel avancierte und heute als „Eigenes“ begriffen wird. Wenn sich Schüler/innen durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit der Rahmenbedingungen der eigenen (nationalen) Identitätskonstruktionen bewusst werden, wird historisches Denken angebahnt.2

Geschichtsschulbücher sind im Zusammenhang mit der Kolonialisierung oft von fiktionalen Diskursen und Mythen geprägt,3 laut denen europäische, hochtechnisierte und teilweise als unschlagbar konstruierte „Superhelden“ edlen und wilden Indigenen gegenübergestellt werden, wodurch alte koloniale Deutungsmuster unkritisch tradiert werden.4 Nicht-europäische Kulturen hätten die Geschichte nur erlitten, diese aber nicht aktiv mitgestaltet. Zur Entmythologisierung solcher und ähnlicher Masternarrative im Unterricht eignen sich die Module der Sektion I, insofern als sie Counternarratives anbieten und zeigen, wie europäische Kulturen und Identitäten auch von außereuropäischen Elementen geprägt sind.

Die drei Module von Hannig und Popp – auch die Themen Kaffee bzw. Zucker werden bearbeitet – zeichnen sich durch einen angenehmen Mix aus schriftlichen und bildlichen Quellen aus, die anhand von klar formulierten Arbeitsaufträgen fruchtbringend bearbeitet werden können. Generell werden die für den Geschichtsunterricht so bedeutenden bildlichen Quellen5 in den meisten anderen Modulen des Bandes aber zu wenig berücksichtigt.

In der zweiten Sektion wird die Frage gestellt, ob innereuropäische Hegemonien und Verflechtungen als Kolonialismus bezeichnet werden können, bzw. welcher Mehrwert durch die Anwendung kolonialer Forschungsperspektiven auf innereuropäische Kontexte gegeben ist. Es wird hier versucht, einen Ansatz der Postcolonial Studies zu didaktisieren, dem zufolge Kolonialismus nicht nur innerhalb der Dimension Herrschafts- und Ausbeutungsbeziehungen, sondern auch im Bereich der Wissenssysteme gesehen wird – Stichwort „epistemologische Hegemonie Europas“. Wissenschaftlich ist dieser Ansatz interessant, doch weist die Sektion II didaktisch-methodisch einige Mängel auf, zum Beispiel wenn in einem Modul über das „Luthertum in der estnischen Geschichte“ unter der Überschrift „Arbeitsaufträge“ Lernziele angegeben werden, und beispielsweise formuliert wird: „Zu erklären, warum die Deutschbalten in der estnischen lutherischen Kirche am Ende des neunzehnten Jahrhunderts die führende Position innehatten.“ (S. 95) Dabei stellt sich nicht nur die Frage, ob Gründe in der Geschichte immer so eindeutig identifizierbar sind, ohne in die Gefahr zu geraten, mit geglätteten Geschichtsdarstellungen zu operieren.6

Die dritte Sektion „Dekolonisation und Unabhängigkeitsbewegungen“ bietet mehrere interessante Zugänge. Hervorzuheben ist ein Modul von Karel Van Nieuwenhuyse und Idesbald Goddeeris, das zwei schriftliche Quellen gegenüberstellt, die das belgische Vermächtnis im Kongo unterschiedlich deuten. Es handelt sich dabei um eine Rede des Königs der Belgier Balduin I. und eine weitere des ersten kongolesischen Premierministers Patrice Lumumba im Zuge der Zeremonie zur Unabhängigkeitserklärung des Kongos 1960. Die Beschäftigung mit sich widersprechenden Perspektiven auf die koloniale Vergangenheit kann insofern zum historischen Lernen beitragen, als „Geschichte als Konstrukt erfahren“ (S. 166) und die öffentliche Nutzung von Geschichte für politische Ziele reflektiert werden kann.

In der Sektion IV „Erinnerungskulturen und Erinnerungspolitiken“ sei das Modul über die polnische Geschichte von Klaus-Michael Guse (und anderen) hervorgehoben, in dem die postkoloniale These des indischen Historikers Dipesh Chakrabarty angewendet wird, dass nämlich „in der Geschichtsschreibung immer Europa das Subjekt bleibe, selbst wenn es nicht um Europa“ (S. 251), sondern beispielsweise um Indien geht. Zugespitzt und auf den osteuropäischen Raum übertragen hieße das: Wenn der Raum Osteuropa – als ein oft vom Westen in imperialer Attitüde als „unterentwickelt“ angesehener Raum – historisch behandelt wird, dann gehe es eigentlich oft um Westeuropa selbst, was als „die Anwendung eines Wissenssystems der westeuropäischen Metropole auf die osteuropäische Semiperipherie“ (S. 251) gedeutet werden könnte.

Die beiden Schweizer Geschichtsdidaktiker Philipp Marti und Bernhard C. Schär tragen insgesamt drei Module zum Band bei. Allen Modulen ist gemein, dass jeweils am Ende der Einführung konsequent eine historische Leitfrage angeführt ist, in der im Sinne eines advance organizers noch einmal auf den Punkt gebracht wird, welche Fragen bearbeitet werden. In dem Modul „Koloniale Interpretationsmuster in Schweizer Comics“ lauten diese historischen Leitfragen: „Was unterscheidet ältere von neueren Formen rassistischer Stereotype, welche historischen Ursachen führten zu diesem Wandel und wie gehen wir in der Gegenwart in unserer Alltagskultur mit rassistischen Symbolen aus früheren Zeiten um?“ (S. 256) Zur Bearbeitung dieser Fragen werden Ausschnitte aus der Comicserie „Globi“ angeboten, in denen in Bildern und Texten Stereotype außereuropäischer Ethnien vorhanden sind. Auch wird ein Ausschnitt aus einer im Jahr 1981 entstandenen Kritik an rassistischen Darstellungsweisen in den Globi-Büchern vorgestellt, sowie ein weiterer Text, in dem in einer Kritik an dieser Kritik eine Generation danach aus diskursanalytischer Sicht auf blinde Flecken und Schwachstellen in dieser Kritik von 1981 hingewiesen wird. „Dieser Lernschritt soll den Jugendlichen aufzeigen, dass Kritik und Auseinandersetzung dynamische Prozesse und demzufolge niemals endgültig abgeschlossen sind, sondern sich kontinuierlich oder schubweise weiterentwickeln“ (S. 262) – und damit ähnlich wie die Geschichtsschreibung immer Antworten auf bestimmte Fragen sind, die sich Menschen zu einer gewissen Zeit stellen.7

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass einige Module des Buches Anreize schaffen, dass Schüler/innen „das Eigene mit neuen Augen“ (S. 13) zu sehen bereit sind und auf diese Weise auch das „Andere“ als eine mögliche und legitime Variante erkennen. Andere Module haben durchaus auf eine erfrischende Weise das Potenzial, einige die Geschichtskultur prägende, mythenbehaftete Masternarrative im Unterricht ergänzen, hinterfragen und korrigieren zu lassen. Das Buch ist daher, bei allen Unterschieden in der geschichtsdidaktischen Elaboriertet der einzelnen Module, für die Disziplin bereichernd und es bleibt zu hoffen, dass es von Praktikern rezipiert wird.

Anmerkungen:
1 Zu diesem Themenfeld hat Renate Pieper mit ihrem Forschungsteam an der Universität Graz interessante Forschungsergebnisse geliefert vergleiche Veronika Hyden-Hanscho / Renate Pieper / Werner Stangl (Hrsg.), Cultural exchange and consumption patterns in the age of Enlightenment: Europe and the Atlantic World, Bochum 2013.
2 Vergleiche dazu Dick Van Straaten / Arie Wilschut / Ron Oostdam, Making history relevant to students by connecting past, present and future: a framework for research, in: Journal of Curriculum Studies, 48 (2016) 4, S. 479–502.
3 Vergleiche dazu Roland Bernhard, Geschichtsmythen über Hispanoamerika. Göttingen 2013. Siehe dazu besonders das Kapitel über den Eroberungsmythos.
4 Vergleiche Roland Bernhard: „Be welcome in your country my lords“ – The story of Quetzalcóatl and the Spanish gods in textbooks as a Spanish construction to justify the Conquest, in: International Journal of Historical Learning, Teaching and Research 13 (2016) 1, https://www.history.org.uk/publications/resource/8728/the-international-journal-volume-13-number-1 (30.12.2016).
5 Michael Sauer, Bilder im Geschichtsunterricht. Typen – Interpretationsmethoden – Unterrichtsverfahren, 4. Aufl., Seelze-Velber 2012.
6 Siehe dazu das Historical Thinking-Konzept von Peter Seixas „Cause and Consequence“: Peter Seixas, A Model of Historical Thinking, in: Educational Philosophy and Theory 2015, S. 8–9. http://www.tandfonline.com/doi/abs/10.1080/00131857.2015.1101363?journalCode=rept20 (30.12.2016).
7 Vergleiche auch Felix Hinz und Johannes Meyer-Hamme, Geschichte lernen postkolonial? Schlussfolgerungen aus einer geschichtsdidaktischen Analyse postkolonial orientierter Unterrichtsmaterialien, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 15 (2016), S. 131–148, hier S. 144–146.