F. Becker u.a. (Hrsg.): Die Ungewissheit des Zukünftigen

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Titel
Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte


Herausgeber
Becker, Frank; Scheller, Benjamin; Schneider, Ute
Reihe
Kontingenzgeschichten 1
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Uwe Barrelmeyer, Gesamtschule Rosenhöhe Bielefeld

Für die kausale Deutung komplexer historischer Konstellationen sei es von Vorteil, so stellte der Historiker Christopher Clark für seine Forschungen zur Geschichte des Ersten Weltkriegs bilanzierend heraus, das „Element des Zufalls in das Geschehen“ einzubringen und die Relevanz des Phänomens der Kontingenz für vergangene „Zukünfte“ sensibel zu reflektieren.1 Auch in einigen neueren geschichtstheoretischen Studien sind das Phänomen der Kontingenz in der Geschichte und die Bedeutung des Zufalls als kausale Kategorie genauer untersucht worden.2 Einen wichtigen konzeptionellen Bezugspunkt dieser Studien bilden die begriffsgeschichtlichen Analysen Reinhart Kosellecks über den „Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung“ sowie die historischen Kategorien des „Erfahrungsraums“ und des „Erwartungshorizonts“.3 Kategoriale Unterscheidungen Kosellecks werden dabei von den Autoren begrifflich differenziert sowie heuristisch für begriffsgeschichtliche Untersuchungen historischer Semantiken des Zufalls und der Kontingenz genutzt. So verweist beispielsweise Peter Vogt darauf, dass bereits für die von Koselleck exponierte „Sattelzeit unterschiedliche Grade von Aufmerksamkeit für unterschiedliche Begriffe von Zufall ermittelt“ werden könnten.4 Er wendet sich damit implizit gegen die verbreitete Auffassung, Zufall und Kontingenz wären exklusiv als moderne Phänomene zu betrachten.

In den skizzierten Forschungszusammenhang lassen sich auch die Beiträge der 2016 in der Reihe „Kontingenzgeschichten“ erschienenen Aufsatzsammlung „Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte“ einordnen. Die Beiträge sind größtenteils aus Vorträgen im Kontext des Graduiertenkollegs „Vorsorge, Voraussicht und Vorhersage“ am Historischen Institut der Universität Duisburg-Essen erwachsen und von Frank Becker, Benjamin Scheller und Ute Schneider herausgegeben.

Ein wesentliches Ziel Benjamin Schellers ist es, die auf der Grundlage von Kosellecks Konzept der Sattelzeit „etablierte(n) Meistererzählung“ (S. 14) von der „Entdeckung der Kontingenz und ihrer aktiven Bewältigung in der Moderne“ (S. 9) historisch zu prüfen. Die Auffassung, in der Vormoderne hätten die Menschen kontingente Ereignisse in der Regel nur passiv erlitten, in der Moderne hingegen würde man aktiv gestaltend damit umgehen, sei historisch wenig tragfähig. Auch in der spätmittelalterlichen Stadtgesellschaft hätten die Menschen die Fähigkeit gezeigt, „pragmatisch innerweltliche Perspektiven auf kontingentes Geschehen zu entwickeln“ (S. 11), außer- und innerweltliche Perspektiven hätten nebeneinander existiert. Dementsprechend habe es im Übergang zur Moderne keinen „fundamentalen“, sondern lediglich einen „graduellen Wandel im Umgang mit kontingentem Geschehen“ (S. 18) gegeben. Dieses Urteil werde auch durch die begriffsgeschichtliche Beobachtung unterstützt, dass die „Semantik der Kontingenz“ (z.B. Zufall, Schicksal, Gefahr, Risiko, Hasard, Chance) im Wesentlichen als eine Schöpfung der Antike und des Mittelalters zu betrachten wäre (S. 14). Die Tragweite dieses historisch-semantischen Befundes sei von der Geschichtswissenschaft allerdings bislang nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Um der historischen Vielfalt des menschlichen Umgangs mit kontingenten Ereignissen Rechnung zu tragen, wäre die simplifizierende Meistererzählung durch ein typologisierendes Verfahren abzulösen. In kulturvergleichender und epochenübergreifender Perspektive sollen „unterschiedliche Typen von kontingenten Geschehnissen“ (S. 14) herausgearbeitet werden.

Der alltägliche Umgang der Menschen mit Ungewissheit vollziehe sich im Rahmen kultureller Wissensordnungen. Diese seien weniger als ein „geistiges knowing that, denn als ein praktisches Wissen im Sinne eines Könnens, eins Know-hows, eines praktischen Verstehens als ein sich auf etwas verstehen“ (S. 12) zu begreifen. Im vorliegenden Sammelband wird beispielhaft zwischen den Kontingenztypen der „known unknowns“ (klassisch z.B. das Phänomen der Entscheidungsschlacht) und der insbesondere für moderne Gesellschaften charakteristischen Gruppe der „unknown unknowns“ (z.B. das Auftreten bisher völlig unbekannter Seuchen) unterschieden. Während für die Gruppe der „known unknowns“ sich auf der Basis von Erfahrungswissen noch Erwartungen bilden ließen, wäre für den zweiten Typus das Grenzphänomen vollständiger Erwartungsungewissheit signifikant.

Die Beiträge des Sammelbandes lassen sich drei inhaltlichen Schwerpunkten zuordnen. In einem ersten Schwerpunkt wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung dem Phänomen der Kontingenz in den wissenschaftlichen Disziplinen zukommt. Während Doris Gerber aus einer geschichtstheoretischen Perspektive zu begründen sucht, dass „Möglichkeiten“ und „offene Zukunft“ konstitutiv für jede Geschichte wären, fallen die Urteile für die Soziologie (Wolfgang Knöbl) und die Geschichtswissenschaft (Uwe Walter) skeptisch aus: Der soziologische Umgang mit Unbestimmtheit sei lange Zeit durch „Strategien der Verdeckung“ (S. 121) bestimmt gewesen und historische Großparadigmen, wie z.B. die Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, hätten die Haltung kultiviert, das „Unwägbare in das Korsett der Erklärung oder erzählerischen Anverwandlung zu zwingen“ (S. 96). Erst in den letzten Jahren habe die „Denkfigur des Kontingenten“ (S. 128) für die sozial- und geschichtswissenschaftlichen Debatten an Bedeutung gewonnen.

In einer zweiten Darstellungsreihe werden – durchaus disparat – Beispiele für moderne Kontingenzkulturen in den Blick der Leser gerückt. Dies geschieht im Kontext einer Theorie der modernen Gesellschaft anhand des Umbruchs von modernen zu postmodernen Zeit- und Zukunftskonzepten (Andreas Reckwitz). Ferner werden für das 20. Jahrhundert unterschiedliche historische Zukunftsvorstellungen und die Möglichkeiten einer historischen Zukunftsforschung skizziert (Lucian Hölscher) sowie mit dem Forschungskonzept des „social engineering“ eine „Ordnungstechnik“ zur Bewältigung von Kontingenz und Ambivalenz vorgestellt (Thomas Etzemüller).

Vormoderne Kontingenzkulturen werden abschließend an politischen und ökonomischen Praxisbeispielen veranschaulicht. So wird die prognostische Apokalyptik des Dietrich Graminaeus als ein politischer Versuch gedeutet, die „katholische Reformation mit Zukunftsprognosen zu beflügeln“ (Ralf-Peter Fuchs, S. 222). Beispiele für vormodernes Kontingenzmanagement sind die Versicherung von Risiken auf Prämienbasis zur Ausschaltung von Kontingenzeffekten im mediterranen Seehandel des Hoch- und Spätmittelalters (Benjamin Scheller) sowie als Form eines operativen Nichtwissens die Entwicklung von Notationstechniken als einer spezifischen Form des Umgangs mit Kontingenz im Bereich der frühneuzeitlichen Mittelmeerimperien Frankreichs und Englands (Cornel Zwierlein). Der Beitrag Herfried Münklers schließlich diskutiert Modelle der „Verknüpfung von Sicherheit und Risiko“ (S. 161), die er anhand von fünf historischen Konstellationen epochenübergreifend zu exemplifizieren sucht.

Die Einzelbeiträge, so ist abschließend zu resümieren, liefern interessante und häufig anschauliche Einblicke in die historisch-kulturelle Vielfalt des menschlichen Umgangs mit kontingenten Ereignissen. Hierin liegt sicherlich eine Stärke des Sammelbandes. Im Hinblick auf die konzeptionelle Geschlossenheit des Bandes ist zu beobachten, dass der Begriff der Kontingenz für die Autoren primär als „Dachparadigma“ (Walter, S. 96) heuristisch wirksam wird. Dies hat die argumentative Geschlossenheit der Textgesamtheit trotz der inhaltlichen Disparatheit der behandelten Gegenstände letztlich gestärkt.

Die Herausgeber stellen es als komplexe Forschungsaufgabe heraus, moderne und vormoderne Kontingenzkulturen zu beschreiben und zu analysieren, sodann die erarbeiteten Kontingenzgeschichten zu ordnen sowie Zäsuren und Kontinuitäten solcher Geschichten zu bestimmen (S. 20). Im Hinblick auf die Beschreibung und Analyse einzelner Kontingenzphänomene darf von einem empirisch respektablen Forschungsertrag gesprochen werden. Die in Aussicht genommene Ordnung der herausgearbeiteten Kontingenzgeschichten bleibt hingegen tatsächlich noch eine „Aufgabe künftiger Forschung“ (S. 20). In diesem Zusammenhang wäre es allerdings zu wünschen gewesen, wenn das von Scheller in der Einleitung des Sammelbandes methodisch exponierte, typologisierende Verfahren in den Einzelbeiträgen stringenter genutzt worden wäre. Der Sammelband hätte damit sicherlich an begrifflicher Kohärenz gewonnen.

Anmerkungen:
1 Christopher Clark, Die Schlafwandler, Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013, S. 20.
2 Vgl. Peter Vogt, Kontingenz und Zufall, Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011; Arndt Hoffmann, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie, Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 2005; zur verwendeten Begrifflichkeit vgl. Max Weber, Kritische Studien auf dem Gebiet der kulturwissenschaftlichen Logik, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 219f. u. S. 286f. Weber unterscheidet zwischen dem erfahrungswissenschaftlich relevanten, „kausalen Begriff des (relativen) Zufalls“, dem „teleologischen Begriff des Zufälligen“ und der alltagsweltlich bedeutsamen Vorstellung des „absoluten Zufalls“ im metaphysischen oder erkenntnistheoretischen Sinn. Die von ihm unterschiedenen Zufallsbegriffe sind den logischen Unterscheidungen von „adäquat/zufällig“, „wichtig/unwichtig“ sowie „notwendig/ursachelos“ zugeordnet.
3 Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft, Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt am Main 1989, S. 175 und S. 374.
4 Peter Vogt, Kontingenz und Zufall in der Geschichte – Eine Auseinandersetzung mit Reinhart Kosellecks Deutung der Sattelzeit, in: Hans Joas / Peter Vogt (Hrsg.), Begriffene Geschichte, Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt am Main 2011, S. 528.

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