A. Tanner: Die Mathematisierung des Lebens

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Titel
Die Mathematisierung des Lebens. Alfred James Lotka und der energetische Holismus im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Tanner, Ariane
Reihe
Historische Wissensforschung 8
Erschienen
Tübingen 2017: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
IX, 318 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mitchell Ash, Institut für Geschichte, Universität Wien

In dieser Arbeit greift Ariane Tanner einen außerhalb bestimmter Insiderkreise bislang kaum beachteten, aber wichtigen Denker auf und ortet ihn wissenschaftshistorisch neu ein. Alfred Lotka ist bekannt für die nach ihm mit benannten Lotka-Volterra-Gleichungen, in denen das sich wandelnden Verhältnis der Zu- oder Abnahme einer Raubtier-Population zur Ab- oder Zunahme der mit dieser zusammenlebenden Beute-Population mittels Differenzialgleichungen bestimmt wird. Trotz der damals recht dünnen empirischen Basis dieser Gleichungen gelten sie heute als Pioniertaten einer mathematischen Biologie. Wie in der vorliegenden Arbeit, die aus einer an der Eidgenössischen Technische Hochschule Zürich 2014 approbierten Dissertation hervorgegangen ist, gezeigt wird, waren die Ambitionen Lotkas aber weitaus höher gesteckt. Es ging ihm um nichts weniger als den Nachweis mathematisch bestimmbarer allgemeiner energetischer Gesetzmäßigkeiten jenseits der vermeintlichen Grenze zwischen der lebendigen und der toten Natur. Damit verortet ihn Tanner nicht als Vordenker der Systemtheorie, sondern als Anhänger der Energetik seines zeitweiligen Lehrers Wilhelm Ostwald. Zudem zeigt sie, dass Lotka zwar zu Lebzeiten als bedeutender Bevölkerungsstatistiker und Versicherungsmathematiker eine gewisse Bedeutung erlangte (und als Präsident der Population Society of America amtieren durfte), dessen Hauptwerk „Physical Biology“ (1925) aber erst nach seinem Tode 1949 im Kontext der Systemtheorie und Systemökologie rezipiert wurde.

Tanner gibt sich Mühe, klarzustellen, dass sie keine Biographie Lotkas vorlegen will oder kann, zumal dessen Nachlass dafür zu lückenhaft sei. Gleichwohl kommt sie nicht umhin, Lotkas bemerkenswerten, alles andere als linearen Lebenslauf am Anfang zu skizzieren. Wissenschaftshistorisch interessanter wird es im zweiten Kapitel, in dem es um die Energetik Ostwalds und die Thermodynamik Ludwig Boltzmanns geht, bei denen Lotka immerhin zwei Semester in Leipzig studierte; allerdings wird die Relevanz dieser Denker für Lotka erst relativ spät verdeutlicht. Sein erst Jahrzehnte später in den USA publiziertes Hauptwerk scheint eine Art Ausarbeitung der Implikationen eines bereits 1912 erarbeiteten und Ostwald vorgelegten, von ihm allerdings skeptisch aufgenommenen Manuskripts gewesen zu sein. Tanner arbeitet Lotkas frühe Versuche, in den USA zunächst als Wissenschaftsjournalist (bei „Popular Science Monthly“) und dann als Fellow bei Raymond Pearl an der Johns Hopkins University Fuß zu fassen, bevor er in der Versicherungsbranche unterkam, anhand seines Briefwechsels und anderer Quellen sehr gut heraus. Pearl scheint von Lotka anfangs sehr viel gehalten zu haben, seine Rezension des Hauptwerks deutet aber auf eine gewisse Distanzierung hin. Die Eigensinnigkeit Lotkas und seine wohl überzogenen Hoffnungen auf den Ruhm, der ihm durch dieses Werk gebühren sollte, werden anhand seines Briefwechsels mit dem Verleger des Hauptwerks und seinen Versuchen, dessen Rezeption eigenhändig zu steuern, verdeutlicht.

Nach diesen Vorarbeiten kommt Tanner im dritten Kapitel zum Programm des „Elements of Physical Biology“. Was die „Mathematisierung des Lebens“ hier eigentlich heißt, wird zunächst weniger deutlich herausgearbeitet als die allgemein theoretische Ausrichtung des Buches im Sinne einer nach energetischen Gesetzmäßigkeiten geregelten Welt; diese ganzheitliche Sicht scheint mit dem Terminus „energetischer Holismus“ gemeint zu sein. Auf die mathematischen Praktiken, anhand derer von einer Mathematisierung des Lebens überhaupt erst die Rede sein kann, kommt Tanner dann im folgenden Kapitel zu sprechen, in dem sie den ebenfalls 1926 in der Zeitschrift „Nature“ erschienenen Aufsatz des Mathematikers Vito Volterra behandelt, der dieselben Gleichungen darstellt, ohne die Arbeit Lotkas zu nennen, weshalb diese später unter beider Namen bekannt wurden. Der Unterschied dieser auf Differenzialgleichungen beruhenden Erfassung von dynamischen Wandlungen im Verlauf der Zeit zur biometrischen Statistik sowie zur Bevölkerungsstatistik wird hier klar herausgearbeitet. Daran anschließend bespricht Tanner die ungleichen Verhandlungen zwischen den beiden Forschern zur Prioritätenfrage anhand ihres Briefwechsels. Hier wird klassische Sozialgeschichte der Ideen zum Besten gegeben. Während der „marginal man“ Lotka verwegen darauf hofft, mit Volterra einen Verbündeten im Kampf um eine allgemeine mathematische Wissenschaft der Natur zu gewinnen, verbleibt der um eine Generation älterer, bereits seit Jahrzehnten international anerkannte Mathematiker bei der von ihm intendierten Anwendung auf die Fischerei. Seinem Cousin Umberto D‘Ancona überlässt er es, den „Kampf ums Dasein“ mithilfe dieser und weiterer Gleichungen mathematisch zu erfassen.

Im fünften Kapitel bespricht Tanner schlüssig die späte, überaus selektive Rezeptionsgeschichte des Ansatzes von Lotka sowie der Gleichungen von ihm und Volterra im Kontext der Systemtheorie und Systemökologie. Zu Recht wird hier unter anderem auch der Allgemeinen Systemtheorie Ludwig von Bertalanffys breiten Raum gegeben, zumal von Bertalanffy Lotka neben dem Gestalttheoretiker Wolfgang Köhler als Vorläufer seines eigenen Ansatzes kurz erwähnt hat. Leider werden die frühen Schriften von Bertalanffys, darunter die beiden Bände seiner „Theoretische Biologie“, mit keinem Wort erwähnt, obwohl von Bertalanffy bereits dort den Begriff des Fließgleichgewichts prägte und weitaus mathematischer gearbeitet hat, als in den hier zitierten späteren Schriften. Erst gegen Ende des betreffenden Abschnitts stellt Tanner klar, dass von Bertalanffy Lotkas Werk schon 1939 kannte und die darin enthaltene Mathematik rezipierte. Ein Blick auf die konkreten mathematischen Praktiken von Bertalanffys in den 1930er- und 1940er-Jahren wäre in diesem Zusammenhang sicherlich geboten gewesen, um die wohl richtige These zu stärken, dass es sich um parallele Entwicklungen handelte. Erst in der Systemökologie Howard Odums kamen nach Tanner die Rezeption der Lotka-Volterra-Gleichungen und der energetische Holismus im neuen Format wieder „zur Deckung“ (S. 254), wobei die Grundlagen der Systemökologie durch Arthur Tansley und Raymond Lindemann bereits vor 1945 und ohne Verweis auf Lotka geschaffen wurden. Auch hier dokumentiert Tanner eine selektive Aufnahme; dass diese zuweilen kontrovers verlief, zeigt die Debatte unter Systemökologen darüber, ob Lotka ein viertes Gesetz der Thermodynamik geschaffen habe. Abschließend fasst Tanner das Ergebnis dieser Rezeptionsgeschichte treffend zusammen: „Mit der physikalischen Biologie fand keine Biologisierung der Gesellschaft, aber eine Physikalisierung der Lebenswelt statt“ (S. 270).

In ihrem Schlusskapitel ordnet Tanner selbst ihre Arbeit als eine „Geschichte des langen Abschieds vom thermodynamischen Zeitalter hin zu einer Epoche der Dynamiken und Komplexitäten“ (S. 276) sowie als einen „Beitrag zur Historisierung des Systembegriffs im 20. Jahrhundert“ (S. 278), breiter gefasst als einen Beitrag zu einer transdisziplinär gedachten Wissens- und Wissenschaftsgeschichte ein. Dem ist zuzustimmen. Damit tritt allerdings die Mathematisierung, von der im Titel des Buches die Rede ist, in den Hintergrund und im Schlusskapitel ist tatsächlich nicht mehr davon die Rede. Gerade weil diese Arbeit nicht vor sperrigen mathematischen Gleichungen strotzt, ist ihr zu wünschen, dass sie als gelungene Begriffsgeschichte auch jenseits von wissenschaftshistorischen Kreisen, beispielsweise in der Umweltgeschichte, eine Leserschaft findet.

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