Autofreie Sonntage, von Menschen bevölkerte Autobahnen oder lange Schlangen vor Tankstellen gehören wohl zu den Bildern, die typischerweise mit der „Ölkrise“ von 1973 verbunden werden. Darüber hinaus stellt sich schnell das propagierte Bild der Verwundbarkeit der westlichen Welt ein, aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Öl der arabischen Staaten. Zeitgenossen nahmen den Einsatz der „Ölwaffe” und die Drohung mit der „schwarzen Liste” durch die 1960 gegründete Organisation der ölexportierenden Länder (OPEC) als essentielle Gefahr für den Westen wahr. Sowohl die heutige Deutung als auch das Wissen über den Ölpreisschock von 1973 bedarf fortwährend einer Revision, wie schon der Verweis auf die stereotypen Bilder zeigt. Die miteinander verschränkten Prozesse von 1973 – einerseits die Vervierfachung des Ölpreises innerhalb weniger Monate und andererseits das verhängte Ölembargo der arabischen Mitglieder der OPEC als Reaktion auf die Politik der westlichen Länder im Nahen Osten während des Yom-Kippur-Krieges – wurden lange Zeit von der Geschichtswissenschaft aus einer verengten Perspektive betrachtet.1
Vor diesem Hintergrund entfalten sich auch die Leitfragen und Absichten des vorliegenden Sammelbandes von Elisabetta Bini, Guilano Garavini und Federico Romero. Die Herausgeber hinterfragen erneut die Wahrnehmung und die Deutung des „Ölschocks“ von 1973. Zentral ist dabei, ob die Wahrnehmung als Krise beziehungsweise Wendepunkt überhaupt zutrifft, welche alternative Deutungsangebote sich über einen multidimensionalen, historiographischen Ansatz ergeben, und inwiefern vorhandene Deutungen korrigiert, wenn nicht sogar negiert werden müssen. Als vertiefende Leitfrage, welche die globale Dimension des Problemfeldes berücksichtigt, geht es ihnen auch darum, inwiefern der Ölpreisschock mit dem Prozess der Globalisierung in Zusammenhang steht respektive sich beide beeinflussten. Dabei greifen die Herausgeber auf die Annahme zurück, dass Öl und damit auch die Ölkrise von 1973 erhebliche Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen sowie die globale Wirtschaft hatte und zugleich einen Großteil der Menschheit direkt beeinflusste. Somit stellt die Publikation einen Versuch dar, den Ölpreisschocks von 1973 im globalen Kontext und gleichzeitig in einer umfassenderen Perspektive neu zu verorten.
Die zehn Artikel der Buchs sind auf zwei Teile aufgeteilt, welche einerseits die Ursprünge und andererseits die Konsequenzen des Ölpreisschocks ergründen wollen, wobei diese Struktur nur bedingt eingehalten wird. Die einzelnen Autoren widmen sich dabei sehr unterschiedlichen Aspekten und eröffnen über den Rückgriff auf politik-, wirtschafts-, sozial- sowie umwelt- und konsumgeschichtliche Ansätze teilweise neue Erkenntnisse auf diversen Forschungsfeldern.
Zwei Beiträge des Sammelbandes, welche die symbolische und kulturelle Dimension des Schocks abdecken, konzentrieren sich auf den Wandel von Konsummustern und die Entstehung des Umweltbewusstseins in der westlichen Welt. Brian C. Black beschäftigt sich mit dem Bruch, den die amerikanische Konsumkultur durch den Ölpreisschock erfuhr und fragt nach den Implikationen, welche die gefühlte Ölknappheit auf den amerikanischen Lebensstil hatte. Die größte Veränderung sieht er im Entstehen des „green capitalism”, welcher das bis dato propagierte Entwicklungsmodell herausforderte und zu einer alternativen Leitidee für die folgenden Jahrzehnte wurde. Die Energiekrise, welche dieses Denken beförderte, war ebenso für die Debatten über die Intensivierung der Atomenergie richtungweisend, wie Martin V. Melosi für die USA beispielhaft nachweist. Paradoxerweise führte sie zwar zu Diskussionen über den Ausbau dieser Branche, jedoch beeinträchtigten die entstehenden finanziellen Lasten die Umsetzung von Projekten. Umweltschutzrichtlinien, welche auch die Kernenergie betrafen, erfuhren im Angesicht des Ölpreisschocks eine Verwässerung, wie sich am Beispiel der Erdölförderung zeigen lässt. Die Förderung in Alaska sowie vor der Küste der USA wurde bereits seit 1973 im Rahmen des „Project Independence“ massiv von der US-Regierung auch gegen den Widerstand von Umweltschutzgruppen gefördert und finanziert, wie Tyler Priest aufzeigt. Der Ölpreisschock wirkte dabei insbesondere auch auf die Fördertechnologie als Katalysator.
Der Großteil der Beiträge widmet sich der politischen und wirtschaftlichen Dimension des Schocks im Kontext des Kalten Krieges und des Nord-Süd-Konfliktes. Christopher R.W. Dietrich betont die Relevanz des „oil nationalism” in der arabischen Welt und zeigt auf, wie sehr die US-Regierung, in persona Henry Kissinger, dieses in Entstehung begriffene Konfliktfeld zwischen Produzenten und Konsumenten unterschätzte. Negative Effekte für die Konsumenten entstanden vor allem durch die Umstrukturierungen des internationalen Ölgeschäfts, die bereits in den 1960er-Jahren begannen. Philippe Tristani und Francesco Petrini erkunden in ihren Beiträgen die Veränderungen zwischen den nationalen Eliten und den multinationalen Ölfirmen. Petrini zeigt mit Blick auf die Verhandlungen zwischen der OPEC und den Ölmultis, dass die Erhöhung der Ölpreise im Vorfeld der Ereignisse von 1973, vor allem zum Vorteil der Firmen ausging. Solange sie die Versorgung sicherstellten, konnten sie entstehende Mehrkosten ohne große Probleme auf die Endkunden umlegen. Verstaatlichungen im Rahmen des Dekolonisationsprozesses wie sie im Irak stattfanden (vgl. Tristani), veränderten das Machtgefüge zwischen beiden Parteien nachhaltig und beförderten auch das ideologische Konzept Dritte Welt. So bedeutete das Ende des Jahrzehnte währenden Konzessionssystems, dem sich Bernard Mommer in seinem Beitrag widmet, zumindest für einen Teil der Länder des globalen Südens die Souveränität über ihre Ressourcen und einen erhöhten Grad wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Zugleich entstand aber eine unbekannte Instabilität, die diverse Auswirkungen für die existierende Weltordnung hatte.
So entstanden nicht nur neue Formen der Kooperation in der westlichen Welt, wie Marloes Beers für den Energiesektor im Rahmen der OECD nachweist2, sondern es fand auch ein intensiver Austausch auf der wirtschaftlichen Ebene zwischen den Blöcken und über diese hinaus statt. Die Studie von Oscar Sanchez-Sibony rückt die Etablierung von Austauschverträgen der Sowjetunion sowohl mit westlichen als auch mit Ländern des globalen Südens in den Mittelpunkt. Die multipolare Weltordnung bot zum einen die Möglichkeit der Kooperation über die Grenzen einer bipolaren Welt hinaus. Zum anderen wurde die Sowjetunion zugleich in das westliche Finanzsystem integriert, was laut dem Autor nachhaltige Effekte hinsichtlich des Zusammenbruchs des Ostblocks mit sich brachte.
Neben der Integration der sozialistischen Länder sahen sich die internationalen Finanzinstitutionen auch der Herausforderung gegenüber, neue Instrumente für das sogenannte „Petrodollar-Recycling”, die internationale Verwertung der Überschüsse der Erdölindustrie, zu entwerfen. William Glenn Gray schildert in seinem Beitrag umfassend, welche Lösungen diverse internationale Akteure (u.a. IWF, OECD, EG) dafür entwarfen. Mit Verweis auf die Bundesrepublik Deutschland und die USA führt Gray zwei Beispiele an, wie sich eine Politik der freien Wechselkurse verbunden mit geringen Kapitalkontrollen durchsetzte und die Grundlagen für die Herausbildung des internationalen Finanzmarktkapitalismus geschaffen wurden. Hier knüpft das Buch an zeitgenössische Studien an, die sich mit der Etablierung des „Washington Consensus“ beschäftigen. Öl, so eine übergreifende These der Publikation, war für diesen Prozess von besonderer Bedeutung und sollte als relevanter Faktor in einer Geschichte des „Neoliberalismus“ Beachtung finden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Sammelband das eindimensionale Bild des „Ölpreisschocks“ um verschiedene Perspektiven erweitert. Das gelingt vor allem, da alle Beiträge sich weniger auf der Ereignisebene, sondern verstärkt auf strukturelle Veränderungen in diversen Bereichen fokussieren und dabei die Elemente des Schocks beziehungsweise der Krise letztlich abwerten. Er eröffnet darüber hinaus Einblicke in die Welt des Öls, die insbesondere für Nicht-Spezialisten bereichernd sind und eine bessere Einordnung der Ereignisse von 1973 in vorhandene Narrative des Kalten Krieges sowie des Nord-Süd-Konfliktes erlauben. Der Zugriff der meisten Artikel bleibt aber insofern verengt, dass immer noch westliche Akteure im Mittelpunkt stehen, die Auswirkungen des Ölpreisschocks nur in den westlichen Gesellschaften untersucht werden und andere Entwicklungen im Bereich der Wirtschaft oder auch die (zweite) Ölpreiskrise von 1979 außen vor bleiben. Da dies aber nicht der Anspruch der Publikation ist, ist es schwierig daraus einen wirklichen Kritikpunkt zu entwickeln, sondern diese Defizite eher als Anreiz für vertiefende Forschungen zu erachten.
Anmerkungen:
1 Neuere Studien sehen den Ölpreisschock als Faktor an, der zu den mannigfaltigen Veränderungen, welche die 1970er-Jahre kennzeichnen, beitrug und zudem von allen beteiligten Akteuren instrumentalisiert wurde. Vgl. u.a. Rüdiger Graf, Öl und Souveränität. Petroknowledge und Energiepolitik in den USA und Westeuropa in den 1970er Jahren, Berlin 2014.
2 Vgl. Enrico Böhm, Die Sicherheit des Westens. Entstehung und Funktion der G7-Gipfel (1975–1981), München 2013.