Am 6. Mai dieses Jahres jährte sich die Geburt Sigmund Freuds im mährischen Freiberg zum 160. Mal. Die von ihm begründete Psychoanalyse war weit mehr als eine therapeutische Methode, die in der Wiener Berggasse bei der Behandlung neurotischer Patienten Anwendung fand. Als sie Mitte des 20. Jahrhunderts den Zenit ihres Einflusses erreichte, war die Psychoanalyse zentraler Bestandteil „westlichen Denkens“. Sie prägte das Verständnis psychischer Krankheit, inspirierte Ärzte, Psychologen, Schriftsteller, Filmemacher und politische Denker gleichermaßen und versprach nicht weniger als die tiefenpsychologische Entschlüsselung von Kultur, Gesellschaft und des „Selbst“.
Heute scheint Freuds Erbe jedoch in Gefahr zu sein. Die Dominanz der Psychoanalyse in der Psychotherapie und der (US-amerikanischen) Psychiatrie ist längst gebrochen, und vorbei sind auch die Zeiten, in denen Freuds Ideen unverzichtbarer Bestandteil des Theorierepertoires linker Intellektueller waren. Aus unterschiedlichen Lagern sind psychoanalytische Ideen und Methoden als unwissenschaftlich, ineffizient, misogyn oder schlichtweg obsolet abgetan worden. Sind wir immer noch Zeitgenossen Freuds oder ist sein Werk im 21. Jahrhundert nur noch von antiquarischem Interesse? Die Antwort des Historikers Eli Zaretsky (New School, New York City) fällt zwiespältig aus. Über die gegenwärtige Lage der Psychoanalyse macht sich Zaretsky keine Illusionen; zugleich ist sein jüngstes Buch „Political Freud“ aber auch ein persönliches und leidenschaftliches Plädoyer für die andauernde Aktualität und Relevanz von Freuds Psychoanalyse.
Der titelgebende „politische Freud“ ist doppeldeutig: Es geht Zaretsky einerseits darum, die reiche Geschichte psychoanalytischer Deutungen von Politik und Gesellschaft und deren Verbindung zu linken und heterodox-marxistischen Bewegungen nachzuzeichnen, andererseits soll auch die Psychoanalyse selbst im historischen und politischen Kontext ihrer Entstehungszeit verortet werden. In beiden Perspektiven ist die Psychoanalyse zugleich Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsmethode, wird also gleichsam auf sich selbst angewendet. Die Argumentation wird dabei zwar nie zirkulär, eine gewisse Verwischung von Gegenstand und Methode bringt dieser Ansatz aber dennoch mit sich. Der prägende, jedoch oft verschüttete Einfluss der Psychoanalyse auf bis heute nachhallenden Bewegungen und Ideen, ebenso wie ihre Anwendbarkeit auf historische und aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen und Phänomene werden von Zaretsky als Belege für ihre Aktualität herangezogen. Wesentlicher für die Perspektive des Buches ist jedoch, dass Zaretsky entschlossen ist, die Psychoanalyse als politisches Projekt nicht aufzugeben. Der Tenor des Bandes ließe sich also zugespitzt so formulieren: Freud kann nicht tot sein, denn wir brauchen ihn noch.
Das Politische der Psychoanalyse ist nichts, was von ihrer allgemeinen Geschichte isoliert werden könnte; die Psychoanalyse war stets auch politisches Projekt. Dabei geht Zaretsky über die alte These vom Privaten, das politisch sei, weit hinaus. Die Psychoanalyse, so Zaretsky, sei von Anfang an eine unsichere Synthese dreier Projekte gewesen: einer medizinischen Therapie, eines weltanschaulichen Systems und einer ethischen Alltagspraxis (S. 185). Die Entstehung und der Erfolg der Psychoanalyse könne nur aus ihrem historischen Kontext heraus verstanden werden, aus den aufeinanderfolgenden politischen Krisen im Europa des frühen 20. Jahrhunderts und der gleichzeitigen Entstehung einer Konsumgesellschaft und ihrer Medien. Und so, wie der Aufstieg der Psychoanalyse an bestimmte historische Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gekoppelt war, fiel auch ihr Niedergang mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationen seit den 1960er-Jahren zusammen. Zaretsky spannt den Bogen von behavioristischen Perspektiven auf die Psyche über die Kybernetik bis hin zu postmodernen identity politics. Seine Fähigkeit, die Geschichte der Psychoanalyse auf oft überraschende und fruchtbare Weise im weiteren Kontexten zu platzieren, gehört sicherlich zu den Stärken von Zaretskys Werk; mit seiner Tendenz zur schwungvollen Verallgemeinerung schießt er bisweilen jedoch auch über das Ziel hinaus.
Die Geschichte vom Aufstieg und Fall der Psychoanalyse als Form politischen Denkens erzählt Zaretsky in fünf Kapiteln. Diese können auch als relativ eigenständige Essays gelesen werden und sollen hier nur sehr knapp mit Blick auf die jeweils zentralen Thesen vorgestellt werden. Das erste Kapitel „Psychoanalysis and the Spirit of Capitalism“ geht von Carl Schorskes Freud-Lektüre in „Fin-de-siècle Vienna“ (1980) aus.1 Schorske habe Freuds politisches Denken zurecht in der Übergangszeit zwischen dem Niedergang des klassischen Liberalismus und dem Aufstieg von Massenpolitik und Massenkultur verortet; der Erfolg der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert sei jedoch nicht nur vor dem Hintergrund politischer, sondern auch ökonomischer Transformationen zu verstehen. Zaretsky liest die Geschichte der Psychoanalyse mit Max Webers „Protestantischer Ethik“2 und argumentiert, dass das, was für den frühen Kapitalismus und die erste industrielle Revolution der Calvinismus war, für die zweite industrielle Revolution die Psychoanalyse gewesen sei: ein Denksystem, das den Zeitgenossen die Möglichkeit gegeben habe, einer umfassenden sozialen Umwälzung einen persönlichen Sinn zu verleihen. Der einsetzende Niedergang der Psychoanalyse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts falle entsprechend mit dem Aufstieg des postfordistischen Wirtschaftsmodells zusammen.
Die Aneignungen der Psychoanalyse durch afro-amerikanische Intellektuelle im 20. Jahrhundert sind Gegenstand des zweiten Kapitels „Beyond the Blues“. Dabei unterscheidet Zaretsky zwischen drei Schlüsselmomenten: der Harlem Renaissance der 1920er-Jahre, der Popular Front der 1930er-und 1940er-Jahre und der postkolonialen Phase nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dass es Zaretsky hier durchaus elegant gelingt, Freud, Hegel und Robert Johnson parallel zu lesen und die Stationen seines Narrativ als aufeinanderfolgende Phasen einer Emanzipationsgeschichte von der Resignation des Blues zum politischen Kampf zu erzählen, zeigt die beträchtlichen theoretischen Ambitionen des Bandes, ebenso wie seine Aktualität und seinen intellektuellen Reiz.
Sigmund Freud selbst gerät erst im dritten Kapitel in den Fokus, das Freuds „Der Mann Moses“ im politischen Kontext seiner Entstehung am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und der Shoah diskutiert.3 Wie Zaretsky durchaus treffend argumentiert, lässt sich Freuds „Moses“ auf zwei komplementäre Weisen lesen: Es handelt sich zugleich um eine psychoanalytische Geschichte jüdischer Identität und um eine Geschichte der psychoanalytischen Bewegung und verschlüsselte Autobiographie Freuds.
Im vierten Kapitel geht Zaretsky den Auswirkungen der Kriegserfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts auf die psychoanalytische Theoriebildung nach. Die erste Begegnung von Krieg und Psychoanalyse fand während und nach dem Ersten Weltkrieg statt, als das massenhafte Auftreten so genannter „Kriegsneurosen“ den Begriff des Traumas zum zentralen Begriff der psychoanalytischen Theorie des Ich machte. Mit dem Zweiten Weltkrieg sei der Aufstieg der Objektbeziehungstheorie einhergegangen, die zugleich auch den Weg für die spätere Verschiebung des Fokus der Psychoanalyse vom „Ich“ zum „Selbst“ bereitet habe. Als charakteristisches Beispiel für diese Verschiebung führt Zaretsky im dritten Teil des Kapitels, der sich mit dem „War on Terror“ befasst, Judith Butlers psychoanalytisch inspirierte Arbeit „Precarious Life“ (2004) an.4
Die entscheidenden Transformationen in der US-amerikanischen Rezeption der Psychoanalyse verortet Zaretsky in den langen 1960er-Jahren. Auch das fünfte und letzte Kapitel gliedert sich in drei zeitlich aufeinander folgende Phasen: Während die Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs von einer liberalen Freud-Rezeption geprägt gewesen sei, die die Psychoanalyse und Freuds Begriff des „Ich“ zum Ausgangspunkt einer „Ethik der Reife“ (maturity ethic) gemacht habe. Für die Neue Linke der 1960er-Jahre sei Freud damit zu einer ambivalenten Figur geworden – Zaretsky spricht von „zwei Freuds“: dem apolitischen Freud der maturity ethic, Triebkontrolle und Mittelschichtsfamilie und dem „politischen Freud“ als Theoretiker der unterdrückten Begierden, der Utopien und des Surrealismus. In den 1970er-Jahren hätten feministische Theoretikerinnen diese Kritik der Psychoanalyse fortgesetzt. In ihrer pauschalen Ablehnung Freuds hätten Feministinnen jedoch das progressive Potential des „politischen Freud“ vernachlässigt und seien, so deutet Zaretsky an, damit auch zu Wegbereiterinnen eines neoliberalen Angriffs auf die Psychoanalyse geworden.
Angesichts der theoretischen Dichte und thematischen Breite des Bandes fällt es nicht leicht, zu einem bündigen Fazit zu gelangen. Pointierten Thesen, überraschenden Querverbindungen und einer klaren, äußerst kenntnisreichen Darstellung stehen bisweilen etwas grobe Verallgemeinerungen, argumentative Sprünge und Polemiken gegenüber. Wer sich eine umfassendere Geschichte der Psychoanalyse im sozialen und politischen Kontext erhofft hat, wird vielleicht etwas enttäuscht; hier sei jedoch Zaretskys „Secrets of the Soul“ (2004) empfohlen.5 In „Political Freud“ zeigt sich Zaretsky nicht nur als Historiker der Psychoanalyse, sondern auch als linker public intellectual und leidenschaftlicher Verteidiger der Psychoanalyse als progressivem politischem Projekt. „Political Freud“ ist also gleichzeitig ein Streifzug durch die politische Geschichte der Psychoanalyse sowie eine originelle und engagierte Streitschrift – lesenswert ist das Buch in jeder Hinsicht.
Anmerkungen:
1 Carl Schorske, Fin-de-siècle Vienna. Politics and Culture, New York 1980.
2 Max Weber, Die protestantische Ethik, und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1934 (zuerst 1904/05).
3 Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Drei Abhandlungen, Amsterdam 1939.
4 Judith Butler, Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London 2004.
5 Eli Zaretsky, Secrets of the Soul. A Social and Cultural History of Psychoanalysis, New York 2004. Deutsch: Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse, Wien 2006.