Als Pater Roberto Busa 2011 im Alter von 97 Jahren starb, wurde er als Pionier gefeiert. Die einen würdigten ihn für seine Verdienste auf dem Gebiet der Digital Humanities,1 die anderen sahen in ihm den Vater des Internet, weil er eine Methode entwickelt hatte, „um Wörter zu verbinden und zu sortieren“.2 Busa hatte während der Arbeit an seiner Dissertation damit begonnen, einen kompletten Index für das Werk von Thomas von Aquin zu erstellen. Der Index erschien 1970 als 56-bändiges Werk und ist inzwischen auch online abrufbar.3 Seit den späten 1940er-Jahren nutzte Busa Computer für die Analyse von Text und Sprache, seine Projekte gelten in den Digital Humanities als originell und einflussreich.4 Steven E. Jones, Professor für Digital Humanities an der Universität von South Florida, untersucht nun in seiner 2016 erschienen Studie Busas frühes Wirken im Bereich des Humanities Computing. Das vom Autor ausgewertete historische Quellenmaterial, vor allem die Korrespondenz Busas, zeugt von einer in der Tat sehr frühen und intensiven Zusammenarbeit zwischen dem italienischen Jesuitenpater und dem US-amerikanischen Computerhersteller IBM.
Jones betont, dass der Beginn der Kooperation zwischen Busa und IBM auf ein historisch interessantes Zeitfenster datiert, in dem IBM sich selbst noch nicht als Hersteller von elektronischen Computern, sondern als Anbieter von Geräten zur Datenverarbeitung und Buchhaltung sah. Er gibt sich hingegen durchwegs vorsichtig, was Busas Pionierleistungen auf dem Gebiet der Digital Humanities betrifft, und weist darauf hin, dass sich letztere auf diverse Traditionslinien zurückführen lassen. Charakteristisch für die Form der Studie ist, dass der Autor seine Forschung als Beitrag zu aktuellen Diskussionen über die Veränderungen, die „der Computer“ in den Geisteswissenschaften mit sich bringt, versteht. Im Lichte von Busas historischem Wirken diskutiert Jones Veränderungen der Geisteswissenschaft seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Jones interessiert, wie die Philologie durch das Erschließen neuer Interpretationsmöglichkeiten und Dimensionen von Texten und Sprache erneuert wurde. Er zeigt am Beispiel Busas außerdem, wie im Aufeinandertreffen von akademischen Geisteswissenschaftlern und geschäftstüchtigen Spezialisten der Informationsverarbeitung die frühen Digital Humanities verhandelt wurden. Schließlich thematisiert Jones, dass Humanwissenschaftler wie Busa in ihren Untersuchungen Experimentalanordnungen der Textinterpretation entwickelten, die der algorithmisierten Datenanalyse ähneln, weil sie sich Forschungsergebnissen in iterativen, also sich wiederholenden und rechnergestützten Analyseschritten annäherten.
Abschließend plädiert Jones dafür, in der Entwicklung eines iterativen Vorgehens zur Textanalyse die eigentliche Bedeutung von Busas wissenschaftlichen Anstrengungen zu verstehen.5 Das letzte Kapitel setzt sich daher besonders anschaulich mit Busas Methodik auseinander. Hier geht Jones näher auf das zweite computergestützte Projekt Busas ein, das den so genannten Schriftrollen vom Toten Meer, den Qumranschriften gewidmet war und in einer Katastrophe endete. Am Beispiel dieses jähen Bruches erfahren die Lesenden, welche Forschungsroutine Busa in den zwei vorangegangenen Jahrzehnten entwickelt hatte. Auf der Autobahn bei Mailand verunglückte im August 1969 ein Lastwagen, der Magnetbänder und Karteikarten mit Eintragungen transportierte. 307 Magnetbänder und geschätzte zwei Millionen Karteikarten verbrannten, sie erreichten ihr Ziel Boulder, Colorado nicht und konnten nicht aufbereitet werden. Busa hat daher nie die Ergebnisse seiner Arbeiten an den Qumranschriften publiziert. In diesem Kapitel erschließt sich den Lesenden, warum Jones' Analyse die Masse und Materialität als Charakteristiken von Busas Forschung betont. Das Aufeinandertreffen der maschinenbasierten Datenverarbeitung mit den textanalytischen Praktiken der Philologie muss man sich als einen nie dagewesenen Exzess vorstellen. Es wurden Karten über Karten beschriftet und gelocht: „because those cards were made, [Busa was] able to experiment with a literary form of data processing, an open-ended, step-wise (algorithmic) and iterative process of dissolving and reconstituting the texts as linguistic data, a process that used both punched cards and magnetic tape to inscribe data in forms that could be rearranged and analyzed in any number of ways.“ (S. 144) Zur Verarbeitung der Karten entstanden mithilfe von IBM Forschungsanlagen, in denen Busa und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit verschiedenen Analysemethoden experimentierten. Wenn man die (gelochten) Karteikarten des Humanwissenschaftlers Busa in den Blick nimmt, so nähert man sich mit Jones also vor allem der Entstehung eines neuartigen Problembewusstseins geisteswissenschaftlicher Disziplinen. „Der Computer“ hilft erstens, Interpretationsangebote zu produzieren, zu visualisieren und zu diskutieren. Zweitens ruft sein Einsatz immer wieder nach Begründungen, die sich nicht im Maschinellen erschöpfen. Die Frage nach dem Sinn und Zweck seiner computergestützten Untersuchung beantwortete Busa, indem er erklärte, was der Computer ihm als Menschen abverlange: er eröffne Forschenden neue Ansätze, nicht weil die Maschine das Denken ersetze, sondern weil er dem Geist ermögliche, sich in Disziplin, Flexibilität und Gestaltung zu üben und weiterzuentwickeln (vgl. zum Beispiel S. 149).
Steven E. Jones' Buch ist ein unterhaltsamer und tiefgründiger Beitrag zu aktuellen Diskussionen in den Geisteswissenschaften. Der Titel legt nahe, dass es sich um eine Biographie handelt. Ist “Roberto Busa, S.J., and the Emergence of Humanities Computing” eine Biographie? Nein und Ja. Nein, weil die einzelnen Kapitel zwar an wichtigen Stationen von Busas Leben als Pionier des Humanity Computing orientiert sind, sich dabei aber niemals auf das Handeln des Protagonisten beschränken. Die Kapitel behandeln Busas Zusammentreffen mit dem CEO von IBM in New York; die erste Demonstration der lochkartenbasierten Analyse zur Erstellung des Index Thomisticus; Busas Begegnung mit dem IBM Large Scale Calculator (SSEC); den Aufbau des Rechenzentrums Centro per L'Automazione dell'Analisi Linguistica e Letteraria (CAAL) in Gallarate; und schließlich das Projekt zur Auswertung der Qumranschriften. Dabei erweist Jones sich als ein Meister des Exkurses: Statt Busa in den Kopf zu schauen, reichert er seine Quellen (vor allem Briefe sowie Vorträge und damit Selbstzeugnisse Busas) durch Hintergrundwissen über die besprochen Orte und Zeiträume an. Oft erfährt man mehr über New York oder Italien in den 1950er-Jahren als über den reise- und schreibfreudigen Busa selbst. Stets lernt man, IBMs notorisch größenwahnsinnige Werbeslogans in historischen Gegebenheiten verankert zu lesen. Andererseits ist das Buch sehr wohl eine Biographie, gerade weil Jones Busa anders sieht als jener sich selbst sah. Busa hat Computer benutzt, um Geist und Gedanken von Autoren zu erkunden („He sought to recover author’s intentions, even their thoughts, as constituting the meanings of their texts“, S. 148). Jones hingegen sieht seinen Protagonisten eine neue Form der Textanalyse erforschen und leben. Will man Jones' Buch als Biographie lesen, so handelt es von Busas weltläufigem, weitschweifigem und letztlich glücklichem Versuch, nicht individuelle, sondern kulturelle Bedeutungen von Texten zu entdecken.
Anmerkungen:
1 Roberto Bonzio, Father Busa, pioneer of computing in humanities with Index Thomisticus, dies at 98, in: Forbes, https://www.forbes.com/sites/robertobonzio/2011/08/11/father-busa-pioneer-of-computing-in-humanities-dies-at-98/#284bf98f445c (05.10.2017).
2 „Hypertext-Pionier“ P. Roberto Busa S.J. verstorben, in: Jesuiten in Österreich, http://www.jesuiten.at/verschiedenes/nachrichten-archiv/details/?tx_ttnews[tt_news]=912 (05.10.2017).
3 Siehe http://www.corpusthomisticum.org (05.10.2017).
4 Geoffrey Rockwell / Bettina Berendt, On Big Data and Text Mining in the Humanities, in: Samira El Atia / Donald Ipperciel / Osmar Zaïane (Hrsg.), Data Mining and Learning Analytics. Applications in Educational Research, Hoboken 2016, S. 29–40.
5 Siehe auch Steven E. Jones, The Emergence of the Digital Humanities, New York 2014.