Cover
Titel
Digital Games as History. How Videogames Represent the Past and Offer Access to Historical Practice


Autor(en)
Chapman, Adam
Reihe
Routledge Advances in Game Studies 7
Erschienen
London 2016: Routledge
Anzahl Seiten
XII, 290 S., 13 SW-Abb.
Preis
£ 85.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Angela Schwarz, Historisches Seminar, Universität Siegen

Erscheinungsformen von Geschichte in populären Formaten und Genres sind seit vielen Jahren ein Thema geschichtswissenschaftlicher Forschung und als wesentliche Ausdrucksweisen der Geschichtskultur anerkannt. Als jüngstes Medium finden seit geraumer Zeit auch Computerspiele oder allgemeiner digitale Spiele Beachtung. Wie in Arbeiten der Literatur- und vor allem der Medienwissenschaft seit der Frühzeit des Mediums stellt sich auch bei der historiographischen Untersuchung der Spiele mit Geschichte die Frage, ob das Augenmerk auf dem ludologischen oder dem narrativen Aspekt liegen, ob das Game Design als rahmengebendes Regelwerk oder die Erzählung und Spielhandlung die Leitlinie bilden soll. Der in Schweden lehrende Historiker und Medienkulturwissenschaftler Adam Chapman hat sich für ersteres entschieden, um grundsätzlichen Fragen der Darstellung von Geschichte in diesem Medium nachzugehen, genauer: um digitale Spiele als historische Form nachzuweisen. Sein zentrales Anliegen besteht darin, den Nutzen der Spiele als „systems for historying“ (S. 22) aufzuzeigen, sie mithin als Instrumente der Repräsentation von Geschichte ebenso sichtbar zu machen wie als Mittel für Geschichte als Praxis. Er betont, digitale Spiele führten die – wie er sie nennt – Entwickler-Historiker und die Spieler-Historiker über das Game Design und die Interaktion mit dem Spiel in einem Vorgang des „doing history“ zusammen. Damit stellt er das Medium ins Schnittfeld verschiedener Formen des Umgangs mit Geschichte (von der wissenschaftlichen Analyse über die Pflege des historischen Erbes bis zur Praxis des Konsums oder des Nachstellens wie etwa im Reenactment) und wertet es zugleich auf. In dieser Schwerpunktsetzung auf digitalen Spielen als Geschichtspraxis – wenngleich nicht völlig neu – liegt neben dem Zuschnitt als breiter angelegter systematisierter Betrachtung das charakteristische Element des Buches.

Es verfolgt mehrere Ziele: Es will den Rahmen für eine Analyse der Spiele liefern, das Wesen der Repräsentation von Geschichte in den Spielen beschreiben und den Wert der Spiele als historische Praxis unterstreichen. Wer die Entwicklung von Spielen ebenso wie ihre Anwendung als Element der Unterhaltung verstehen will, und Freizeitgestaltung als spezifische Historiographie, darf an die populären Formen, so formuliert es Chapman auch in einem entsprechenden Appell, nicht die Standards einer wissenschaftlichen Studie anlegen. Nur dann seien alle Formen des Umgangs mit Geschichte vom wissenschaftlichen Buch bis zum alltäglichen Konsum oder der Praxis in populären Formen als gleichwertige Annäherungen an Geschichte und legitime Formen der Geschichtsschreibung ebenso wie als Beteiligung am laufenden Diskurs über das Historische (vgl. S. 11) zu begreifen. Um das zu untermauern, nimmt der Autor verschiedene Bereiche in den Blick: die Interaktion mit den Spielen, zwei Darstellungsstile und ihre Verbindung zu zwei Arten von Epistemologien, die Repräsentation und Bedeutung von Zeit und Raum, Kategorien des Narrativen allgemein und historische Narrationen in Spielen im Speziellen, den Zusammenhang von Erbe, Reenactment und der narrativen Herstellung von Geschichte, das Spielen selbst als historische Praxis und die Besonderheiten kontrafaktischer Geschichte als individueller „Schreibprozess“, in dem eine Entwicklung nach den Vorgaben der Spielenden – und den Rahmenbedingungen des Game Designs – ihren Lauf nimmt. All diese Aspekte sollen sich zusammenfügen zu dem Nachweis, dass digitale Spiele eine historische Form darstellen.

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Buch trägt wesentliche Überlegungen zusammen, leistet mit dieser systematisierten Betrachtung also einen Beitrag zur weiteren Etablierung des Mediums als geschichtswissenschaftlich relevante Erscheinungsform der Geschichtskultur. Es tut dies aber nicht immer besonders innovativ. Wer sich in dem Feld etwas auskennt, kann mitunter den Eindruck gewinnen, hier würden offene Türen eingerannt. Das mag daran liegen, dass der Autor nur die englischsprachige Literatur – und selbst diese bloß in Teilen – zur Kenntnis nimmt, also weder die deutsch- oder französischsprachige, geschweige denn die inzwischen ebenso rege Forschung in osteuropäischen Sprachen rezipiert hat. Dennoch behauptet er, alle 80 (!) Artikel berücksichtigt zu haben (S. 16), die es zum Thema gebe – nach vier Jahrzehnten der Forschung in zahlreichen Disziplinen (von der Pädagogik, Soziologie und Literaturwissenschaft über die Medienwissenschaft bis zur Geschichtswissenschaft) eine Zahl, die nicht einmal der Spitze des Eisberges nahekommt. Wie sich das auswirken kann, sei an einem Beispiel kurz erläutert. Chapman unterstreicht zu Recht, dass digitale Spiele als Erzählung, als Narration, anerkannt werden sollen – man könnte sogar noch weitergehen und sie als Spiegel von (Meister-)Narrativen sehen1 –, und führt dazu einige Arbeiten aus den Jahren 2003 bis 2005 an2, die das einforderten. Für seinen Ansatz übernimmt er von der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan den Begriff des „ludo-narrativism“.3 Die Forschung zu Geschichte in digitalen Spielen hat sich aber fast ebenso rasant weiterentwickelt wie das Medium selbst, sodass eine solche Bekräftigung längst nicht mehr erforderlich ist. Das setzt allerdings die Kenntnis zentraler Arbeiten auch jenseits des englischsprachigen Raums voraus.

Was sich ebenso auf die angestrebte Entwicklung eines Rahmens für eine Analyse der Spiele auswirkt, ist die nicht näher diskutierte Frage der berücksichtigten Spiele, also der Quellenbasis. Zwar werden in den Anmerkungen der Kapitel einzelne Spiele genannt, aus denen etwa die beiden Pole des Spektrums in der Visualisierung von Geschichte (Kapitel 3) oder Formen kontrafaktischer Geschichte (Kapitel 9) abgeleitet werden. Berücksichtigt werden unterschiedliche Kategorien von Spielen wie Strategiespiele, Shooter und Adventures. Dennoch bleibt unklar, ob sich die Überlegungen insgesamt aus einem größeren Quellenkorpus herleiten, das dann eigentlich alle Kategorien von Spielen bis zu den immer beliebteren Gelegenheitsspielen, den „casual games“, einbeziehen müsste. Dadurch würden sich nämlich weitere Aspekte und wichtige Impulse für die Frage eines „doing history“ ergeben, das in den stark reduzierten Spielwelten eines „Cradle of Rome“ oder eines „The Palace Builder“ eben nicht mehr so gut in das Muster einer Teilhabe an der Repräsentation von Geschichte und des Schreibens von Geschichte passen könnte.

Eine Schwierigkeit, die nicht aus dem Zuschnitt der Arbeit herrührt, ergibt sich aus der noch immer bestehenden Forschungslücke in der Rezeptionsforschung. Der ganze Bereich der Wirkung, den die Geschichte in den Spielen seit knapp vier Jahrzehnten auf die Spielenden ausübt oder nicht ausübt, ist bislang eine Terra incognita. Das ist dem Verfasser bewusst, hält ihn aber nicht völlig von Schlussfolgerungen ab, die eigentlich erst auf der Basis breiter empirischer Wirkungsforschung fundiert getroffen werden könnten. Im Kapitel über Formen der Visualisierung von Geschichte in digitalen Spielen tritt das exemplarisch hervor. Darin analysiert Chapman nur zwei Formen, die er als die Pole eines Spektrums zahlreicher Mischformen ausmacht. Überdies fielen bei der Spieleproduktion mit diesen Variationen der „ludic aesthetics“ (S. 59) epistemologische Entscheidungen, die wiederum den Umgang mit der Geschichte in den Spielen beeinflussten, wenn nicht gar bestimmten. Das ist jedoch eine Feststellung, die aufgrund fehlender Studien zur Wirkung der Geschichte bzw. Geschichtsdarstellung nicht unmittelbar überzeugen kann.

Um dies etwas auszuführen: Auf der Basis ausgewählter Spiele wird zunächst unterschieden zwischen einer „realistischen“ Darstellung einerseits und einer „konzeptionellen“ („conceptual“) andererseits. „Realistisch“ bezieht sich in dem Zusammenhang nicht auf eine Akkuratesse der historischen Repräsentation, sondern auf eine so anmutende visuelle oder audio-visuelle Darstellung. Elf Faktoren dienen der genaueren Erläuterung des Realitätsnahen (darunter hohe Detaildichte und leicht entschlüsselbare Visualisierung), neun Faktoren der Bestimmung des „konzeptionellen“ Stils (darunter ein hoher Abstraktionsgrad und deutlich weniger – visuell umgesetzte – Informationen). Chapman weist aber zu Recht darauf hin, dass diese beiden Reinformen selbst in ein und demselben Spiel durchbrochen werden können und dass die Mischformen weit häufiger sind. Insofern ist es schwierig zu erkennen, was der analytische Wert einer solchen Kategorisierung sein kann. Das wird auch dadurch nicht klarer, dass für den Autor jeder der beiden Stile eindeutig einer Art der Rezeption zugeordnet werden kann: Immersion beim realistischen und Teilhabe an der Art der Geschichtsrepräsentation beim abstrakteren Stil. Diese Verknüpfung wird wieder ohne empirische Basis zum Spielverhalten und Umgang mit der Visualisierung hergestellt. Warum etwa sollte eine Third-Person-Perspektive auf Augenhöhe mit den anderen Akteurinnen und Akteuren einer (Spiel-)Handlung wie etwa in der Haupthandlung eines „Assassin’s Creed“ zwangsläufig den Blick für die Art der Repräsentation von Geschichte verstellen? Wie monolithisch muss Immersion gedacht sein, wenn sie weder individuelle Veranlagung noch Tagesform oder wechselnde Interessen, um nur einige wenige Einflussfaktoren zu nennen, berücksichtigen kann? Noch wichtiger ist die Frage, was damit für die Untersuchung der Behandlung von Geschichte im Medium generell gewonnen ist. Denn als Werkzeug einer trennscharfen Analyse kann ein solcher erster Zugang nicht ausreichen.

Trotz dieser unübersehbaren Schwächen hat das Buch jedoch einen Wert – mit seinem Bestreben, über die Form des Mediums den Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung seines Inhalts, der Geschichte, und des Umgangs mit ihr näherzukommen. Es verweist nicht zuletzt auf die vielfältigen Fragen, die die Beschäftigung mit diesem Medium so reizvoll machen. Die Erhebung der Spiele in den Status einer Geschichtsschreibung, die wissenschaftlichen Standards zu genügen vermag – ein Anspruch, den die Spieledesignerinnen und -designer selbst trotz der Bewerbung einzelner Titel mit dem Zauberwort der „Authentizität“ auch gar nicht vertreten –, ist damit jedoch nicht gelungen. Letztlich kann Adam Chapman nicht den Nachweis führen, dass digitale Spiele als Mittel eines „historying“ einzustufen sind.

Anmerkungen:
1 Angela Schwarz, Narration und Narrativ: Geschichte erzählen in Videospielen, in: Florian Kerschbaumer / Tobias Winnerling (Hrsg.), Frühe Neuzeit im Videospiel. Geschichtswissenschaftliche Perspektiven, Bielefeld 2014, S. 27–52; eine kürzere englischsprachige Fassung erschien unter dem Titel Narration and Narrative: (Hi-)Story Telling in Computer Games, in: Florian Kerschbaumer / Tobias Winnerling (Hrsg.), Early Modernity and Video Games, Newcastle 2014, S. 140–161.
2 Darunter finden sich etwa Markku Eskelinen, Towards Computer Game Studies, in: Noah Wardrip-Fruin / Pat Harrigan (Hrsg.), First Person: New Media as Story, Performance and Game, London 2004, S. 35–44, und Jesper Juul, Half Real: Video Games between Rules and Fictional Worlds, Cambridge 2005.
3 Marie-Laure Ryan, Avatars of Story, Minneapolis 2006, S. 203.