C. Kuchler u.a. (Hrsg.): Zeitungen von gestern für das Lernen von morgen

Cover
Titel
Zeitungen von gestern für das Lernen von morgen?. Historische Tagespresse im Geschichtsunterricht


Herausgeber
Kuchler, Christian; Städter, Benjamin
Reihe
Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Steffen Barth, Universität Mainz

Gegenwärtig lässt sich ein Wandel der Medienwelt beobachten. „Neue“ Medien, insbesondere digitale, verdrängen ältere Medien oder diese verändern sich und passen sich an die Entwicklung an. Der vorliegende Band, der aus einer interdisziplinären Tagung in Aachen hervorgegangen ist, setzt sich angesichts dieser Entwicklung mit der Bedeutung des Mediums Zeitung für historisches Lernen auseinander. Im Zuge des Siegeszuges digitaler Medien geben Lernende den Vorzug bei der Suche nach Informationen häufig multimedialen Webangeboten, und gedruckte Zeitungen spielen eine immer geringere Rolle. Gleichwohl kommt dem Medium Zeitung seit seinem Ursprung im 17. Jahrhundert sowohl in der Informationsvermittlung als auch in gesellschaftlichen und politischen Diskursen bis in die Gegenwart entscheidende Bedeutung zu. Dies eröffnet für historisches Lernen zahlreiche Chancen und Möglichkeiten, wie etwa das „Verstehen historischer Gesellschaftsformationen, Medienkulturen und Mentalitäten“ (S. 8) oder die Herausbildung einer grundlegenden Medienkompetenz im Umgang mit Zeitungen. In den Beiträgen des Bandes werden die Chancen und Möglichkeiten von Zeitungen für historisches Lernen sowohl aus fachwissenschaftlicher als auch aus fachdidaktischer und aus unterrichtspraktischer Perspektive beleuchtet.

Zunächst gibt Frank Bösch aus fachwissenschaftlicher Perspektive einen knappen, aber luziden Überblick über die Geschichte der Zeitung, der im 17. Jahrhundert beginnt und bis in die Gegenwart hinein die zentralen Entwicklungslinien verfolgt. Dabei zeigt er auch aktuelle Forschungstrends auf und befragt diese auf die Anschlussfähigkeit von Seiten des Geschichtsunterrichts hin.

In ihrem aus fachdidaktischer Perspektive einleitenden Beitrag gehen die beiden Herausgeber Christian Kuchler und Benjamin Städter der Frage nach, welche Bedeutung dem Medium Zeitung in der Geschichtsdidaktik und in der Praxis des Geschichtsunterrichts bisher zukam. In beiden Fällen kommen sie zu Recht zu einem ernüchternden Ergebnis.1 Zeitungen werden als Medium historischen Lernens in einschlägigen Handbüchern der Geschichtsdidaktik und in Einführungswerken kaum bzw. nur sehr randständig berücksichtigt, und es blieb, wie die Autoren betonen, „eine breitere Analyse oder gar grundsätzliche Diskussion der Bedeutung von Zeitungen für das historische Lernen bislang aus“ (S. 36). Zwar zeigt der Blick in die Schulgeschichtsbücher, dass das Medium in der Unterrichtspraxis durchaus eine Rolle spielt, allerdings in eher unbefriedigender Weise. So werden Zeitungen häufig als „Steinbruch“ verwendet, indem gekürzte Texte im Materialteil verwendet und abgedruckte Faksimiles wenn überhaupt eher illustrierend eingesetzt werden, was ein „wirkliches Arbeiten mit Zeitungen auf der Basis der Lehrwerke nicht möglich“ (S. 43) macht. Der Blick auf das forschend-entdeckende Lernen am Beispiel des Geschichtswettbewerbs zeigt zwar, dass dort Zeitungen häufig als Quelle verwendet werden, allerdings abgesehen von einzelnen Beispielen quellenkritisch vielfach unzureichend. Konkrete Schlussfolgerungen werden aus der Bestandsaufnahme von den Verfassern nicht abgeleitet, sondern der Beitrag macht in erster Linie auf die Desiderate aufmerksam, was den Boden für die folgenden Beiträge bereitet. Untergliedert in die Oberkapitel „Recherche“, wo didaktische und methodische Möglichkeiten vorgestellt werden, und „Kiosk“, wo verschiedene Zugänge und Materialangebote präsentiert werden, möchte der Band die Bedeutung des Mediums für historisches Lernen sowie Möglichkeiten der Nutzung und Angebote etwa im Internet aufzeigen.

Bereits der erste Beitrag im Bereich „Recherche“ von Peter Geiss zeigt am Beispiel der Analyse der Berichterstattung der Presse in Frankreich und Österreich-Ungarn in der Juli-Krise 1914 im bilingualen Geschichtsunterricht sehr praxisnah auf, welche Möglichkeiten Angebote im Internet bieten. Anhand eines sehr anspruchsvollen und voraussetzungsreichen Unterrichtsarrangement wird erläutert, wie eine multiperspektivische Quellenanalyse von digitalisierten Zeitungen aus Frankreich und Österreich-Ungarn, die Lernenden als Forschende in Aktion treten lassen kann. Digitalisierte Zeitungsbestände ermöglichen die Analyse von Quellen, die zwar über das Internet verhältnismäßig leicht zugänglich, aber vielfach noch unausgewertet sind.

Der Beitrag von Cajus Wypior behandelt Zeitungen als „Angebote von Wirklichkeitskonstruktionen“ (S. 76) und zeigt theoretisch reflektiert in überzeugender Weise auf, wie Zeitungen aufgrund ihrer Spezifika genutzt werden können, um den Lernenden grundlegende geschichtstheoretische Einsichten zu ermöglichen, beispielsweise „wie Wirklichkeitsbewusstsein als Sinnkonstrukt erzeugt wird“, „wie Wirklichkeitskonstrukte einer Gruppe von Menschen bis hin zu ganzen Gesellschaften Identität, Sinn und Gemeinschaft vermitteln“ oder wie „Diskurse und Macht sich zueinander verhalten“ (S. 77). Sein Ausgangspunkt ist die historische Diskursanalyse, die ausgehend von Zeitungen im Geschichtsunterricht erfolgen soll. Dabei wird auch die Gegenwartsbedeutung deutlich, weil ausgehend von aktuellen Diskursen mit historischen Bezügen in Zeitungen eine „kritische Archäologie’ der Gegenwart“ (S. 78) das Gegenwartsbewusstsein schärfen kann. Wie für den Unterricht geeignete Diskurse von den Lehrenden ausfindig gemacht und anhand eines exemplarischen Quellenkorpus mit den Lernenden analysiert werden können, erläutert er zunächst theoretisch und dann an einem Beispiel des Diskurses über den „Feind aus dem Osten“.

In den drei folgenden Beiträgen wird eine solch ergiebige Verbindung von Theorie und Praxis leider nicht erreicht. In dem Beitrag von Ruth Fiona Pollmann zum handlungsorientierten Arbeiten mit Zeitungen nehmen die Definition und die Bestimmung der Merkmale von handlungsorientiertem Geschichtsunterricht sehr breiten Raum ein, wohingegen die Frage, worin das Potential von Zeitungen für handlungsorientierten Geschichtsunterricht liegt, verhältnismäßig knapp und oberflächlich behandelt wird. Ähnlich stellt sich dies bei dem Essay von Thomas Göttlich dar, der sich in einem Erfahrungsbericht zum Einsatz eines Koffers alter Zeitungen von Studierenden in Unterrichtsstunden im Wesentlichen in der Erkenntnis erschöpft, dass die Authentizität der Quellen das Interesse der Schüler und den Lernerfolg erhöht. Dies gilt allerdings nicht nur für Zeitungen. Sven Oleschko nimmt in seinem Beitrag Bezug auf die Bedeutung der Sprache im Geschichtsunterricht und möchte aufzeigen, wie mit Zeitungen für historisches Denken „ausreichende Fach- und Bildungssprache“ (S. 115) entwickelt und die Lernenden zu einem „Verstehen- und Erklärenlernen hingeführt werden“ (ebd.) können. Gleichwohl wird anhand der ausgewählten Beispiele nicht wirklich deutlich, inwiefern Zeitungen dazu in besonderem Maße geeignet sind, vielleicht auch, weil die Zeitung in dem Beitrag im Grunde lediglich als „Bild- und Textquelle“ (S. 123) verstanden wird, ohne weitere grundlegende Charakteristika zu beachten. Die dargestellten methodischen Möglichkeiten beinhalten etwa das Nachschlagen von Fremdwörtern, das Gliedern des Textes oder eine mehrmaliges Lesen vor. Dies sind Erschließungshilfen, die für vielerlei Textsorten gelten und gewiss nicht spezifisch für das Medium Zeitung sind.

Am Beispiel einer 2014 von der belgischen Zeitung „Dernière Heure“ reaktualisierten Serie von Titelbildern aus dem Juli und August 1914 formuliert Michele Barricelli in seinem Beitrag Leitfragen für die Analyse von Titelseiten, die sich auf das konkrete Beispiel der Juli-Krise beziehen, die aber auch generell für die für Zeitungen so wichtige Titelseite zur Analyse genutzt werden können. In dem Katalog werden in überzeugender Weise die Bereiche Inhalt, Gestaltung, Sinnbildung und Erinnerungskultur einbezogen.

In dem folgenden Teil „Kiosk“ werden verschiedene Zugänge und Materialangebote vorgestellt, wie etwa das Projekt „Pressechronik 1933 – Journalismus in der Diktatur“, das österreichische Digitalisierungsprojekt ANNO oder auch das Internationale Zeitungsmuseum Aachen als außerschulischer Lernort. Alle Angebote werden mit Blick auf den unterrichtspraktischen Einsatz präsentiert und bieten damit für die Praxis im Unterricht wichtige und interessante Angebote, um die im didaktischen Teil des Bandes vorgestellten Ansätze unterrichtspraktisch fruchtbar zu machen. Besonders überzeugen kann Astrid Schwabe, die in ihrem Beitrag zum „Medium Zeitung in der digitalen Welt“ die Vorteile des leichten Zugangs über digital zur Verfügung gestellten Faksimiles historischer Zeitungen deutlich macht. Schwabe nennt fünf Bereiche digitaler oder digitalisierter Zeitungen, die den Geschichtsunterricht bereichern können. Digitale Angebote schaffen Zugang zu historischen Zeitungen als Quelle. Digitale Zeitungen, die durchaus auch von Lernenden genutzt werden, sie sind geschichtskultureller Akteur und zusätzlich Plattform von Debatten. Die Auseinandersetzung mit Zeitungen im Unterricht trägt entsprechend zur Förderung von Kompetenzen im Bereich des Umgangs mit geschichtskulturellen Kontroversen bei. Außerdem können Zeitungen Ausgangspunkt „mediengeschichtlicher Reflexionen“ (S. 166) sein.

Der Band bietet einen ersten Ausgangspunkt für die fachdidaktische Auseinandersetzung mit einem Medium, das von der Geschichtsdidaktik bisher kaum beachtet wurde, aber für historisches Lernen zahlreiche Chancen und Möglichkeiten eröffnet. Die Potentiale der Quellengattung, die in dem Band sehr deutlich wurden, machen eine intensivere Auseinandersetzung mit der Quellengattung nötig. Handlungsorientierte Zugänge müssten noch stärker in den Blick kommen, als es hier geschehen ist, und ein den Spezifika des Mediums Rechnung tragendes didaktisches und methodisches Grundkonzept steht bisher noch aus.

Anmerkung:
1 In der geschichtsdidaktischen Literatur finden sich bisher lediglich zwei kürzere Texte von Michael Sauer, die sich explizit mit der Thematik beschäftigen: Michael Sauer, „Was sich begeben und zugetragen hat“. Die Zeitung als Quelle im Geschichtsunterricht, in: Markus Bernhardt / Gerhard Henke-Bockschatz / Michael Sauer (Hrsg.), Bilder – Wahrnehmungen – Konstruktionen. Reflexionen über Geschichte und historisches Lernen. Festschrift für Ulrich Mayer zum 65. Geburtstag, Schwalbach im Taunus 2006, S. 242–255; ders., „Allen denen gar nuetzlich und lustig zu lesen“. Zeitungen als Quelle, in: Geschichte lernen 21 (2008), H. 124, S. 2–9.

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