Drogengeschichte war lange ein randständiges Themenfeld, auf dem sich die Wege unterschiedlicher Zugänge selten kreuzten. In jüngster Zeit wächst erfreulicherweise das Interesse für die Geschichte psychoaktiver Stoffe, insbesondere des LSD. Eine Reihe neuerer Studien und Forschungsprojekte fragt, wie sich im Wissen und Sprechen über Stoffe bestimmte Vorstellungen vom Selbst, von Bewusstsein und Psyche herausbildeten und verfestigten. Sie orientieren sich weniger an den cultural, als an den science studies, ihr Hauptaugenmerk liegt folglich weniger auf Subkulturen, als auf Wissensfeldern. Wichtige Denkanstöße liefert außerdem einmal mehr Nikolas Rose, besonders mit seinen Beobachtungen zum neurochemical self.1
An diesem Schnittpunkt steht auch Magaly Tornays wissenshistorische Fallstudie. „Zugriffe auf das Ich“ untersucht, welche Auswirkungen die psychopharmakologische Revolution Mitte des 20. Jahrhunderts auf die wissenschaftliche und klinische Praxis der Schweizer Psychiatrie und deren Personenkonzepte hatte. Die Quellengrundlage der überarbeiteten Zürcher Dissertation bilden Archivalien aus dem Novartis-Firmenarchiv und der psychiatrischen Klinik Münsterlingen, Fachzeitschriften, sowie Konferenzbände und Publikationen aus den Universitätskliniken Zürich und Basel. Tornays Abhandlung positioniert sich zwischen Psychiatrie- und Pharamakologiegeschichte und Subjektivierungsforschung, ohne jedoch auf den Grundbegriff der letzteren zurückzugreifen. Stattdessen spricht Tornay von „Personenkonzepten“, in einer „etwas schwerfälligen, jedoch präzisen Übersetzung des englischen Begriffs ‚Personhood‘“ (S. 4). Tornay forscht nach dem Gegenüber der psychoaktiven Stoffe, der „unscharfe[n] Mitte […] auf die psychoaktive Stoffe einwirken“ (S. 251) und den Kategorien und Einheiten, in denen sie gefasst wurde. In Anlehnung an Ian Hackings „Looping Effects“2 geht sie davon aus, dass Konzepte auf Patienten und deren Selbstverständnisse zurückwirken.
„Zugriffe auf das Ich“ soll die Wissensforschung zu psychoaktiven Stoffen mindestens dreifach bereichern: Erstens untersucht Tornay über Debatten und Ideen hinaus eine Vielzahl kleinerer Praktiken und Verfahren, mit denen Forscher zu ermitteln versuchten, wie psychoaktive Stoffe funktionierten und worauf sie überhaupt einwirkten. Zweitens konzentriert sie sich nicht bloß auf den akademischen Betrieb oder das Labor, sondern rekonstruiert die Verbindungen und Bedeutungstransfers zwischen Psychiatrie, Psychologie, Klinik und Pharmaindustrie. Drittens beschränkt sie sich nicht auf eine Substanz oder Stoffgruppe, sondern sucht nach den verknüpften Stoffbiographien von Halluzinogenen, Antidepressiva, Beruhigungs- und Anregungsmitteln. Über diesen weiten Blickwinkel zielt Tornay darauf ab, Stoffwirkungen und Personenkonzepte „in the making“ zu erfassen.
Jeder der drei chronologisch angeordneten Hauptteile verklammert zwei Kapitel. Der erste Teil zu „Experimentalanordnungen“ beobachtet die Einführung psychoaktiver Stoffe in die Forschung und Psychiatrie in den 1940er- und 1950er-Jahren. Im ersten Kapitel widmet sich Tornay dem Auftakt zur sogenannten psychochemischen Revolution, die sie 1943 mit Albert Hofmanns Entdeckung des LSD beginnen lässt. Im Vordergrund stehen die Verfahren, mit denen Schweizer Forscher versuchten, Wirkmechanismen der Stoffe zu ermitteln und zu objektivieren: Selbstversuche, Protokolle, Zeichnungen, Rohrschachtests, Spinnennetze. Die Spurensuche erzeugte permanent methodische Vorbehalte und das Problem, was die Verfahren überhaupt registrierten oder abbildeten: Persönlichkeitsanteile oder Rauschzustände, Subjektivitäten oder Stoffeffekte?
Das zweite Kapitel untersucht die stoffgestützte Erforschung psychischer Prozesse und Erkrankungen im Kontext der Modellpsychosen-Forschung. LSD wurde in Laborversuchen zum Untersuchungswerkzeug, da es Psychosenverläufe produzieren half und zugänglich machte. Das ab 1952/53 die Psychiatrie umwälzende Neuroleptikum Chlorpromazin heilte diese Psychosen sozusagen und stoppte sie. Hier gingen die psychoaktiven Stoffe eine Allianz ein, die ein stabiles Experimentalsystem erzeugte. Zugleich stand die Frage im Raum, inwiefern Psychosen und Schizophrenie oder psychische Vorgänge im Allgemeinen chemisch verfasst waren und stofflich reguliert werden konnten. Dies irritierte die Unterscheidung von Chemie, Psyche und Körper, weil unklar blieb, wie sie zueinander standen und aufeinander wirkten.
Den zweiten Hauptteil „Wissensordnungen“ eröffnet das dritte Kapitel, in dessen Zentrum die II. Internationale Konferenz für Psychiatrie steht, die im September 1957 an der ETH Zürich stattfand. ‚Zürich 1957‘ begreift Tornay als Moment der Expertisenbildung, in dem Forscher unterschiedlicher Disziplinen um die Namensgebung der Stoffe, ein gemeinsames Vokabular und die Selbstbezeichnung des neuen Expertenfeldes rangen. Die Substanzen hatten die Formierung eines neuen Forschungsfeldes namens Psychopharmakologie angestoßen. Tornay umreißt knapp die Markteinführung von Chlorpromazin und beleuchtet die Konflikte um die Klassifikation der Psychopharmaka. Weil Wirkungsort und Wirkweise von Psychopharmaka uneindeutig blieben, waren die Stoffe vielseitig anschlussfähig, an biologische und neurologische genauso wie an psychodynamische Interpretations- und Therapieansätze. Zudem war der Psychopharmakologie eine Verallgemeinerungslogik inhärent, denn sie erzeugte Hypothesen und Resultate, die potentiell alle Menschen, gesunde wie kranke, betrafen.
Das nächste Kapitel untersucht die Kooperation zwischen der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen und dem Basler Pharmaunternehmen Geigy. Am Beispiel der Testsubstanz Geigy Rot, die unter dem Namen Imipramin (Tofranil) als erstes Antidepressivum bekannt wurde, schlägt sie den Bogen zum Personenkonzept des „depressiven Selbst“. Entstehung und Popularisierung der Diagnose Depression, Diskussionen um ihre Ursachen und Formen, ihre pharmakologische Behandlung und pharmaindustrielles Marketing stützten, beförderten und definierten sich gegenseitig. Das „erschöpfte Selbst“ war Tornay zufolge sowohl eine Kehrseite der Leistungsgesellschaft im Sinne Alain Ehrenbergs, als auch konkretes Produkt von Pharma-Marketing, Fachdebatten und des Übergangs von stationärer zu ambulanter Therapie, den die Stoffe ermöglichten.
Mit dem fünften Kapitel zur sogenannten statistischen Wende beginnt der dritte Buchteil über die „Ausweitung der therapeutischen Sphäre“ in den 1960er- und 1970er-Jahren. Neue Verfahren und technische Möglichen zur Datenproduktion und Datenverarbeitung setzten eine wissenschaftliche Objektivität „ohne Worte“ (Lorraine Daston) durch. Der geübte Blick des einzelnen Psychiaters verlor an Relevanz oder mutierte gar zur Störgröße. Ein Verbund Schweizer Universitätskliniken entwarf standardisierte und quantifizierende Verfahren, um die klinische Prüfung einer schnell wachsenden Produktpalette zu bewältigen. Dies sollte Wirkungsprüfungen beschleunigen, geriet jedoch bald zu einer umfassenden Datensammlungsmethode. Diagnosen orientierten sich immer mehr an abgesteckten Symptomen und Syndromen und weniger an Einzelfallgeschichten. Patienten und Personen im Allgemeinen sahen sich in quantifizierbare Daten übersetzt und verstärkt als Teile von Populationen behandelt. Diese Aufgliederung und Bündelung von Einflussgrößen schuf wiederum eine Basis für etwaige epidemiologische Auswertungen.
Kapitel 6 weitet den Blick und untersucht klinische und öffentliche Bilder von Psychopharmaka um 1968. Zunächst skizziert Tornay, wie Psychiater im Wechselspiel mit Drogendebatten, Therapeutisierungsprozessen und Steuerungsutopien ihr Feld neu absteckten. Sie überarbeiteten ihr Selbstverständnis und ihre Krankheitsbilder und rejustierten ihre Beziehungen zu Stoffen, Patienten und zur Gesellschaft. Das Paradigma, Kranke zu heilen, wich schrittweise einem Ansatz, Symptome und Störungen kontinuierlich und ambulant zu behandeln. Mit dem Spektrum medikalisierbarer Störungen dehnte sich auch der Kreis behandlungsbedürftiger Personen aus – und damit das gesamte psychiatrisch-pharmakologische Normalitätsverständnis. Neben diesem Normalisierungsschub beleuchtet Tornay Ideen aus Wissenschaftlerkreisen, Mensch und Gesellschaft psychopharmakologisch zu optimieren. Dann rekonstruiert sie Aufkommen und Verbot der LSD-Forschung und die Ausgrenzung des Halluzinogens aus Wissenschaft und Klinik. Das Buch schließt mit Abhängigkeitsdiskursen, welche die Substanzen auch in der Schweiz und unter Psychiatern endgültig zu Problemstoffen machten. In der Frage nach den Ursachen für Drogensucht rückten Schweizer Psychiater offenbar den Faktor Persönlichkeit zugunsten sozialer Ursachen und generationeller Probleme in den Hintergrund.
Magaly Tornay gelingt es am Schweizer Fall aufzuzeigen, was im 20. Jahrhundert alles zusammenkommen musste, um eine „psychopharmakologische Grammatik“ (Tornay) für das Selbst zu entwickeln. „Zugriffe auf das Ich“ ist eine umsichtig geschriebene Mikrostudie zu einem verwickelten Themenkomplex, die Substantielles und Konzeptionelles zur Wissenschafts-, Psychiatrie- und Pharmakologiegeschichte des 20. Jahrhunderts beiträgt und gleichermaßen die Zeitgeschichte der Drogen und des Selbst bereichert.
Zur Anlage der vielseitigen Studie möchte ich abschließend noch drei Punkte anmerken. Zum einen bleiben gesellschaftliche Kontexte und historische Hintergründe etwas blass. Sie bekommen zwar vereinzelt Farbe, etwa in den Auseinandersetzungen um Depressionen, das Drogenproblem oder die Krisendiagnosen der 1970er-Jahre. Gelegentlich hätte man aber gerne mehr über Verknüpfungen zu zeitgenössischen Umfeldern, Prozessen und Diskussionszusammenhängen erfahren. Zum andern wären angesichts des vielschichtigen Themas und der „moving targets“ der Untersuchung eine deutlichere Leserführung und stringentere Argumentation wünschenswert gewesen. Dies rührt unter anderem daher, dass Tornay eine übergreifende These und ein eingängiges Leitnarrativ bewusst vermeidet und nicht gegen eine bestimmte Forschungsposition anschreibt. Die Einzelkapitel bieten dichte Studien, die gewinnbringend auch separat zu lesen sind. Für eine flüssigere Lektüre und argumentative Einordnung hätten Zwischenresümees ergänzt und Unterkapitel zusammengeführt werden können. Zusammengenommen hätte dies den roten Faden des Buchs gestärkt.
Drittens fällt auf, dass Tornay den Begriff des Personenkonzepts gegenüber Begrifflichkeiten wie Subjektivierung oder Selbstverhältnisse bevorzugt und bisweilen auszuspielen scheint. Das verwundert, geht es doch hier wie dort darum, nicht das „Individuum als Gegenpol zu sozialen Strukturen“ zu setzten, sondern die Verschachtelung von „Individuation und Teilnahme“ (S. 4) zu analysieren. Da die Begrifflichkeiten in der Studie nebeneinanderstehen, werden konzeptionelle Abgrenzungen nicht immer deutlich.
Vollends zu begrüßen ist hingegen Tornays Heuristik, die Verfahren und Praktiken durchleuchtet. Ebenso zielführend wie knifflig bleibt freilich, die postulierten „Rückwirkungsschleifen“ (Hacking) zwischen Klassifizierungen und Selbstbildern analytisch und empirisch zu fassen zu bekommen. Wie wurden Menschen über Personenkonzepte adressiert – als psychochemisch bestimmt oder depressiv, als Persönlichkeit oder Resultat sozialer Laufbahnen – und inwiefern veränderte das den Umgang mit sich selbst, mit Krankheit oder Psyche? Einen gangbaren Zugang hierzu, dem „Zugriffe auf das Ich“ allerdings nicht folgt, eröffnet die Erforschung von Anrufungen, Befähigungen und Selbsttechniken.3 Dem dies- und jenseits der Psychiatrie nachzugehen und auch öffentliche Kontroversen miteinzubeziehen, spannt ein reizvolles Forschungsfeld auf. Besonders aufschlussreich erscheinen dann die Situationen, in denen Psychopharmakologie und psychoaktive Stoffe ihre Adressatenkreise erweiterten und als Wissen oder Selbstführungsmittel in neue Gesellschaftsbereiche vordrangen. Theoretisch wie empirisch leistet Tornays Studie hier Grundlagenarbeit und wirft anregende Frageperspektiven für zukünftige Forschungen auf.
Anmerkungen:
1 Nikolas Rose, The Politics of Life Itself. Biomedicine, Power and Subjectivity in the Twenty-First Century, Princeton 2007; Ders., Inventing Our Selves. Psychology, Power and Personhood, Cambridge 1998.
2 Ian Hacking, The Looping Effects of Human Kinds, in: Dan Sperber u.a. (Hrsg.), Causal Cognition. A Multidisciplinary Debate, Oxford 1995, S. 351–383.
3 Pascal Eitler / Jens Elberfeld (Hrsg.), Zeitgeschichte des Selbst. Politisierung – Therapeutisierung – Emotionalisierung, Bielefeld 2015; Thomas Alkemeyer / Gunilla Budde / Dagmar Freist (Hrsg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, Bielefeld 2013; Andreas Reckwitz, Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Weilerswist 2006.