Als vor einigen Jahren Franklin A. Oberlaenders Studie "Wir aber sind nicht Fisch, sind nicht Fleisch" 1 erschien, wurde ein bis dahin lediglich in den Randgebieten der Kirchengeschichte als auch der Geschichte der Judenverfolgung behandelter Untersuchungsgegenstand in den Blickpunkt einer breiteren Öffentlichkeit gestellt: das Schicksal der Christen, die die nationalsozialistische Rassenideologie als "jüdischer" oder "nichtarischer" Herkunft kategorisierte und die daher den Diffamierungen, Verfolgungen und Ausgrenzungen der auf dieser Ideologie beruhenden Politik der Nationalsozialisten ebenso ausgesetzt waren wie die wegen ihrer mosaischen Religionszugehörigkeit Verfolgten. Das Schicksal von Konvertiten und Dissidenten jüdischer oder teilweise jüdischer Herkunft als eigenständigen Forschungsgegenstand zu untersuchen und somit weder als Begleiterscheinung antijüdischer Verfolgungspolitik noch aus dem Blickwinkel des Verhaltens der Kirchen zu ihren aus rassenideologischen Gründen verfolgten Mitgliedern zu beschreiben, ist auch das Ziel der 1994 an der TU Darmstadt als Dissertation vorgelegten Arbeit von Aleksandar-Sasa Vuletic, die 1999 unter dem Titel "Christen jüdischer Herkunft im Dritten Reich" im Druck erschienen ist.
Im Mittelpunkt dieser vorwiegend als Verbandsgeschichte angelegten Untersuchung steht der im Juli 1933 als Interessenvertretung und "Sammlungsbecken" "nichtarischer" Christen gegründete "Reichsverband christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung". Die Selbsthilfebemühungen des Vereins vor dem Hintergrund der sich seit 1933 immer mehr verschärfenden Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten, die aus dieser resultierenden Umbenennungen Ende 1934 in "Reichsverband der nichtarischen Christen" und 1936 in "Paulus-Bund. Vereinigung nichtarischer Christen" sowie die aufgrund der Konsequenzen der "Nürnberger Gesetze" notwendig gewordene Gründung der Nachfolgeorganisation "Vereinigung 1937" im Jahr 1937 bis hin zum endgültigen Verbot durch die Gestapo im Jahre 1939 stehen im Mittelpunkt der Studie, die sich damit über den Rahmen der bisher vorgelegten Forschung hinaus bewegt.
Bevor sich A.-S. Vuletic dem eigentlichen Ziel seiner Untersuchung annähert, Kontinuität und den Wandel der Zielsetzungen, die organisatorische Entwicklung der genannten Selbsthilfeorganisationen sowie die konfessionelle und soziale Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft darzulegen, widmet er sich den bisher zur Frage der Begrifflichkeiten, zur Statistik über den Betroffenenkreis und zu Fragen des Verhaltens der Kirchen vorgelegten Forschungen, die jedoch in weiten Teilen noch auf dem Stand von 1994 basieren.
So zwingt ihn "die Fülle anderer Benennungen" (S. 14) - "Juden", "Judenchristen", "nichtjüdische Stammesjuden", "Mischlinge", "Nichtarier" - diese in ihrem Gebrauch und ihrer historischen Bedeutung zu erläutern, da sich darin die verschiedenen gesellschaftlichen Muster der Wahrnehmung der aus dem Judentum ausgetretenen Personen widerspiegeln. A.-S. Vuletic stimmt mit Kurt Nowak überein, daß das säkulare Ziel der bürgerlichen Gleichberechtigung durch den religiösen Akt der Konversion angestrebt wurde 2, wobei er die Ursachen für diesen Prozeß in dem mit der Aufklärung verbundenen Emanzipationsprozeß des beginnenden 19. Jahrhunderts sieht. Mit der Assimilation der Juden sei ein Wandel im Verständnis des Judenbegriffes in der deutschen Gesellschaft festzustellen, wonach dieser eine zunehmend säkulare Bedeutung erhalten habe, was zu der auch weit verbreiteten Unsicherheit führte, ob ein Jude Angehöriger einer Religionsgemeinschaft, einer Nation oder eines Volkes sei, eine auch in der heutigen Gesellschaft immer wieder anzutreffende Frage 3, die im "Dritten Reich" auf die Frage der "Rassenzugehörigkeit" hingeführt wurde. Vuletic' Darlegungen der Versuche der Nationalsozialisten, eine für sie befriedigende Lösung der Frage, wer "Jude" oder "Nichtarier" sei, zu finden und die Auswirkungen der darauf mit der "Machtübernahme" einsetzenden Diskriminierungen weisen wenig über die bereits von Raul Hilberg gemachten Aussagen hinaus. 4
In den einführenden und die Rahmenbedingungen der Tätigkeit des Selbsthilfevereins und seiner Nachfolgeorganisationen behandelnden Kapiteln wird ein weiterer großer Raum der Frage gewidmet, wie viele Deutsche jüdischer oder teilweise jüdischer Herkunft Betroffene der Rassenideologie waren, wie viele davon Angehörige der protestantischen und der katholischen Konfession waren, welche Konsequenzen die Kirchen aus der Verfolgung ihrer Gläubigen zogen und welche Unterstützung sie leisteten. Es ist jedoch nicht das Ziel von A.-S. Vuletic, eine eindeutige Angabe der Anzahl der Betroffenen zu machen, ein Vorhaben, das die Forschung bereits als nicht lösbar bezeichnete. Der Verfasser will anstelle dessen anhand zeitgenössischer Angaben zeigen, wie sowohl die Nationalsozialisten als auch die Betroffenen mit Hilfe dieser Statistiken Argumentationen aufbauten, um entweder zu demonstrieren, welch bedrohlich große Gruppe "Juden" den Maschen der Rassenpolitik nicht entgehen dürfte, oder um die Zugehörigkeit zu den "arischen" Deutschen zu beweisen. Insofern überrascht nicht, daß Vuletic Angaben zur Anzahl der Verfolgten aufweisen kann, die von 160 710 bis hin zu sieben oder acht Millionen Betroffenen schwanken. (S. 38f) Inwieweit die Kirchen auf Verfolgungen ihrer Gläubigen reagierten bzw. nicht reagierten, wurde von zwischenzeitlich vorgelegten Studien weiter ergänzt. 5
Nachdem A.-S Vuletic die zur Beschäftigung mit der Selbsthilfeorganisation Christen jüdischer und teilweise jüdischer Herkunft und deren Nachfolgeorganisationen notwendigen Rahmenbedingungen dargelegt hat, wendet er sich diesen im Detail zu, wobei er ein bestimmtes Grundraster an Fragestellungen zugrunde legt. Der "Reichsverband christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung e.V.", der "Paulus-Bund" und die Nachfolgeorganisation "Vereinigung 1937" werden nach den Gründen, die zur Gründung geführt haben, nach Zielen und Aufgaben, denen man sich mit der Gründung verpflichtet fühlte, deren Umsetzung und auf die Mitgliederentwicklung hin untersucht. Untersucht wird auch, inwieweit sich die Selbsthilfeorganisation in dem vom Staat vorgegebenen Rahmen bewegte, ob und wie sie mit Partei- oder Staatsbehörden wie Gestapa und Gestapo zusammenarbeitete und wie das Verhalten gegenüber den Kirchen war.
Der Gründung des "Reichsverbandes christlich-deutscher Staatsbürger nichtarischer oder nicht rein arischer Abstammung" im Juli 1933 waren Überlegungen vorausgegangen, welchen Sinn und Zweck eine Selbsthilfeorganisation verfolgen sollte. Dazu zählte, inwieweit eine Integration in die "deutsche Volksgemeinschaft" Ziel sein sollte oder ob es nicht besser sei, Deutschland zu verlassen. Überhaupt war es 1933 fraglich, ob weitere Vereinigungen neben den bereits bestehenden jüdischen Verbänden staatlicherseits genehmigt werden würden, wobei aus Sicht der Nationalsozialisten Zusammenschlüsse von Personen jüdischer oder teilweise jüdischer Herkunft überflüssig waren, da man sie unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit der "jüdischen Rasse" zurechnete. Die zukünftige Führung des Verbandes suchte daher frühzeitig den Kontakt zu Staats- und Parteifunktionären (S. 64), baute die Organisation nach dem "Führerprinzip" auf und verdeutlichte so von Anfang an den Interessenkonflikt, in dem sie sich während ihres als auch der Nachfolgeorganisationen Bestehens befinden sollte. Dieses Spannungsfeld reichte von dem Versuch, die Interessen der Mitglieder zu verwirklichen und der Zusammenarbeit mit dem Staat, um zum Verbot führende Mißverständnisse frühzeitig beseitigen zu können bis hin zur ursprünglich vorgesehenen Interessengemeinschaft einer bedeutenden Anzahl deutscher Christen. In der Realität blieb der Verband jedoch immer auf eine kleine Schicksalsgemeinschaft reduziert, welche zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung lediglich 5400 Mitglieder angehörten (S. 273). Gemeinsam war den Mitgliedern die Ablehnung des Judentums sowie die national-konservative Gesinnung, deren Wurzeln in der ehemaligen Zugehörigkeit zur höheren Mittelschicht lagen: der Industrie, des Handels und des Bildungsbürgertums. Die Geschichte des Verbandes und der nachfolgenden "Vereinigung 1937", deren Name keinerlei Hinweise auf den Inhalt des Verbandes mehr zuließ, ist eine Geschichte voller Mißerfolge und abnehmender Handlungsfähigkeit. Anfangs stand die Assimilationspolitik im Vordergrund, was zwar offiziell nie geändert wurde, doch bereits 1934 hatte man auf Seiten der Vereinsführung erkannt, daß der Reichsverband zu einer ins Abseits geschobenen Schicksalsgemeinschaft wurde. Die Einführung der "Nürnberger Gesetze" drohte den Verband zu spalten, da er nun vor die Aufgabe gestellt war, die Interessen von "Juden" und "Mischlingen 1. und 2. Grades" zu vertreten, die etwa zu gleichen Teilen dem Verband angehörten, jedoch unterschiedlich starker Verfolgung ausgesetzt waren. Hinzu kamen staatliche Interventionen, die von der erzwungenen Namensänderung in "Paulus-Bund" letzten Endes zum Ausschluß aller "jüdischen" Mitglieder und zur Gründung der "Vereinigung 1937" führte.
Vuletic stellt die Ausführungen zu den einzelnen Entwicklungsstadien des Vereins bzw. seiner Nachfolgeorganisation auf eine breite empirische Quellengrundlage, wobei er sich zu weiten Teilen auf bis 1989 sich in Staatsarchiven der DDR befindliches und daher nicht zugängliches Quellenmaterial stützt. Neben der Entwicklung des Vereins, seiner Arbeitsgebiete und deren zunehmender Ausweitung von Auswandererberatung und Unterstützung, der Stellenvermittlung und der Weiterbildungsangebote untersucht er die Entwicklung unter den verschiedenen Verbandsleitern. Neben dem Historiker Richard Wolff, der sein Amt wegen schwerwiegender finanzieller Vorwürfe (S. 148) niederlegte, widmet sich A.-S. Vuletic der Rolle Heinrich Spieros, der der einschlägigen Forschung vor allem wegen der Gründung des "Büros Spiero" bekannt ist. 6 Am Beispiel Spieros zeigt A.-S. Vuletic, welchen Verlust die Vereinigung durch die erzwungene Einhaltung der "Nürnberger Gesetze" und damit den Ausschluß aller "jüdischer" Mitglieder erfuhr. Zugleich verdeutlicht Vuletic das Wirken der polykratischen Strukturen im "Dritten Reich" am Beispiel des weiteren Verbotes des Namens "Paulus-Bund", wo sich zwar Propagandaministerium, Gestapo und SS über ein gemeinsames Vorgehen gegen die Vereinigung verständigten, das Innenministerium aber erst zu Beginn des Jahres 1937 zum Vorgehen gegen den "Paulus-Bund" bereit war (229). Die Ursachen für dieses Verhalten staatlicher Institutionen sieht der Autor vor allem in der außenpolitischen Situation und in der Durchführung der Olympischen Spiele 1936 in Berlin.
Es ist unzweifelhaft Verdienst der Studie, die bisher in der Forschung anzutreffende kirchengeschichtliche Perspektive oder aber die Perspektive der Geschichte der Judenverfolgung verlassen zu haben sowie einen breiten Überblick über die Forschungsliteratur zur Frage von Statistiken, Begriffen, institutioneller Unterstützung zu liefern. Im letzteren liegt jedoch zugleich der Kritikpunkt, den man an die Studie stellen kann, da trotz später Drucklegung ein Teil der neueren Forschungsliteratur keine Berücksichtigung fand.
Anmerkungen:
1 Oberlaender, Franklin A., "Wir aber sind nicht Fisch und nicht Fleisch". Christliche "Nichtarier" und ihre Kinder in Deutschland, Opladen 1996.
2 Vgl. Nowak, Kurt, Das Stigma der Rasse. Nationalsozialistische Judenpolitik und die christlichen Nichtarier, in: Kaiser, Jochen-Christoph/ Greschat, Martin (Hrsg.), Der Holocaust und die Protestanten. Analysen einer Verstrickung, Frankfurt/Main 1988, S. 73-99, hier S. 73.
3 Vgl. "Ein rastloser Aufklärer". Zum Tode von Ignatz Bubis, in: Frankfurter Rundschau, 16.08.1999; Ignatz Bubis, "Damit bin ich noch längst nicht fertig", Frankfurt/Main 1996.
4 Hilberg, Raul, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982.
5 Vgl. auf Seiten der Katholischen Kirche: Leugers, Antonia, "Gegen eine Mauer bischöflichen Schweigens. Der Ausschuß für Ordensangelegenheiten und seine Widerstandskonzeption, Frankfurt 1996; Wollasch, Hans-Josef, "Betrifft: Nachrichtenzentrale des Erzbischofs Gröber in Freiburg". Die Ermittlungsakten der Geheimen Staatspolizei gegen Gertrud Luckner, Konstanz 1999; Leichsenring, Jana, Gabriele Gräfin Magnis - Sonderbeauftragte Kardinal Bertrams für die Betreuung der katholischen "Nichtarier" Oberschlesiens: Auftrag, Grenzüberschreitung, Widerstand? Stuttgart 2000. Auf Seiten der evangelischen Kirche z.B.: Büttner, Ursula/ Greschat, Martin, Die verlorenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüdischer Herkunft im "Dritten Reich", Göttingen 1998.
6 Vgl. Ginzel, Günther B. (Hrsg.), Mut zur Menschlichkeit. Hilfe für Verfolgte während der NS-Zeit, Köln und Bonn 1993.