Die christliche Friedensbewegung in der Bundesrepublik und in Westeuropa

: Über Kreuz in der Raketenfrage. Transnationalität in der christlichen Friedensbewegung in Westeuropa 1979–1985. Baden-Baden 2017 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8487-3275-3 373 S. € 79,00

: Sicherheit neu denken. Die christliche Friedensbewegung in der Nachrüstungsdebatte 1977–1984. Baden-Baden 2017 : Nomos Verlag, ISBN 978-3-8487-3141-1 465 S. € 84,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benedikt Brunner, Abteilung für Kirchengeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Eckart Conze beschrieb die Geschichte der Bundesrepublik als eine „Suche nach Sicherheit“.1 In einem wichtigen Aufsatz von 2005 hatte er zur Erneuerung der Politikgeschichte aufgerufen und dabei den Sicherheitsbegriff ins Zentrum gerückt.2 Conzes eigene Arbeiten wurden nun durch zwei von ihm betreute Dissertationen vertieft. Dabei verbindet sich die so verstandene Geschichte der Sicherheit mit der Religionsgeschichte, was sich als durchaus fruchtbar erweist.3

Ausgangspunkt für Jan Ole Wiechmanns Arbeit ist die Frage, ob „sich die neue Friedensbewegung als Träger einer Modernitätskritik und als Ausdruck der Modernisierungskrise“ verstehen lässt (Einleitung, S. 21). Als Untersuchungsgruppe rückt der Autor dabei das christliche Spektrum in den Mittelpunkt, das, wie er mit Recht betont, zu den wichtigsten Trägergruppen der neuen Friedensbewegung gehörte. Im Untersuchungszeitraum stellten die Kirchen als „Resonanzräume für die friedens- und sicherheitspolitischen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 21) einen wesentlichen Faktor dar. Es ist positiv hervorzuheben, dass sich Wiechmann entschlossen hat, beide Konfessionen in den Blick zu nehmen. Damit greift er die Forderungen nach einer „shared history“ auf4 und gewinnt dadurch neue Erkenntnisse.

Im zweiten Kapitel stellt der Verfasser zunächst die Geschichte der Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik dar, mit einem Schwerpunkt auf der Genese und den Folgen des NATO-Doppelbeschlusses. Ferner rekonstruiert er die Entstehung der neuen Friedensbewegung sowie die Reaktion von Protestanten und Katholiken auf die „Nuklearkrise“. Im dritten Kapitel konzentriert Wiechmann sich dann auf die Nuklearwaffenproblematik im Kontext des Ost-West-Konflikts. Zwischen den 1950er- und den 1970er-Jahren habe sich die „Vorstellung einer Sicherheit vor der Sowjetunion hin zu einer Sicherheit mit der Sowjetunion“ (S. 121) gewandelt. Überzeugend stellt der Autor die Reaktion der christlichen Friedensbewegung auf das sich wandelnde Bild der Sowjetunion dar. Zu den Vorreitern dieser Bewegung gehörten die Protagonisten der „Politischen Theologie“ und des christlich-marxistischen Dialogs (wie Dorothee Sölle, Helmut Gollwitzer oder Johann Baptist Metz und Karl Rahner). Den hier erprobten Argumentationen konnte sich die christliche Friedensbewegung um 1980 anschließen. Insgesamt kann Wiechmann zeigen, dass deren Initiativen auf eine Entmilitarisierung des Ost-West-Konflikts zielten. Die alternativen Sicherheitsstrategien, die dabei entwickelt wurden – atomwaffenfreie Zonen, Plädoyers für eine defensive Verteidigung sowie die Entwicklung von Konzepten Sozialer Verteidigung –, wurden von den politisch Verantwortlichen durchaus zur Kenntnis genommen, da sie gesamtgesellschaftlich breit rezipiert wurden.

Das nächste Kapitel geht noch detaillierter auf den in der christlichen Friedensbewegung entwickelten „erweiterten Sicherheitsbegriff“ ein. Wie der Autor herausarbeiten kann, hatte diese Sicherheitsvorstellung eine „inhaltliche Nähe zum umfassenden, dynamischen bzw. erweiterten Friedensbegriff der Bibel“ (S. 293). Es sei innovativ gewesen, dass die christliche Friedensbewegung das Wirken für Frieden und Gerechtigkeit auch in den Sicherheitszusammenhang eingebunden habe. Neben der wirtschaftlichen Sicherheit erfolgten über das Thema der Ökologie ebenfalls inhaltliche Ausweitungen. Im fünften Kapitel fragt Wiechmann danach, ob sich innerhalb der christlichen Friedensbewegung und angesichts der geteilten Überzeugungen und Ansätze „neue Konsensformeln“ herausbildeten. „Sicherheitspartnerschaft“ und „Gemeinsame Sicherheit“ seien die beiden Schlüsselbegriffe gewesen, die sich ab 1982 herauskristallisiert hätten. Zunächst rekonstruiert der Verfasser gründlich die Genese dieser Termini, dann die Versuche ihrer Implementierung und schließlich ihre Wirkungen. Insgesamt stellt er plausibel dar, dass aufgrund des massiven Legitimitätsverlusts der Abschreckungsstrategie die Konzeptionen der christlichen Friedensbewegung stark an Akzeptanz gewinnen konnten.

Besonders anregend ist das sechste und letzte Kapitel: „Sicherheit neu denken: Die christliche Friedensbewegung als Manifestation eines Modernitätskonflikts“.5 Es sei keineswegs nur „die Absage an den NATO-Doppelbeschluss und das System nuklearer Abschreckung oder ein Plädoyer für ein umfassendes Verständnis von Gemeinsamer Sicherheit“ gewesen (S. 406), das sich in den Sicherheitskonzepten der christlichen Friedensbewegung ausgedrückt habe. Die Bewegung stand vielmehr für ein sehr verbreitetes Unbehagen an dem, was Ulrich Beck 1986 mit dem Schlagwort „Risikogesellschaft“ bezeichnet hat. Mehr noch, die christliche Friedensbewegung könne man „durchaus als Ausdruck und Katalysator allgemeiner gesellschaftlicher und sozialkultureller Entwicklungen in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren“ analysieren (S. 406). Damit weist Wiechmann quasi en passant auf ein zentrales Desiderat der Kirchen- und Theologiegeschichte hin: Dort steht eine intensivere Beschäftigung mit dem Zeitraum „nach dem Boom“ und seinen gesellschaftlichen Deutungen erst am Anfang.6 Auch in dieser Hinsicht gibt die Studie wertvolle weiterführende Hinweise.

In Sebastian Kaldens Dissertation steht die „Transnationalität in der christlichen Friedensbewegung“ im Mittelpunkt. Wie Kalden zu Recht herausstreicht, war die christliche Friedensbewegung keinesfalls ein Phänomen, das sich nur innerhalb nationalstaatlicher Grenzen entfaltete (vgl. S. 14). Und ähnlich wie Wiechmann hebt Kalden hervor, dass diese Bewegung „einen Großteil ihrer Unterstützung auch durch zivilgesellschaftliche Kräfte [erhielt], deren Bedeutung verloren gegangen zu sein schien: den religiösen Gruppen“ (S. 14). Angesichts der umfassenden gesellschaftlichen Ängste vor den Auswirkungen eines Atomkriegs seien religiöse Botschaften auf fruchtbaren Boden gefallen. Kaldens Leitfrage lautet: Inwiefern konnte die christliche Strömung innerhalb der Friedensbewegung – transnational gesehen – den Austausch unterschiedlicher Ideen für die politische Arbeit fruchtbar machen? Dabei konzentriert sich seine Studie auf die Bundesrepublik, die Niederlande und Großbritannien. Diese Auswahl erfolgte keineswegs zufällig. In den drei genannten Ländern, so Kalden, finden sich starke christliche Akteure; ferner habe sich die zeitgenössische Wahrnehmung ebenfalls auf diese drei Länder konzentriert, was für eine entsprechende Wirkmächtigkeit der Bewegungen in diesen Ländern spreche. Folgerichtig basiert seine Arbeit auf Material aus dortigen Archiven sowie auf weiteren gedruckten Quellen.

Transnationale Geschichte ist in den letzten Jahren zu einem populären Schlagwort geworden, das aber manches Mal theoretisch unterbestimmt geblieben ist. Dieses Defizit findet sich in Kaldens Studie nicht. Wie er treffend formuliert, sollte der transnationale Zugang keinen Selbstzweck darstellen. Bezogen auf sein Thema gelingt ihm eine überzeugende inhaltliche Begründung, die er in der Einleitung mit der These verbindet, dass die Friedensbewegung „ohne einen transnationalen Austausch nicht ihre immense Intensität und Wirkkraft erreicht hätte“ (S. 27).

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit der Dynamisierung der transnationalen Friedensarbeit nach dem NATO-Doppelbeschluss in den Jahren 1979 bis 1981. Der christliche Beitrag zur neuen Friedensbewegung habe im Transfer bestanden. Man beeinflusste sich wechselseitig im Hinblick auf die jeweiligen Inhalte und Aktionsformen, wie Kalden etwa am Beispiel des „niederländischen Exportschlagers ‚Friedenswoche‘“ zeigen kann. Im dritten Kapitel analysiert er die unterschiedlichen Verflechtungen während der Demonstrationszeit, also von 1981 bis 1983. Aufschlussreich ist, wie dynamisch die transnationalen Austauschprozesse sich auch bei der Pluralisierung der Aktionsformen auswirkten. Die Festivals, Patenschaften und nuklearwaffenfreien Zonen, die Kalden als konkrete Orte und Praxisfelder des Transfers untersucht, sind bislang in ihrer historischen Bedeutung wohl unterschätzt worden. Auch der Hamburger Deutsche Evangelische Kirchentag von 1981 war bisher nicht „als Katalysator niederländischer Ideen“ bekannt (S. 170). Unter anderem in der Fülle solcher neuen und weiterführenden Erkenntnisse liegt der Wert dieser Studie.

Im vierten und letzten Kapitel untersucht Kalden die „Verlagerung der Interessen im ‚Nachherbst‘ 1984–85“. Hierfür sorgten unter anderem die strukturellen und personellen Umbrüche. Nun gelang es nicht mehr, die Mobilisierungserfolge der vorherigen Jahre zu wiederholen, da das „single issue“, also das Verhindern der Nachrüstung, gründlich und für alle sichtbar gescheitert war. Dennoch konnten alle Gruppen ihr Engagement am Ende als einen Erfolg verbuchen, weil sie davon überzeugt waren, die „Diskurslandschaften über Frieden und Sicherheit verschoben“ (S. 339) und damit, wenn auch indirekt, den Kurs Gorbatschows begünstigt zu haben (vgl. ebd.).

Beiden Studien ist gemein, dass sie trotz der fortschreitenden Säkularisierung (oder vielleicht besser: der gewandelten Religiosität) der westeuropäischen Gesellschaften die Wirkungsmöglichkeiten christlich beeinflusster religiöser Bewegungen unterstreichen können. Und es ist nicht untypisch, dass sich die „Erfolge“ der christlichen Friedensbewegungen keinesfalls in direkten politischen Entscheidungen niederschlugen. Stattdessen gelang es oftmals, Begriffe und Themen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und somit indirekt auf das „Agenda Setting“ Einfluss zu nehmen. Im Einsatz für den Frieden gelang es christlichen Gruppen, die nationalen, einzelstaatlichen Rahmen zu sprengen und zu einer genuin transnational geprägten, (west)europäischen Bewegung zu werden. Die beiden hier angezeigten Bücher ermöglichen uns ein vertieftes Verständnis der christlichen Friedensbewegung um 1980 und regen zu weiteren Arbeiten an.

Anmerkungen:
1 Eckart Conze, Die Suche nach Sicherheit. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis in die Gegenwart, München 2009; jetzt auch ders., Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2017.
2 Ders., Sicherheit als Kultur. Überlegungen zu einer „modernen Politikgeschichte“ der Bundesrepublik Deutschland, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 53 (2005), S. 357–380, http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/2005_3_1_conze.pdf (21.02.2018).
3 Dies hat auch schon Daniel Gersters überzeugende Dissertation gezeigt; vgl. Daniel Gerster, Friedensdialoge im Kalten Krieg. Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik, 1957–1983, Frankfurt am Main 2012.
4 Vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2007, S. 31–50.
5 Siehe dazu auch Eckart Conze, Modernitätsskepsis und die Utopie der Sicherheit. NATO-Nachrüstung und Friedensbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 220–239, http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2010/id=4437 (21.02.2018).
6 Siehe etwa Michael Schüring, „Bekennen gegen den Atomstaat“. Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland und die Konflikte um die Atomenergie 1970–1990, Göttingen 2015; Sebastian Tripp, Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970–1990, Göttingen 2015; Luise Schramm, Evangelische Kirche und Anti-AKW-Bewegung. Das Beispiel der Hamburger Initiative kirchlicher Mitarbeiter und Gewaltfreie Aktion im Konflikt um das AKW Brokdorf 1976–1981, Göttingen 2018.