W. Kautek u.a. (Hrsg.): Zeit in den Wissenschaften

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Titel
Zeit in den Wissenschaften.


Herausgeber
Kautek, Wolfgang; Neck, Reinhard; Schmidinger, Heinrich
Reihe
Wissenschaft – Bildung – Politik 19
Erschienen
Anzahl Seiten
262 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Landwehr, Historisches Seminar VIII, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Man beginne die Lektüre des Sammelbandes „Zeit in den Wissenschaften“ mit dem Beitrag des Medientheoretikers Stephan Günzel. Denn Günzel klärt uns Lesende über die Irrealität der Zeit auf. Unter Rückgriff auf die bekannte Argumentation des Sprachphilosophen John McTaggart weist Günzel die Zeit als ein Differenzierungsphänomen aus, das seine einzige Konkretisierung in Raumverhältnissen beziehungsweise in räumlichen Bewegungen finde. Während er selbst diese grundsätzliche These durch die Untersuchung unterschiedlicher medialer Formen weiterführt, mit denen die Zeit ins (gemalte, fotografische, filmische, digitale) Bild gesetzt wird, bleibt die Leserschaft rätselratend zurück mit der Frage, ob sich eine weitere Lektüre dieses Sammelbandes jetzt noch lohnen könne. Immerhin hat sich diese Publikation eben die „Zeit in den Wissenschaften“ als Gegenstand vorgenommen – nur um mit Günzel festzustellen, dass es diesen Gegenstand überhaupt nicht gibt?

Die Österreichische Forschungsgemeinschaft organisiert jedes Jahr einen Wissenschaftstag zu einem disziplinär übergreifenden Thema, und nachdem bei vorherigen Gelegenheiten unter anderem die Freiheit, die Ethik, die Kommunikation, die Globalisierung oder die Wahrheit verhandelt worden waren, war im Jahr 2015 die Zeit an der Reihe. Und wie es kaum anders sein kann, wenn Menschen mit sehr unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen über ein so allumfassendes und ubiquitäres – und offenbar irreales – Thema wie die Zeit räsonieren, kommt nicht unbedingt ein konzises Ergebnis in Form einer inhaltlich geschlossenen Veröffentlichung heraus.

Man darf daher dieses Buch trotz des vollmundigen Titels nicht mit allzu hohen Erwartungen überfrachten. Hier wird weder geklärt, was die Zeit ist (Günzels Überlegungen stellen da eher eine hervorzuhebende Ausnahme dar), noch finden sich ‚die Wissenschaften‘ in einer halbwegs repräsentativen Form vertreten. Hier liegt vielmehr ein Buch vor, das einige höchst individuell operierende Menschen versammelt, die versuchen, dem Thema der Zeit mit Blick auf ihr Spezialgebiet einige Erkenntnisse abzuringen. Für das spezialisierte Publikum wird dabei in den jeweiligen Themenbereichen kaum Neues oder Erkenntnisreiches zu holen sein. Aber für diejenigen, die sich dem Thema ‚Zeit‘ von der Warte anderer wissenschaftlicher Ansätze widmen wollen, bietet dieser Band eine passende Gelegenheit.

Gerhard Dohrn-van Rossum geht in seinem Beitrag einem nahezu klassischen Thema der Zeitforschung nach, nämlich der Geschichte der Uhren. Bereits vor 25 Jahren hat Dohrn-van Rossum einen rasch zur Standardlektüre gewordenen Band über die „Geschichte der Stunde“ vorgelegt. Im vorliegenden Aufsatz fasst er daraus wesentliche Ergebnisse zur Entwicklung der Räderuhr mit Hemmung zusammen und fragt nach den möglichen Bedeutungen der Zeitmessung in den Wissenschaften um 1300.

Die Japanologin Brigitte Steger wendet sich einem nicht minder etablierten Gegenstand in der Erforschung der Zeit zu, nämlich der Kontrastierung eigener, für selbstverständlich gehaltener Zeitmodelle europäischer Provenienz mit gänzlich anders gearteten aus anderen Kulturkreisen. Für das Japan des 7. bis 19. Jahrhunderts (wohlgemerkt: nach christlicher Zeitrechnung) fragt Steger insbesondere nach den Möglichkeiten und Formen der Zeitmessung, und zwar zur Tages- wie zur Nachtzeit. Denn wie man sich in unserer vollständig durchgezeiteten Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts kaum noch vorzustellen vermag, war es in Gesellschaften ohne flächendeckende Versorgung mit mechanischen Uhren so gut wie unmöglich, des nachts herauszufinden, wie ‚spät‘ es eigentlich ist. Von astrologischen Kalendern über unterschiedliche Formen der Stundenmessung bis zur Einführung des Gregorianischen Kalenders in Japan bietet dieser Aufsatz einen guten Überblick.

Christian Korunka widmet sich als Psychologe der Frage der Zeit wiederum von einer ganz anderen Warte. Sein Beitrag fasst vor allem die Ergebnisse empirischer Forschungen zusammen, welche die Auswirkungen von Beschleunigungsprozessen auf gegenwärtige Arbeitswelten haben. Von der Dauerverfügbarkeit aufgrund entsprechender Kommunikationsmöglichkeiten über die Auflösung der Trennung von Arbeitszeit und Freizeit bis zur Burnout-Diagnose werden hier aktuelle Diskussionspunkte vorgestellt.

Der aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen bekannte Sprachforscher Harald Haarmann geht das Zeitthema in seinem Beitrag etwas anders an. Er verfolgt in höchster Verdichtung die Entwicklung menschlicher Sprachfähigkeit von ihren möglichen Anfängen bis zur Ausbildung komplexer Sprachen. Leider reserviert er nur einen letzten, kurzen Abschnitt für die Frage, wie sich in Sprachen die Möglichkeiten verändert haben, unterschiedliche Zeitformen zu bezeichnen und insbesondere Zukünftiges sprachlich zum Ausdruck zu bringen.

Der Anglist Ansgar Nünning spürt den Zeitvorstellungen nach, wie sie sich insbesondere in der Literatur des 20. Jahrhunderts manifestieren, wie dort Vielzeitigkeit thematisiert wird oder ein sogenanntes „Achtsamkeitstempo“ eine Rolle spielen kann. Unter Rückgriff auf etablierte Beispiele aus der erzählenden Literatur, in der auch immer wieder Zeitkulturen eine Rolle spielen – Virginia Woolf ist hier die wichtigste Gewährsfrau – betont Nünning vor allem die Eigenzeiten, die sich in diesem ästhetischen Kontext ausbilden.

Werner Goebl konzentriert sich in seinem Beitrag auf diejenige Form ästhetischer Erfahrung, von der regelmäßig und durchaus nachvollziehbar behauptet wird, sie sei die Zeit-Kunst schlechthin: Musik wird in seinem Beitrag aber nicht in einem allgemeinen Sinn als sich in der Zeit vollziehende Kunst vorgeführt, sondern als ein empirisch zu untersuchender Faktor in der Aufführungspraxis. Es geht, mit anderen Worten, um die Analyse individueller Tempi bei der Interpretation ein und desselben Stücks. Musik wird damit, im wahrsten Sinn des Wortes, sichtbar nicht nur als eine Kunst, die sich in der Zeit ausbreitet, sondern die Formen von Zeitlichkeit selbst hervorbringt.

Den Abschluss bildet Anne Koch mit einem religionswissenschaftlichen Blick auf die Frage, wie wir in unserer Gegenwart die Zeit bewirtschaften, mit welchen Zeitformen das frühe 21. Jahrhundert also operiert und seinen Alltag gestaltet. Die religionswissenschaftliche Perspektive ist dabei hilfreich, weil sie für einen weiteren gesellschaftlichen Zusammenhang Formen von Endzeitlichkeit, aber auch von Geburtszeiten entsprechend einordnen kann.

Bleibt die Frage, wie sich angesichts so vieler Beispiele von Zeitlichkeit die These aufrechterhalten lässt, dass Zeit irreal sei. Nun, genau in dem Sinn, wie Stephan Günzel diese Aussage verstanden wissen wollte, indem man Zeit nämlich nicht als apriorische Größe, als gewissermaßen eigenständige Dimension voraussetzen kann, sondern Zeit immer nur in dem Sinn hervorgebracht wird, wie man sich gegenwärtig auf etwas bezieht, das es nicht mehr oder noch nicht gibt – also auf Nicht-Existentes. Genau dafür liefert dieser Band instruktive Beispiele.

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