Das Jahr 2016 hat gezeigt: Nationalismus ist geschichtsmächtig und trotz der intensivierten Globalisierungsprozesse seit den 1990er-Jahren nicht ad acta gelegt. Als Antwort auf die Frage, worin sich diese Wirksamkeit begründet, entwickelt Thorsten Mense ein auf der Kritischen Theorie fußendes, ideologiekritisches Verständnis der Nation und des Nationalismus. Bisherige Ansätze kritischer Nationalismusforschung – der Autor bezieht sich vor allem auf Eric Hobsbawm, Ernest Gellner und Benedict Anderson – fokussieren den Prozess des nation building. Sie können die Entstehung des Nationalismus als Prozess sozialer und politischer Organisation zwar plausibel nachzeichnen, aber seine „fortwährende Bedeutung als Ordnungsprinzip als auch als Bewusstseinsform nicht hinreichend erklären“ (S. 21). Diesen Mangel führt Mense primär auf die „Nichtbeachtung der subjektiven Seite des Nationalismus“ (S. 22) zurück, die er als sozialpsychologische Ebene der Nationalistinnen und Nationalisten fasst. Um die fortwährende Anziehungskraft des Nationalismus zu begreifen, sieht er die Einbindung der „gesellschaftlichen Praktiken“ in die Theorie der Nation als Notwendigkeit an. Die Nation als Denkform äußere sich zum einen als Wahrnehmungsstruktur, insofern die Nation entweder als Identifikations- oder als Ordnungsmuster zur Verarbeitung der komplexen Realität dient. Zum anderen manifestiert sich Nationalismus als durch sichtbare politische Tätigkeit ausgedrückte Handlungsstruktur, etwa in Form nationaler Bewegungen.
Auf diesem sozialpsychologischem Schwerpunkt aufbauend gliedert Mense seine weiteren Ausführungen in vier thematische Blöcke. Einer Aufzählung der Bestandteile des Konstrukts Nation schließt sich die Erläuterung einer auf materialistischer Ideologiekritik fußenden Theorie der Nation an. Im dritten Themenblock erläutert Mense die Struktur nationaler Befreiungsbewegungen, wobei er eine globale Perspektive einnimmt. Dem folgt schließlich eine schlaglichtartige, ideengeschichtliche Darstellung zum widersprüchlichen Verhältnis von Nationalismus bzw. nationaler Befreiungsbewegungen und der kommunistischen Linken.
Das Nebeneinander von lexikalisch und theoretisch ausgerichteten Kapiteln im Aufbau des Bandes zeigt zwei konträre Ziele an, da der Autor sowohl einen Einführungsband in den Begriff des Nationalismus liefert als auch eine spezifische Theorie des Nationalismus elaboriert. Dies birgt leider auch Redundanzen: So wird beispielsweise im ersten Themenblock die „ethnische Zugehörigkeit“ (S. 49f.) als ein Baustein der Nation erläutert und sodann in der anschließenden theoriegeleiteten Kritik, die Nation als notwendig ethnisches Bewusstsein (S. 101ff.) herausgestellt. Dagegen bleiben andere Bausteine des Konstrukts der Nation – etwa das Verhältnis des Nationalismus zum Antisemitismus oder zu den Geschlechtern – in der folgenden Theorieentwicklung unberücksichtigt. Stattdessen wäre wohl ein Aufbau vorzuziehen gewesen, der die Bestandteile der Nation als Konstrukt aus der entworfenen Theorie abgeleitet und somit die Entwicklung der Theorie des Nationalismus als primäres Ziel der Monographie hervorgehoben hätte. Ein solcher Aufbau könnte a) die erklärende Kraft der Theorie aufzeigen und b) zuungunsten des einführenden und lexikalischen Charakters des Bandes etwaige Redundanzen minimieren.
Kernstück des Bandes ist die Explikation der ideologiekritischen Theorie des Nationalismus. Aufbauend auf der von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer entwickelten Kritischen Theorie sowie weiterführenden Arbeiten von Detlev Claussen entwirft Mense einen dialektischen Begriff der Nation. Demnach bildete die Idee der Nation im ausgehenden 18. Jahrhundert die Grundlage einer rationalen Organisation kapitalistischer Produktions- und Tauschverhältnisse, welche sich im Nationalstaat des 19. Jahrhunderts durchsetzten und schließlich den Weltmarkt bildeten. Zentrale Funktion der Nation in dieser Genese ist die Legitimierung politischer und ökonomischer Herrschaft. Dabei dient die Berufung auf die Nation als überindividueller Wert und ihre quasi-religiöse Aufladung dazu, ökonomischer Ungleichheit Sinn zu verleihen, bzw. ökonomischer Ungleichheit durch nationale Gleichheit zu überdecken und die politischen und ökonomischen Interessen des Wirtschafts- und Bildungsbürgertums als allgemeine Interessen zu formulieren.
Gleichwohl fungiert die nationale Zugehörigkeit auch als Legitimation für die Inanspruchnahme sozialer Rechte und politischer Teilhabe, weshalb die Identifikation des Einzelnen mit der Nation zur Verbesserung seiner gesellschaftlichen Stellung beiträgt. Da die nationale Gemeinschaft insbesondere über zunächst kulturelle, bald ethnische Identifikationsmuster hergestellt wird, geben die Begriffe Kulturnation oder Staatsnation nur Tendenzen dieses Prinzips wieder. Die ethnischen Bestandteile der Nation sowie die gemeinsam geteilten ökonomischen Interessen sind zwar auch soziale Konstruktionen und geben jeder Nation ihren Charakter. Sie besitzen aber für das Individuum soziale Realität, welche durch die Flagge am Rathaus ebenso wie durch die Einreisebeschränkung oder in Form von wirtschaftlichen Krisen bei schlechter „Standortpolitik“ unmittelbar erfahrbar wird (S. 91). Diese objektive Seite der Nation wird wegen ihrer hegemonialen Stellung auf subjektiver Seite schließlich nicht mehr als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses wahrgenommen und erstarrt zur zweiten Natur (S. 94). Nationalismus ist demnach durch Internalisierung ertragbar gemachte Herrschaft. Angelehnt an den Begriff der Ideologie von Karl Marx bezeichnet Mense Nationalismus deshalb als „notwendig ethnisches Bewusstsein“ (S. 101), wobei ethnische Zugehörigkeit sich in Abgrenzung zu bestehenden Nationen konstituiert, sofern sie noch keinen Ausdruck in einem eigenen Nationalstaat findet. Aus der Antinomie zwischen Anerkennung und Herrschaft, sozialer Realität und Konstruktion sowie Teilhabe und Exklusion entwickelt Mense einen dynamischen Begriff der Nation als Denkform und grenzt ihn vor allem von dekonstruktivistischen Ansätzen ab: Insofern diese Ansätze die objektive Notwendigkeit der Internalisierung nationaler Denkmuster für das Subjekt vernachlässigen, laufen sie wegen des „ideologischen Doppelcharakters [der Nation] als reale Fiktion“ (S. 197) ins Leere und können die andauernde Wirkmächtigkeit der Nation nicht erklären.
Die Wendung auf das Subjekt und dessen objektive Zwänge erlaubt, die der Nation inhärente Dialektik von Freiheit und Herrschaft zu erörtern. Die daraus entwickelte Ideologiekritik birgt als Ansatz das Potential, die ideengeschichtliche Entwicklung des Nationalismus in den Kontext seiner materialistischen Entwicklung zu stellen und verknüpft die Perspektiven und Motive der politisch tätigen historischen Subjekte mit ihrer objektiven materiellen Stellung.
Der Begriffsentwicklung anschließend schildert Mense im Parforceritt die Geschichte nationaler Befreiungsbewegungen und setzt auf Lexikalität, insofern die antikolonialen Kämpfe in Afrika, die nationalen Befreiungsbewegungen in Europa sowie die sozialrevolutionären Kämpfe in Lateinamerika angesprochen und auch gegenwärtige nationale Guerillas (die kurdische PKK, die baskische ETA sowie die mexikanische EZLN) verglichen werden. Der 200 Seiten starke Band lässt allerdings keine tieferen Analysen der sehr diversen antikolonialen und nationalen Befreiungsbewegungen zu. Statt lexikalische wären wohl exemplarische und dafür fundierte Darstellungen und Interpretationen ausgewählter nationaler Befreiungskämpfe sinnvoll gewesen. Dies wäre zwar zu Lasten des einführenden Charakters gewesen, hätte jedoch Raum für eine tiefergehende Prüfung des empirischen Gehalts der zuvor explizierten Theorie der Nation ermöglicht.
Angesichts des vom Autor geforderten Blicks auf die ideologischen Wahrnehmungsstrukturen politischer Akteure ist das Kapitel zum Verhältnis des Nationalismus und nationaler Befreiungsbewegungen in der kommunistischen Linken überzeugender. Zentral sind hier zwei Thesen: Zum einen entzünden sich die im Buch skizzierten konfliktreichen Auseinandersetzungen kommunistischer Akteure in Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen an der „Widersprüchlichkeit zwischen Universalität und Partikularität“ (S. 162) des Nationalismus. Zum anderen sickerte der Nationalismus schon bald, nachdem Karl Marx ihn als „Übergangsphänomen“ (S. 163) abgetan hatte, in das kommunistische Denken ein. Mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker setzte sich „in der Arbeiterbewegung die Ansicht durch, dass es sich bei der nationalstaatlichen Ordnung quasi um ein Naturgesetz handeln müsse“ (S. 172). Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion wurde der nationalistische Antiimperialismus durch globalisierungskritische und antinationale Strömungen aufgehoben, wobei die parteigebundene Linke „weiterhin international, und nicht antinational ausgerichtet“ (S. 184) ist. Die ideengeschichtliche Entwicklung zeichnet der Autor kompakt nach. Vage bleibt jedoch, wie das Einsickern der Nation in den Sozialismus mit dem Wandel der materiellen Stellung von Sozialistinnen und Sozialisten korreliert, obwohl dieser Zusammenhang auf Basis des theoretischen Gerüsts von Relevanz wäre.
Die überzeugende Leistung des Autors ist es, die bislang nur vereinzelten Entwürfe einer auf der „Frankfurter Schule“ basierenden Theorie der Nation1 mit dem Band „Kritik des Nationalismus“ in eine kompakte Theorie zu überführen und in den Kontext historischer Nationalismusforschung zu stellen. Indem er die subjektiv-kulturelle Seite des Nationalismus mit der objektiv-materialistischen Seite als notwendig falsches Bewusstsein verknüpft und das Verhältnis von Freiheit und Herrschaft als dialektisch verbunden fasst, gelingt Mense ein Ansatz, der das Potenzial besitzt, sowohl über orthodox materialistische wie über dekonstruktivistische Ansätze hinauszugehen.
Anmerkung:
1 z.B. Alex Demirović, Kritische Theorie und Nationalismus, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 2/1996, S. 223–234; Detlev Claussen / Oskar Negt / Michael Werz (Hrsg.), Kritik des Ethnonationalismus, Frankfurt am Main 2000.