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Titel
Kybernetisch regieren. Architektur des Bonner Bundeskanzleramtes 1969–1976


Autor(en)
Ziegler, Merle
Reihe
Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 172, Parlament und Öffentlichkeit 6
Erschienen
Düsseldorf 2017: Droste Verlag
Anzahl Seiten
396 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sylvia Necker, Department of History, University of Nottingham

„Kybernetisch regieren“ ist kein Titel, unter dem sich architekturaffine Zeit- und Kunsthistoriker/innen eine Arbeit zu einem der wichtigsten und aufregendsten Beispiele politischer Architektur der alten Bundesrepublik vorstellen. Vielleicht liegt die Verwirrung beim Lesen des Titels aber auch an der Rezeptionsgeschichte des Gebäudes, in der es gerade nicht als aufregend und wichtig, sondern als unscheinbare, Sparkassen-ähnliche Architektur (S. 9) wahrgenommen wurde. Damit teilt das Bonner Bundeskanzleramt, das zwischen 1969 und 1976 in unmittelbarer Nähe des Kanzlerbungalows nach Entwürfen der Planungsgruppe Stieldorf errichtet wurde, allerdings das Schicksal vieler Architekturen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre. Zudem kann man fast schon froh sein, dass dieses Gebäude überhaupt noch wahrnehmbar ist, also noch steht, blickt man auf den Abrisswahn der letzten zwei Jahrzehnte. Seit 2005 wird der Bau vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung als erster Dienstsitz genutzt. Doch ist Merle Zieglers kunsthistorische, von Michael Diers an der Humboldt-Universität zu Berlin betreute Dissertation keine Auseinandersetzung mit Inwertsetzungskriterien im gegenwärtigen bundesrepublikanischen Denkmalschutz, sondern eine grundsolide Studie über einen von der architektur- und zeitgeschichtlichen Forschung bislang völlig zu Unrecht übersehenen Bau der Nachkriegsmoderne in Westdeutschland.

Der nächste Überraschungseffekt setzt ein, schlägt man das Buch auf (im Format etwas größer als DIN A5 und damit grafisch zwischen klassischer Bleiwüsten-Dissertation und Architekturpublikation schwankend). Ja, richtig gelesen: errichtet nach Entwürfen der Planungsgruppe Stieldorf. Kein großer Architektenname, sondern eine Gruppe junger Architekten, die dem behördlichen Planungsapparat mit Unterstützung der Unternehmensberatung „Quickborner Team“ zuarbeiteten, zeichnete verantwortlich für den Bau. Und damit sind wir mitten im Thema: Das Bonner Bundeskanzleramt orientierte sich im Planungsprozess erstmals an organisationskybernetischen Kriterien.1

Merle Ziegler wählt für ihre Untersuchung der Baugeschichte des Kanzleramts eine logisch aufeinander aufbauende Gliederung: Im ersten Kapitel leitet die Autorin die kybernetische Herangehensweise an die Architektur aus Willy Brandts Reformprojekt einer grundlegenden Regierungsmodernisierung ab, um im zweiten Kapitel die „Bauaufgabe und Entwurfserlangung“ zu beschreiben. Das dritte Kapitel widmet sich der Bauanalyse, die einen schlüssigen Nachweis liefert für die Neuartigkeit, ein Regierungsgebäude durch eine kybernetische Struktur nach einem eigenen Ordnungsprinzip zu errichten. Im abschließenden vierten Kapitel stehen die Ausstattung des Baus mit Kunst sowie ihre Medialisierung in den 1970er- und 1980er-Jahren im Mittelpunkt. Die gesamte Studie fußt auf einer breiten Quellen- und Literaturbasis, inklusive Interviews mit beteiligten Architekten und Planern.

Eine absolute Stärke von Zieglers Untersuchung ist das genaue Herauspräparieren der Entstehungsgeschichte des Baus, wenngleich die Arbeit durch ihre Detailliertheit für architekturunaffine Leser/innen bisweilen mühsam zu rezipieren ist. Akribisch schildert die Autorin die Interessenlagen und Bedürfnisse der Amtsleitung, die Beratung und Unterstützung durch den Kybernetik-Think Tank „Quickborner Team“, der in unmittelbarer Nähe des Bauplatzes einen Planungspavillon errichten ließ, und den Austausch in der Ende 1969 eingerichteten „Arbeitsgruppe Neubau Bundeskanzleramt“, die die Auslobung eines Wettbewerbs 1970/71 vorbereitete. Dieser Planungsprozess sollte das „moderne Deutschland“ der sozial-liberalen Koalition demonstrieren (S. 76) und die neuen, von der kybernetischen Organisationstheorie inspirierten, im Planungspavillon getesteten Arbeitsmethoden erstmals in das Schnittfeld von Architektur und Politik übertragen. Augenfälligste Umsetzung war die Transformation der Büroflächen in Großraumbüros, die Teamarbeit ermöglichen sollten. Diese Organisationsform stand programmatisch für eine flexible und kreative Verwaltungsarbeit.

Den Wettbewerb konnte die „Planungsgruppe Stieldorf“ für sich entscheiden. Die Bundesbaudirektion hatte 1962 ein Beratergremium eingerichtet, dem drei für den Wiederaufbau Westdeutschlands zentrale Architekten angehörten: Paul Baumgarten, Egon Eiermann und Sep Ruf. Diese benannten ihrerseits junge Architekten, die Regierungsbauten für die Bundeshauptstadt Bonn entwickeln sollten, woraus sich in den Folgejahren die „Planungsgruppe Stieldorf“ gründete. Das Bundeskanzleramt war das bis dahin größte Projekt der Planungsgruppe. Das Ergebnis wie auch der gesamte Wettbewerbsprozess wurden in der Öffentlichkeit und der Architekturkritik sehr kritisch gesehen, nicht zuletzt, weil dem Entwurf aufgrund seiner Fokussierung auf Verwaltungsabläufe ein ästhetischer Aspekt zu fehlen schien. Eine architektonische Ausgestaltung im Sinne einer repräsentativen Fassade enthielt der Entwurf jedenfalls nicht, weshalb der Bau nach seiner Fertigstellung 1976 schnell als „Architektur-Unfall“ (S. 256) rezipiert wurde.

Intendierten die Bauherren des Bundeskanzleramts tatsächlich ein Hintanstellen der „visuellen Repräsentation des Politischen in der Architekturform“ (S. 355)? Zeitgenössisch und in der Architekturrezeption der letzten Jahrzehnte mag das die vorherrschende Wahrnehmung gewesen sein. Doch ließe sich die unauffällige Architekturform aus der Sicht gegenwärtiger Forschung auch als eine eigenständige visuelle Form des Understatements lesen, gerade wenn doch der Neubau des Bundeskanzleramts nicht zuletzt als Versuch gewertet werden soll, sich als Gegenmodell zu den explizit sichtbaren und dominanten Formen der Repräsentationsbauten im Nationalsozialismus zu gerieren. Zehn Jahre zuvor entstandene legislative Bauten hatten diesen Beweis schon angetreten: das Haus des Landtags in Stuttgart – 1961 eingeweiht, gebaut nach einem Entwurf von Kurt Viertel, durchgeführt von der Landesbauverwaltung und gleichermaßen durch die Materialität der eloxierten Fassade von außen als dunkel und dennoch in der Gesamtwirkung als transparenter Bau wahrgenommen – und der 1962 fertiggestellte Hannoveraner Landtag (nach einem Entwurf des Architekten Dieter Oesterlen). Die von der Kybernetik inspirierten damaligen Architekten sahen jedoch im Bau des Bundeskanzleramts interessanterweise ein Beispiel, wie mit „organisatorischem Funktionalismus“ der „ästhetische Funktionalismus“ der Nachkriegsmoderne überwunden werden könne (S. 258ff.).

Bundeskanzler Helmut Schmidt, seit Mai 1974 im Amt, transformierte den vermeintlichen Architekturunfall „rheinische Sparkasse“, der zwar medial enttäuschte, aber funktional stets überzeugte, in eine Erfolgsgeschichte. Durch ein ambitioniertes Kunstprogramm – im Außenbereich etwa Henry Moores Skulptur „Large Two Forms“, die 1979 nach Bonn kam, – integrierte er die Kunst in die „Repräsentation des Politischen“ (S. 361).

Im Ausblick ihrer Studie diskutiert Ziegler die Wirkung des Bonner Amts auf den Berliner Neu- und Nachfolgebau. Funktional sei der Bonner Bau so gelungen gewesen, dass die Architekten des 2001 fertiggestellten Berliner Baus, Axel Schultes und Charlotte Frank, zentrale Elemente des Raumprogramms adaptiert hätten. Interessanterweise geht die Autorin nicht auf die Rezeption und die mediale Zuschreibung als „Bundeswaschmaschine“ ein. Dabei wäre gerade in einem Ausblick interessant gewesen, was die Verschiebung vom „Sparkassengebäude“ zur „Waschmaschine“ über die visuelle Repräsentation der Exekutive in der Bundesrepublik aussagen mag.

Aus Sicht der Rezensentin hätte dem Buch ein konsequenterer Umgang mit dem Bildmaterial gutgetan. Die Seiten mit vielen Fußnoten bekommen die Abbildungen dazwischengesetzt, ohne eine konzentriertere Auseinandersetzung mit den vielen Grundrissen, Fotografien und dem Planmaterial zu ermöglichen. Es handelt sich eher um eine Bebilderung und eine Verwendung als Beleg, statt das dichte Material als Ausgangspunkt für die Analyse zu nehmen. Leider wurde auch die Möglichkeit verschenkt, das Bildmaterial durch ausführlichere Legenden aufzuwerten und ihm damit einen eigenen Stellenwert in der Arbeit zu geben, wozu auch ein Vierfarbdruck der Publikation statt des Einsatzes separater Bildtafeln geholfen hätte.

Diese Kritik soll den Wert dieser Pionierarbeit zum Bonner Bundeskanzleramt aber nicht schmälern. Es ist ausgesprochen wünschenswert, dass noch viele ähnlich detailreiche Studien zur Nachkriegsarchitektur der Bundesrepublik erscheinen. Da etliche dieser Bauten gefährdet sind, haben solche Untersuchungen dann nicht nur für die gegenwärtige Forschung großen Wert, sondern erweisen sich im Fall eines Abrisses – Denkmalschutz rettet ja mittlerweile nicht mehr vor Zerstörung – auch als wichtig für die Zukunft: Sie können zumindest akribisch belegen, warum es sich bei den Ensembles der Nachkriegsmoderne um wegweisende und schützenswerte Baustrukturen handelt(e).2

Anmerkungen:
1 Für den Zusammenhang von Architektur und Kybernetik siehe auch Georg Vrachliotis, Geregelte Verhältnisse. Architektur und technisches Denken in der Epoche der Kybernetik, Wien 2012. Nicht aus architekturhistorischer Perspektive argumentierend, sondern zeitgenössische Beispiele dokumentierend: Günter Pfeifer, Kybernetische Architektur, Freiburg 2016.
2 Adrian von Buttlar / Christoph Heuter (Hrsg.), denkmal! moderne. Architektur der 60er Jahre. Wiederentdeckung einer Epoche, Berlin 2007.

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