Die meisten Studien zu Portugal im 20. Jahrhundert beschäftigen sich schwerpunktmäßig mit dem Estado Novo, der Diktatur von António de Oliveira Salazar. Im Rahmen dieses autoritären Staates thematisieren sie auch die Kolonialproblematik, vor allem deren letzte Phase, die schließlich zur „Nelkenrevolution“ vom 25. April 1974, zum Zusammenbruch des „Neuen Staates“ und zur Dekolonisierung führte. Bis unmittelbar vor dem Ende der kolonialen Ära beruhte das Selbstbild Portugals in geradezu einmaliger Weise auf seiner imperialen Erfahrung und der „Entdeckertradition“, so dass der drohende Wegfall dieses fundamentalen Bestandteils nationaler Realität in vielfältiger Weise auf die Metropole zurückwirken musste. Das Kolonialimperium wurde zum zentralen politischen Problem Portugals in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren.
Die Studie Christiane Abeles behandelt die innere Dimension des portugiesischen Spätkolonialismus und seiner massiven Infragestellung durch Befreiungsbewegungen und Öffentlichkeit. Entscheidend für die portugiesische Konstellation war, dass die Diktatur Salazars in besonderem Maße ihre Legitimität aus dem Kolonialreich zog, denn über die Kolonien konnte sich das Regime als Erbverwalter einer jahrhundertealten Kolonisierungstradition verstehen, die Ausdruck der wahren Berufung der portugiesischen Nation sein sollte. Dieser Legitimationszusammenhang zwischen Regime und Kolonialismus hatte zur Folge, dass das Ende des portugiesischen Kolonialismus gleichzeitig das Ende des autoritären Regimes sein musste, nachdem beide Phänomene in engem Zusammenhang miteinander standen.
In der Einleitung zu ihrer Dissertation betont Abele nicht so sehr die Übereinstimmungen zwischen der portugiesischen Variante der Dekolonisation mit anderen Dekolonisierungsprozessen nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern vor allem die Unterschiede. So fanden die portugiesischen Kolonialkriege in einer schon postkolonialen Welt statt; die Wirtschaftsstruktur war außerordentlich schwach, die Kolonialmacht wies eine geringe Industrialisierung auf, die Befreiungsbewegungen in den Kolonien waren stark marxistisch orientiert, das Regime im Mutterland war extrem autoritär. Die Diktatur an der Spitze einer Kolonialmacht lässt sich als eine Art innerer Kolonialismus deuten, unter dem auch die Freiheiten der eigenen Bevölkerung litten. Es ist daher nur konsequent, wenn es in der Dissertation über „die Kolonialfrage in Portugal 1961–1974“ über den Umgang sozialer Eliten mit der seit 1961 neuartigen Herausforderung durch die Kolonialkriege und den Antikolonialismus geht.
Das Buch ist im Wesentlichen chronologisch aufgebaut. Im ersten Kapitel geht es um die Legitimation des Estado Novo, somit um das politische System der Metropole, einerseits sowie des portugiesischen Kolonialismus andererseits. Portugal war nach 1945 – neben dem Francoregime in Spanien – das letzte Relikt der rechtsautoritären 1930er-Jahre in einem ansonsten demokratisierten Westeuropa. Außerdem verwaltete es immer noch ein Kolonialreich zu einer Zeit, die das Ende des europäischen Kolonialabenteuers kommen sah. Der Estado Novo pflegte eine konservative, nationalistische Ideologie, die Autarkie, Frömmigkeit, ein schlichtes Leben und unbedingte Loyalität gegenüber Staat und Nation propagierte. Der Salazar-Staat war autoritär, antidemokratisch und antikommunistisch. Den imperialen Kolonialismus, den Salazar von der vorhergegangenen Republik und der Militärdiktatur übernahm, wurde von ihm überhöht und sakralisiert. Die imperiale Mystik wurde von allen politischen Strömungen übernommen (auch von der Opposition), sodass das Imperium zu den wenigen Konsensaspekten quer durch die politischen Lager gehörte. Das Kolonialreich wurde zum Wesensgehalt Portugals, zum Garanten für die Existenz des Landes als unabhängige Nation gegenüber übermächtigen Rivalen.
Das zweite Kapitel beleuchtet die Reaktionen der metropolitanen Politik, der Ministerialbürokratie und partiell der Öffentlichkeit auf die blutigen Unruhen in Angola Anfang 1961, die sich zum Kolonialkrieg ausweiteten. Die portugiesische Führung setzte dabei das Kolonialreich im Kampf um Anerkennung des Regimes im Ausland ein. Das Kolonialreich wurde zum Garanten für nationale Unabhängigkeit und Souveränität. Die politischen Eliten wurden in diesem Kolonialkrieg durch die Kolonialfrage geeint; der Konsens war ein atavistisches Überbleibsel der europäischen Kolonialära, eine ideologische Neuausrichtung in der kolonialen Frage erfolgte nicht.
Das dritte Kapitel thematisiert die Kolonialfrage zwischen 1964 und 1968, in der Gewöhnungs- und Routineeffekte ebenso wie Spannungen innerhalb der portugiesischen Führung auftraten. Wichtige soziale Eliten, etwa Militär und Kleriker, entwickelten in diesen Jahren eigene Sichtweisen auf die Kolonialfrage, etwa für die Realisierung des imperialen Verbundes unter lusotropischer Flagge. Im Wesentlichen stand die Opposition der Kolonialfrage tatenlos gegenüber, bis auf die Kommunisten war niemand in Portugal (bis 1974) für einen Rückzug aus den Kolonien. Die Kolonialfrage wurde dementsprechend als Legitimierung der Diktatur genutzt, und die Opposition bevorzugte in ihrer politischen Prioritätensetzung „Demokratisierung vor Dekolonisierung“.
Das vierte Kapitel konzentriert sich auf die letzte Phase des Estado Novo-Regimes, als Salazars Nachfolger Marcelo Caetano (ab 1968) das Regime mit einem Programm der „Erneuerung in Kontinuität“ zu stabilisieren und das Kolonialreich zu retten versuchte. Obwohl Caetano ideologisch und politisch mit seinem Vorgänger in vielem brach, stand er trotzdem in der Tradition eines rassistischen „Lusotropikalismus“. Das bewirkte, dass die Opposition sich in einem antikolonialistischen Einheitsblock zusammenfand und sich durch die Kolonialfrage profilieren konnte.
Das fünfte Kapitel beleuchtet die Schlussphase des Kolonialimperiums (1973–1976), den Sturz des Regimes und die Entstehung unabhängiger Staaten im Verlauf des zweijährigen demokratischen Transitionsprozesses. Auffälligerweise beharrte eine nicht unerhebliche Anzahl an Revolutionären noch Jahre nach der Nelkenrevolution auf dem Erhalt formeller portugiesischer Herrschaft in Afrika, etwa im Rahmen einer Föderation.
Christiane Abele behandelt in ihrer Studie Metropole und Kolonialreich in einem einzigen analytischen Feld, Diktatur und Kolonialstaat werden als Einheit gedacht, denn Autoritarismus und Kolonialismus wurden gleichermaßen von Nationalismus, Traditionalismus und Paternalismus angetrieben. Die Infragestellung des kolonialen Projekts wurde als Angriff auf das nationale Selbstbild erfahren. Bis heute überlagert der Übergang in die Demokratie nach 1974 die Dekolonisierung, von einer postkolonialen Identitätskrise kann in Portugal keine Rede sein. Und unter Bruch mit der autoritären Vergangenheit wurde vor allem eine kollektive Amnesie der staatlichen und kolonialen Gewalt und der sozialrepressiven Unterdrückung durch den Estado Novo verstanden.
In ihren Schlussbemerkungen geht Abele auf die (fehlende) Aufarbeitung von Diktatur und Kolonialismus ein und stellt erneut den untrennbaren Zusammenhang zwischen Autoritarismus und Kolonialstaat her. Während des Estado Novo hatten staatliche Informationsagenturen Salazar – infolge seiner finanzpolitischen Meriten und seiner angeblichen Verteidigung des Kolonialimperiums – zu einem legendären „Vater der Nation“ überhöht; der Mythos sollte die Lebenszeit des Diktators lange überleben. Auf ideologisch-kolonialistischer Ebene lässt sich eher von einer Kontinuität als von einem radikalen Bruch sprechen; nach 1974 machte sich eine kollektive Amnesie der Gewalt und der sozial konservativen Repression im Estado Novo breit. Salazar genießt daher bis heute größte Achtung in breiten Teilen der Bevölkerung.
Das Buch ist ein gut geschriebener, analytisch anspruchsvoller, strukturell überzeugend angelegter und empirisch umfassend belegter Überblick zur gesamten Kolonialproblematik Portugals im 20. Jahrhundert; die Studie weist den Zusammenhang zwischen Diktatur und Kolonialpolitik auf, betont zugleich aber immer wieder, dass die Kolonialkrise ab 1961 einen grundlegenden Konsens zum Vorschlag brachte, der zu erklären hilft, warum der kontinuierliche imperiale Mythos bis heute präsent ist. Eine insgesamt sehr empfehlenswerte Arbeit.