R. Avramov: Ikonomika na „Văzroditelnija proces“

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Titel
Ikonomika na „Văzroditelnija proces“ [Ökonomie des „Wiedergeburtsprozesses“].


Autor(en)
Avramov, Rumen
Anzahl Seiten
760 S., 33 Tab.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Troebst, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Leipzig

Im Herbst 1984 begannen die staatlichen Organe der Volksrepublik Bulgarien, die islamisch-arabischen Vor-, Vaters- und Familiennamen der mit ca. 800.000 Personen mehr als zehn Prozent der Gesamtbevölkerung stellenden türkischen Minderheit zwangsweise in slavisch-christliche Namensformen abzuändern. Begründet wurde dieses mitunter gewaltsame Vorgehen damit, dass es sich bei dieser ethnoreligiösen Großgruppe historisch gesehen weder um Muslime noch um Türken handele. Vielmehr seien die bislang irrtümlich als „muslimische Türken“ Betrachteten in ethnischer Hinsicht Bulgaren, die zu osmanischer Zeit sowohl in religiöser Hinsicht zwangsislamisiert als auch bezüglich ihrer südslavischen Sprache zwangstürkisiert worden seien.

Tragischerweise sei die Erinnerung an diesen doppelten Gewaltakt des 17. Jahrhunderts bei den Betroffenen in Vergessenheit geraten. Die „Hilfestellung“ des bulgarischen Staats bei der „Rückbesinnung“ auf die bulgarischen (weniger auf die christlichen) Wurzeln sei daher eine Art humanitärer Akt. Dies sah die überwiegende Mehrheit der turkophonen Bürger Bulgariens indes nicht so, und viele widersetzten sich der Zwangsumbenennung mittels zivilen Protests, örtlich auch mit Waffengewalt. Im Laufe des Jahres 1985 wurde dieser Widerstand durch den Einsatz von Miliz, Staatssicherheit, Truppen des Innenministeriums und Eliteeinheiten der Armee gebrochen, was mehrere Dutzend Todesopfer forderte. Türkische Aktivisten wurden überdies verprügelt, inhaftiert, in andere Landesteile zwangsumgesiedelt oder des Landes verwiesen. Überdies wurde das 1959 aufgelöste Arbeits- und Umerziehungslager Belene auf der Donau-Insel Persin wieder in Betrieb genommen. Als besonders wirksam erwiesen sich behördenseitige Drohungen bezüglich des Verlustes von Arbeitsplatz und Wohnung sowie die Verweigerung von Gymnasialempfehlungen, Ausbildungs- und Studienplätzen, Beförderungen u.ä. Die Repressionswelle von 1984/85 war begleitet von gesetzlichen Verboten bezüglich des Tragens muslimisch konnotierter Kleidungsstücke – Kopftuch, Schleier, Pluderhose u.a. –, von Beschneidung und Begräbnisritualen, selbst vom Gebrauch der türkischen Sprache. Und sogar auf Grabsteinen wurden die ursprünglichen Namen mitunter durch neue ersetzt.

Die von nun an herrschende interethnische Hochspannung entlud sich im Frühjahr 1989 in öffentlichen Massenprotesten in den mehrheitlich türkisch besiedelten Gebieten im Osten des Landes, die bald auch auf die Hauptstadt Sofija übergriffen. Die Folge war eine doppelte: Zum einen unterstützte die noch embryonale, aber sich zunehmend organisierende und öffentlich auftretende Dissidentenbewegung der bulgarischen Elite die Forderung der bulgarischen Türken nach Rücknahme der Zwangsumbenennung und der diskriminierenden Gesetzgebung, und zum anderen sahen sich die Sicherheitsorgane mit einer Überdehnung ihrer Kräfte konfrontiert. In dieser Situation entschloss sich die Partei- und Staatsführung zur Öffnung der Grenze zur Türkei, um einerseits die Sicherheitslage zu stabilisieren, aber andererseits um die Zahl der eigenen Staatsbürger türkischer Zunge drastisch zu reduzieren. Zumindest der zweite Teil dieser Rechnung ging auf: Binnen weniger Wochen verließen bis zu 370.000 Türken das Land in Richtung Türkei. Dieser Exodus, vor allem aber seine verheerenden wirtschaftlichen Folgen, trugen dann wesentlich zum Erstarken der neuen Oppositionsbewegung und damit zur Palastrevolution vom 10. November 1989 bei. Zwar löste dies noch nicht den ethnopolitischen Konflikt, doch kooperierten von nun an die weiterhin regierende alte kommunistische Machtelite und die neue demokratisch gesinnte Opposition bei der Eindämmung seiner Wirkungen. Zu einer justiziellen, politischen wie gesellschaftlichen Aufarbeitung dieses dramatischen Schlussakkords der kommunistischen Diktatur kam es in den folgenden Jahren und Jahrzehnten allerdings nicht.

Dies lag (und liegt) nicht zuletzt daran, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften des Landes sich bezüglich des in Anlehnung an die nationale „Wiedergeburt“ der Bulgaren im 19. Jahrhundert euphemistisch so genannten „Wiedergeburtsprozess“ der bulgarischen Türken ganz überwiegend in den Dienst des kommunistischen Regimes gestellt hatten, was vor allem für Historikerinnen und Historiker galt. Erst nach 2000 erschienen erste (selbst-)kritische Untersuchungen und Quelleneditionen1, wohingegen das Gros der Geschichtswissenschaft einen großen Bogen um das Thema machte und weiterhin macht.

Bezeichnenderweise ist es ein Wirtschaftshistoriker, der die wohl profundeste und zugleich aufsehenerregendste Publikation zum sogenannten „Wiedergeburtsprozess“ vorgelegt hat – aufsehenerregend deshalb, weil darin die vom Regime sehenden Auges herbei administrierten verheerenden ökonomischen Folgen dieser ebenso systematischen wie massenhaften Menschenrechtsverletzung dokumentiert werden. Mit dem „Wiedergeburtsprozess“, so die These des Autors Rumen Avramov, hat die Bulgarische Kommunistische Partei ihr eigenes Grab geschaufelt und so im 45. Jahr ihrer Herrschaft ihren Machtverlust gleichsam sehenden Auges eingeleitet. Zugleich belegt die anzuzeigende Publikation Avramovs Ausnahmestellung in der bulgarischen Geschichtswissenschaft, ist er es doch, der neben dem „Wiedergeburtsprozess“ ganz maßgeblich die Forschung zu zwei weiteren düsteren Kapiteln in der Geschichte des modernen bulgarischen Staates aufgehellt hat – der Beteiligung bulgarischer Stellen, darunter Zivilverwaltung, Militär, Polizei und Staatsbahn, an der 1943 erfolgten Deportation von über 11.000 Juden aus den 1941 zunächst bulgarisch besetzten, 1942 dann annektierten Gebieten Griechenlands und Jugoslawiens in das nationalsozialistische Vernichtungslager Treblinka sowie die Vertreibung der Mehrheit der bulgarischen Griechen aus ihren Siedlungsgebieten an der Schwarzmeerküste und andernorts im Jahr 1906.2

Avramov hat seine voluminöse Darstellung in drei Teile gegliedert: Der relativ kurze Teil „Beschlüsse“ steckt den politischen Rahmen des Jahrfünfts 1984–1989 ab, wobei die Namensänderungskampagne der Jahre 1984 und 1985 sowie die Massenproteste von 1989 jeweils als „Wendepunkte“ charakterisiert werden (S. 25–157). Im umfangreichen Teil „Preis“ wird eingangs die Frage „Was kostet die Assimilation? 1984–1988“ gestellt und sodann die Kosten der Emigrationswelle von 1989 sowie diejenigen der dadurch ausgelösten „makroökonomischen Schocks“ berechnet (S. 159–402). Und der gleichfalls umfangreiche Teil „Zerfall des ökonomischen Geflechts“ beleuchtet die ab 1989 entstehenden neuen Märkte, die Veränderungen der Eigentumsverhältnisse sowie die Debatten innerhalb der Machtelite, die zwischen Reformrhetorik und der Anwendung von an „Kriegskommunismus“ gemahnenden Methoden oszillierten (S. 403–639). Eingerahmt werden diese drei Hauptteile durch eine Einleitung, welche den bulgarischen wie internationalen Forschungsstand skizziert (S. 7–24), sowie durch einen Epilog „Das Erbe: Die ökonomische Kultur der Transition“ (S. 641–653), in dem hervorgehoben wird, dass die Implosion der bulgarischen Planwirtschaft nicht erst durch die politische „Teil-Wende“ vom November 1989, sondern bereits durch den Massenexodus vom Sommer desselben Jahres und seine fatalen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt und andere Bereiche bewirkt wurde.

Angehängt sind zwei als „Abschweifungen“ bezeichnete Anlagen. Diese sind zum einen der Text „Auslöschung des Gedächtnisses“ (S. 655–681), in dem der geringe Stellenwert des „Wiedergeburtsprozesses“ in der Erinnerungskultur des EU-Mitgliedsstaates Bulgarien ausgelotet wird. Zum anderen ist es ein sechsseitiges, mit „Und wohin jetzt?“ überschriebenes Aperçu (S. 682–687), welches die seit 2015 vorherrschende Anti-Flüchtlingsstimmung in der bulgarischen Gesellschaft mit deren antigriechischem, antisemitischem und antitürkischem Sentiment früherer Jahrzehnte in Beziehung setzt. Und in einem umfangreichen Tabellenteil hat der Autor seine Forschungsergebnisse übersichtlich quantifiziert (S. 689–755). Leider enthält der Band keine Register.

Avramovs ebenso akribische wie kritische Bilanz der ökonomischen Wirkungen der Türkenpolitik der in zunehmender Auflösung befindlichen Parteidiktatur wird gleich seinen Analysen der bulgarischen Politik gegenüber Griechen und Juden wohl kaum öffentliche Resonanz finden (aber wohl in den Schaufenstern sämtlicher Buchhandlungen in Sofija, Varna, Plovdiv und andernorts stehen, wie dies bereits mit den beiden gewichtigen Bänden zum bulgarischen Anteil am Holocaust der Fall war). Zweifellos aber wird das Buch den randständigen Diskurs bulgarischer Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler befördern, der nach Inhalt, Form und Wirkung der bulgarischen Kommunismusvariante der Jahre 1944–1989 fragt.3 Mit seinem von ihm selbst so bezeichneten „Triptychon“ zu den ökonomischen Triebkräften der Griechen-, Juden- und Türkenpolitik des modernen bulgarischen Staates hat Rumen Avramov zum einen die Aufarbeitung des Regimeverbrechens an den bulgarischen Türken weiter vorangetrieben als dies Regierungen, Parlament, Parteien, Kirchen, Medien u. a. bislang vermochten. Und zum anderen hat er überzeugend das Erklärungspotential von Wirtschaftsgeschichtsschreibung vor Augen geführt.

Anmerkungen:
1 Evgenija Ivanova, Otchvărlenite „priobšteni”, ili procesăt, narečen „văzroditelen“ (1912–1989) [Die verworfenen „Assimilierten“, oder der „Wiedergeburt“ genannte Prozess (1912–1989)], Sofija 2002; Michail Gruev / Aleksej Kal’onski, Văzroditelnijat proces. Mjusjulmanskite obštnosti i komunističeskijat režim [Der Wiedergeburtsprozess. Die muslimischen Gemeinschaften und das kommunistische Regime], Sofija 2008; Iskra Baeva / Evgenija Kalinova (Hrsg.) „Văzroditelnijat proces“ [Der „Wiedergeburtsprozess“], Sofija 2008; T. I.: Bălgarskata dăržava i bălgarskite turci (sredata na 30-te – načaloto na 90-godini na XX vek [Der bulgarische Staat und die bulgarischen Türken (Mitte der dreißiger bis Anfang der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts]; T. II: Meždunarodni izmerenija (1984–1989) [Internationale Dimensionen (1984–1989], Sofija 2009.
2 Nadja Danova / Rumen Avramov (Hrsg.), Deportiraneto na evreite ot Vardarska Makedonija, Belomorska Trakija i Pirot. Mart 1943 g. Dokumenti ot bălgarskite archivi [Die Deportation der Juden aus Vardar-Makedonien, Ägäisch-Thrakien und Pirot. März 1943. Dokumente aus den bulgarischen Archiven], 2 Bde., Sofija 2013; Rumen Avramov, „Spasenie“ i padenie. Mikroikonomika na dăržavnija antisemitizăm v Bălgarija 1940–1944 g. [„Rettung“ und Fall. Die Mikroökonomie des staatlichen Antisemitismus in Bulgarien 1940–1944], Sofija 2012; ders., Anchialo 1906: The Political Economy of an Ethnic Clash, in: Etudes balkaniques 45 (2009) 4, S. 31–115. Vgl. dazu auch Teodora Dragostinova, Between Two Motherlands. Nationality and Emigration among the Greeks of Bulgaria, 1900–1949, Ithaca 2011.
3 Michail Gruev / Diana Miškova (Hrsg.), Bălgarskijat komunizăm. Debati i interpretacii. Sbornik statii [Der bulgarische Kommunismus. Debatten und Interpretationen. Ein Sammelband], Sofija 2013; Ana Luleva (Hrsg.), Bălgarskijat XX vek. Kolektivna pamet i nacionalna identičnost [Das bulgarische 20. Jahrhundert. Kollektives Gedächtnis und nationale Identität], Sofija 2013. Vgl. auch Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe. Ed. by Maria Todorova, Augusta Dimou and Stefan Troebst, Budapest 2014.