„Flucht [erfolgt] unter Zwang […] sowie unter Anwendung oder Androhung von Gewalt.“ (S. 17) Dadurch unterscheidet sie sich von anderen Migrationsbewegungen, wie Philipp Ther in seinem Buch über „massenhafte[..] Fluchtvorgänge“ (S. 13) in Europa seit der Frühen Neuzeit bis heute betont. Die Erfahrungen der Flucht und das Leben unter den Bedingungen des Status „Flüchtling“ führen dazu, so der Wiener Ostmitteleuropa-Historiker, dass sich Migranten selbst als solche betrachten und in die Gruppe der Flüchtlinge einordnen (S. 18). Generell bestehen Übergänge sowie Verflechtungen zwischen verschiedenen Migrationsformen, zum Beispiel zwischen Flucht- und Arbeitsmigration, wie Ther in Bezug auf die Hugenotten im 17. Jahrhundert oder auch hinsichtlich der über mehrere Etappen fliehenden und zu Übersee-Auswanderern werdenden Revolutionäre in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zeigt. Solche Übergänge und Verflechtungen resultieren unter anderem aus etablierten Fluchtrouten und Migrationsbewegungen, an die Flüchtlinge zu einem späteren Zeitpunkt wieder anknüpfen, was nach Ther zum Beispiel Kroaten und Bosnier in den 1990er-Jahren veranlasste, häufiger nach Deutschland als in andere westeuropäische Staaten zu fliehen. Nicht zuletzt tragen zum einen familiäre Bindungen und politische Solidaritäten, zum anderen wirtschaftliche, soziale und politische Bedingungen an den Zielorten einer Flucht maßgeblich zu Prozessen bei, durch die Fluchtvorgänge in Arbeitsmigration übergehen, scheitern (etwa mit Abschiebung, Tod oder in einem Lagerleben enden), zu weiteren Flucht- und Migrationsbewegungen führen oder eine Remigration ermöglichen.
Im Hinblick auf die Offenheit von Flucht fasst der Autor seine historische Untersuchung massenhafter Fluchtvorgänge in einer idealtypischen Unterscheidung der Handlungsspielräume bzw. individuellen Erfahrungen von Flüchtenden zusammen (S. 289–293): Nehmen die Flüchtenden ihre Lebenszusammenhänge so wahr, dass Flucht „die einzige Chance darstellt, sich vor schwersten Misshandlungen und vor dem Tod zu retten“ (S. 289), dann wird Flucht, unabhängig von verfügbaren materiellen oder physischen Ressourcen, zu einem „existenziellen“ – Rettung versprechenden, befreienden – Handlungsspielraum. Flucht stellt dagegen einen „prädeterminierten“ Handlungsspielraum in dem Maße dar, in dem sie durch Herrschaftspraxis bestimmt wird, auf Vertreibung oder „ethnische Säuberungen“ zurückgeht. Von existenzieller und prädeterminierter Flucht unterscheidet sich wiederum die „proaktive Flucht“, durch die Menschen hoffen, sich vor Gefahren in Sicherheit zu bringen, und sich einen Handlungsspielraum eröffnen (S. 290). Schließlich differenziert Ther von den proaktiv durch Flucht hergestellten Handlungsspielräumen die „optionale“ Flucht, das heißt „Situationen […], in denen auch andere Handlungsmöglichkeiten als ein Verlassen der Heimat denkbar waren“ (S. 291). „Proaktive“ und „optionale“ Flucht stellen folglich Handlungsspielräume dar, die im Gegensatz zu den beiden anderen Fluchttypen sozial wie auch ökonomisch strukturiert sind, das heißt etwa durch bestimmte Alters-, Berufsgruppen oder auch sozioökonomische Milieus geprägt sind.
Das Buch „Die Außenseiter“ zeichnet sich dadurch aus, der Flucht als einem Handlungs- und Erfahrungsraum in seinen Verflechtungen mit nationalen bzw. imperialen Wirtschaftsinteressen, mit bevölkerungspolitischen Strategien und Formen der Herrschaftssicherung wie auch in seinen Zusammenhängen mit internationalen Organisationen und deren Wirken nachzuspüren. Mit dem historischen Überblick und den diachronen Vergleichen gelingt es Ther nicht nur, „zeitliche Tiefendimensionen“ (S. 10) in die von aktuellen Ereignissen angetriebenen Auseinandersetzungen über die sogenannte Flüchtlingskrise einzuführen, sondern vor allem auch die Interdependenzen in diachroner wie synchroner Perspektive zwischen Fluchtbewegungen und den sie bestimmenden politischen Kontexten vor Augen zu führen. Letztere spiegeln sich in den fluchtbiographischen Porträts wider, welche Ther in seine geschichtswissenschaftlichen Ausführungen gelungen einfügt.
Die Monographie ist in vier Hauptteile gegliedert, durch die zunächst Fluchtursachen nach drei Topoi – religiöse Intoleranz, Nationalismus und politische Verfolgung – unterschieden und dann abschließend Integrationsverläufe von Flüchtlingsgruppen bzw. Bedrohungsgefühle gegenüber jenen systematisiert beschrieben sowie hypothetisch auf die aktuelle Situation von (insbesondere syrischen) Flüchtlingen in Deutschland projiziert werden. Gerade im Hinblick auf diesen Gegenwartsbezug ist Thers Buch bisher in der Presse kontrovers diskutiert worden.1 Im Wesentlichen auf der Grundlage des Quellenmaterials seiner Arbeiten über „ethnische Säuberungen“ sowie über die Integration von Vertriebenen in der sowjetischen Besatzungszone bzw. DDR und in Polen arbeitet Ther für jeden Topos Fluchtbewegungen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart heraus.2 Anhand von Beispielen, die er in Bezug auf historische Ereignisse (etwa die Reconquista oder den Ersten Weltkrieg) und deren Bedeutung für den jeweils thematisierten Topos der Fluchtursachen (etwa für die religiöse Intoleranz oder den Nationalismus) auswählt, beschreibt er Faktoren von Fluchtbewegungen – Faktoren, „die darüber entscheiden, wann für Flüchtlinge gute, wann eher schlechte Bedingungen herrschen und wie sich dieser Wandel erklären lässt“ (S. 15).
Die von Ther aufgegriffenen historischen Ereignisse sind, wie der Titel des Buchs ankündigt, im „modernen Europa“ verortet. In Thers Beschreibung geht Europa weit über eine geografisch-kontinentale Bestimmung hinaus und verändert seine semantische sowie politische Konfiguration mit den Faktoren, die der Autor für eine Fluchtbewegung jeweils als bedeutsam hervorhebt. Das moderne Europa beginnt nicht nur mit der Flucht der Muslime und Juden aus Spanien und Portugal in Richtung Nordafrika und ins westliche Asien um 1500. Es ist ebenfalls geprägt durch die in den transatlantischen Raum führenden Fluchtwege und -etappen der Freiheitskämpfer nach den Revolutionen von 1830/31 und 1848/49 wie auch durch bevölkerungspolitisches Social Engineering etwa bei Grenzziehungen zwischen Polen und Russland oder im südasiatischen Bengalen nach dem Ersten Weltkrieg. Schließt der verwendete Europabegriff einerseits eine „ethnisch und rassisch definierte“ religiöse Intoleranz ein (S. 35), die Ther zufolge der Logik des radikalen Nationalismus des späten 19. Jahrhunderts ähnelt, so umfasst er andererseits auch die (historisch scheiternde, jedoch in weiteren Entwicklungen politisch verfügbare) Idee eines solidarischen Verbundes freiheitlicher Nationalstaaten (vgl. insbesondere die Portraits von Tadeusz Kościuszko und Guiseppe Mazzini, S. 184f., S. 190f.). Das spezifisch Europäische geht in Thers Buch zugleich aus den Handlungsspielräumen der Flüchtlinge und aus der Herrschaftspraxis hervor, die durch Verfolgung politischer Gegner, Vertreibung sowie „ethnische Säuberung“, Kolonialpolitik, Gewalt gegen Minderheiten etc. zum Ausdruck kommt.
Für die Auseinandersetzung über die gegenwärtige Flüchtlingspolitik ist einschlägig, wie Ther die inhärenten Zusammenhänge zwischen Flucht und der jeweils generierten europäischen Handlungsebene offenlegt. Nicht zuletzt leistet er dadurch – wenn auch unausgesprochen – einen Beitrag zu dem von Kiran Klaus Patel eingeklagten „Provincialising European Union“.3 Doch richtet sich Thers analytische Perspektive im Wesentlichen auf die Nationalstaaten und imperialen Großreiche seit der Frühen Neuzeit. Zwar werden die internationalen Organisationen, der Völkerbund und die verschiedenen Flüchtlingshilfsorganisationen der Vereinten Nationen als Handlungsbühnen nationalstaatlicher Interessenvertretungen in den Blick genommen. Nicht thematisiert wird hingegen, wie in internationalen Organisationen flüchtlingspolitisches Wissen produziert wird, Ideen zirkulieren und im konkurrierenden Austausch (auch zwischen nichtstaatlichen und staatlichen Organisationen) staatliche Konzepte für Integration, Vertreibung, Internierung und Solidarität entstehen.
Das nationalstaatliche Prisma, das dem Buch „Die Außenseiter“ zugrunde liegt und vor allem im vierten, Integrationsverläufen und Bedrohungsängsten gewidmeten Kapitel deutlich wird, mag der – mit den beschriebenen Fluchtvorgängen verbundenen – historischen Ereignisstruktur entsprechen. Die Bevölkerungsverschiebungen nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg zum Beispiel waren eine Konsequenz des „Zwang[s] zur Eindeutigkeit“, der dem Nationalstaatsprinzip inhärent ist (S. 75). Allerdings können ausschließlich auf dieser Basis nur begrenzt neue Kenntnisse gewonnen werden, insbesondere hinsichtlich massenhafter Fluchtvorgänge im Kontext des Kolonialismus oder auch hinsichtlich der auf der internationalen sowie europäischen Ebene entstehenden Dynamiken etwa im Kalten Krieg.4 Bei der Lektüre des Buchs entsteht an manchen Stellen der Eindruck, dass anderswo herausgearbeitete Forschungsergebnisse noch einmal zusammengefasst und in einen ländervergleichenden Kontext gestellt werden.5 So ergibt sich die Frage, ob die in „Die Außenseiter“ deutlich werdenden Verflechtungen von Flucht und Gewalthandlungen, die, wie Ther zeigt, zeitlich und auch räumlich über zwischenstaatliche Kriege, Nationalstaatsgründungen, -teilungen oder -auflösungen hinausweisen, zusätzlich zu dem nationalstaatlichen Prisma nicht weiterer konzeptueller und methodischer Zugänge bedürfen. In dieser Hinsicht bietet es sich an, Thers historischen Überblick zu massenhaften Fluchtvorgängen im modernen Europa in Verbindung mit geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschungsarbeiten etwa zum Ordnen von Räumen, zu Raumbildern und Gewaltmobilisierung oder auch zu sexueller Gewalt zu lesen.6
Anmerkungen:
1 Siehe die Hinweise unter https://www.perlentaucher.de/buch/philipp-ther/die-aussenseiter.html (31.01.2018).
2 Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. „Ethnische Säuberungen“ im modernen Europa, Göttingen 2011; ders., Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956, Göttingen 1998.
3 Kiran Klaus Patel, Provincialising European Union: Co-operation and Integration in Europe in a Historical Perspective, in: Contemporary European History 22 (2013), S. 649–673.
4 „All Things Transregional?“ in conversation with… Madeleine Herren-Oesch, in: TRAFO – Blog for Transregional Research, 27.07.2015, https://trafo.hypotheses.org/2600 (31.01.2018).
5 Siehe etwa Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
6 Z.B. Ulrike Jureit (Hrsg.), Umkämpfte Räume. Raumbilder, Ordnungswille und Gewaltmobilisierung, Göttingen 2016; Miriam Ticktin, Sexual Violence as the Language of Border Control: Where French Feminist and Anti-immigrant Rhetoric Meet, in: Signs 33 (2008), S. 863–889; Gaby Zipfel, Sexuelle Gewalt – eine Einführung, in: LʼHomme 27 (2016), Heft 1, S. 119–128, http://www.eurozine.com/sexuelle-gewalt-eine-einfuhrung/ (31.01.2018).