Wer sich an das Schreiben einer Intellektuellen-Biographie macht, begibt sich auf ungesichertes Gelände. Vertraute Grenzziehungen traditioneller Biographik, etwa diejenigen zwischen Leben und Werk, Werk und Kontext, Gesellschaft und Text, Struktur und Individuum haben sich längst verflüssigt, und selbst der Begriff des Intellektuellen steht auf schwankendem Grund. Zugleich haben sich neuere, der soziologischen Theoriebildung entnommene Kategorien wie diejenige des „intellektuellen Feldes“, der „Sprecherrolle“ oder des „Denkkollektivs“ als ebenso anregend in der Methodenreflexion wie sperrig in der Anwendung erwiesen. Daher verwundert es nicht, dass sich die neuere Intellektuellen-Biographik zwar methodologisch dankbar inspirieren lässt, in der Praxis des Schreibens aber mehr oder weniger auf traditionelle biographische Verfahren setzt.1
Dass man mit solchem Pragmatismus ziemlich weit kommen kann, demonstriert die Zeithistorikerin Franziska Meifort mit ihrer Biographie des Soziologen und liberalen Intellektuellen Ralf Dahrendorf (1929–2009) – der ersten Dahrendorf-Biographie überhaupt, hervorgegangen aus einer von Paul Nolte betreuten Dissertation am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Ausgerüstet mit M. Rainer Lepsius' funktionaler Intellektuellen-Definition und Pierre Bourdieus Kapitalsorten-Lehre analysiert Meifort in sechs chronologisch angelegten Kapiteln das Wirken des umtriebigen Gelehrten, Zeitanalytikers und Wissenschaftsmanagers in einem doppelten Spannungsverhältnis: Indem sie die Grenzen zwischen engagierter Gesellschaftsanalyse, intellektueller Intervention und politischem Handeln, die Dahrendorf fortwährend überschritten hat, ins Zentrum ihrer Studie stellt, gewinnt die Autorin Material im Überfluss und eine klare Perspektive. Und indem sie Dahrendorfs autobiographisches Narrativ dabei in Teilen wissenschaftssoziologisch dekonstruiert, hält sie sich ihren Protagonisten wohltuend auf Distanz.
Dahrendorfs frühe und uneingeschränkte Hinwendung zum „liberalen“ Westen erklärt Meifort konventionell, aber plausibel aus den Erfahrungen des Jugendlichen in einem Arbeitserziehungslager der Gestapo, der Verurteilung des Vaters durch den Volksgerichtshof und den späteren Versuchen des NKWD, den Jungen als Spitzel gegen seine Eltern zu gewinnen. Überhaupt scheinen die Fährten in diesem Leben zeitig gelegt worden zu sein: Das sozialdemokratische Elternhaus begründete den wachen Sinn für soziale Fragen, die frühe Bekanntschaft mit britischen Besatzungsoffizieren das Faible für Großbritannien.
Der „biographischen Illusion“ vermag die Autorin jedoch zu entgehen, indem sie gegen die eigenwillig genialische Selbstdeutung des Protagonisten sympathisch unaufdringlich das Besteck Bourdieus auspackt: Wie wenige andere hat es Dahrendorf verstanden, sich bereits im frühen Nachkriegsdeutschland ein beachtliches soziales Kapital an Freunden und Förderern diesseits und jenseits des Ärmelkanals aufzubauen, das sowohl bei der Erstberufung auf eine Professur an der Hamburger Akademie für Gemeinwirtschaft (1958) wie auch beim entscheidenden Karrieresprung auf das Direktorat der renommierten London School of Economics and Political Science (LSE) 1974 seine Früchte trug. Während seines Postgraduiertenstudiums an der LSE und eines längeren Forschungsaufenthaltes in Stanford sog Dahrendorf die angelsächsische akademische Kultur und deren sozialwissenschaftliche Methoden förmlich auf und erwarb dabei ein kulturelles Kapital, das ihm gegenüber seinen Alters- und Fachgenossen einen fast uneinholbaren Vorsprung verschaffte, der sich ab Mitte der 1950er-Jahre in einem Stakkato von Publikationen äußerte. So räumte er – zusammen mit anderen „45ern“ seines Faches wie M. Rainer Lepsius, Erwin K. Scheuch und Renate Mayntz – mit der hermeneutisch-philosophischen Tradition der deutschen Soziologie auf, die zudem schwer am Braindrain des „Dritten Reiches“ litt; wortgewaltig wirkte er zudem am Narrativ jener „langen Generation“ (Paul Nolte) von Wissenschaftlern mit, die die Bundesrepublik bis in die 2000er-Jahre hinein intellektuell prägten. Meiforts Biographie zeigt, wie Dahrendorf mit Mut zur steilen These, Lust an der Kontroverse und einem früh kultivierten Habitus aus Britishness, Eleganz und Lässigkeit zielstrebig an seiner akademischen Karriere arbeitete. Sie kratzt aber auch kräftig am Nimbus des soziologischen Wunderkinds, indem sie etwa die Gutachter seiner Qualifikationsschriften mit teils vernichtenden Urteilen zu Wort kommen lässt.
Das Kernstück des Buches, das sich auf den umfangreichen Nachlass im Bundesarchiv Koblenz sowie auf zahlreiche weitere Archivbestände in Deutschland, Großbritannien und den USA stützt, besteht in einer genauen Analyse der mehrfachen Wechsel, die Dahrendorf zwischen dem intellektuellen und dem politischen Feld vollzogen hat. Die These lautet: Dahrendorf verfolgte „eine überaus erfolgreiche eskalatorische Strategie der Einflussnahme“ (S. 99), indem er die Ergebnisse seiner Forschungen etwa zur Bildungssoziologie oder Konflikttheorie in wirkmächtigen Medien wie dem ZDF und der „ZEIT“ (jeweils seit 1963) popularisierte und somit den Status eines öffentlich anerkannten Experten erwarb, dadurch zum gefragten Berater des politischen Spitzenpersonals avancierte und in einem immer größer werdenden Netzwerk von Kommissionen und Beiräten wachsenden Einfluss ausübte. Zugleich positionierte sich der bekennende Workaholic im akademischen Feld als Herausgeber von Reihen und internationalen Zeitschriften und legte schließlich mit seinem Bestseller „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ (1965) das Grundbuch des westdeutschen Demokratisierungsdiskurses vor. Auch Dahrendorfs überraschenden Wechsel in die Politik und seinen Beitritt zur FDP (1967) interpretiert die Autorin im Licht dieser Strategie und weniger aus programmatischen Affinitäten zwischen dem Schüler Karl Poppers und der sich erst jetzt als „liberal“ definierenden Partei: Der Seiteneinsteiger suchte und fand in der kleinen Oppositionspartei den kürzesten Weg nach oben.
Dahrendorfs Intermezzo als Parlamentarier, Staatssekretär im Auswärtigen Amt und EG-Kommissar (1968–1974) bewertet die Forschung seit Arnulf Baring als Scheitern eines Seiteneinsteigers. Demgegenüber hebt die Autorin treffend den strukturellen Rollenkonflikt zwischen dem Intellektuellen und dem Politiker hervor und betont in einer differenzierten Analyse jene Spirale von ehrgeizigen Selbst- und öffentlichen Fremderwartungen an den jungen Starprofessor als „Über-Politiker“, die spätestens in den Mühlen der Regierungsarbeit zur Frustration führen musste. Für die FDP personifizierte Dahrendorf, dessen diskursiver Stil sich in der auf einem Autodach geführten Debatte mit dem Studentenführer Rudi Dutschke emblematisch verdichtete (das Buchcover zeigt einen Bildausschnitt), die programmatische Neuausrichtung der Partei im Geiste gesellschaftlicher Reform, die der Soziologe mit Themen wie Chancengleichheit, Mitbestimmung, Bildungsreform und neue Außenpolitik zu befeuern wusste. Als ehrgeiziger Einzelgänger ohne Hausmacht fehlte es ihm indessen nicht nur an Rückhalt in der Partei, sondern auch an der Bereitschaft, sich in Hierarchien einzuordnen. So verhedderte sich der Professor 1969/70 in den mühsamen Routinen des Regierungsamtes, wie Meifort im Einklang mit älteren Interpretationen herausarbeitet.
Ein besonderes Verdienst der Biographie besteht darin, dass sie Dahrendorfs bislang kaum erforschte Zeit als Direktor der LSE (1974–1984) ausleuchtet: von der überraschenden Berufung über den gescheiterten Versuch, an der renommierten Hochschule einen Thinktank zu gründen, bis hin zu seiner Position im britischen Establishment. Während sich der Reformeifer des Soziologen an den akademischen Beharrungskräften der LSE brach, trat zu den bereits genannten Erfolgsfaktoren des Intellektuellen nun seine Rolle als „friendly outsider“, dessen Analysen aufgrund des gleichsam exterritorialen Blicks in Großbritannien wie in der Bundesrepublik gleichermaßen gefragt waren. Als Kritiker der „Thatcher Revolution“, als Beiträger zum Münchner „Tendenzwende“-Kongress (1974), als Warden (Vorsteher) am St. Antony’s College (1987–1997) sowie seit 1979 als Theoretiker sozialer „Ligaturen“ entwickelte Dahrendorf Züge eines Institutionalismus, dessen ideologische Einordnung der Biographin nicht ganz leicht fällt. Dabei ließe sich zeigen, wie sich Dahrendorfs Lob der Institutionen und sein Versuch, Sinnressourcen jenseits „kolonisierter Lebenswelten“ zu erschließen, mühelos in eine Denktradition des klassischen Liberalismus einfügt, die noch nicht „neoliberal“ kontaminiert war.
In scharfem Kontrast zu anderen prominenten Intellektuellen seiner Generation wie Günter Grass, Jürgen Habermas und Peter Glotz feierte Dahrendorf den Umbruch in Ostmitteleuropa von 1989/90 als „Wiederbeginn der Geschichte“ und großartige Chance zur Entfaltung der „Civil Society“. Mit erfrischendem Sinn für Ironie schildert die Biographin, wie der Präzeptor der Bürgergesellschaft zur selben Zeit seine Ernennung zum Lord auf Lebenszeit und die definitive Ankunft in der britischen Upper Class goutierte. Nachdem in den 1980er-Jahren seine Rückkehr sowohl in die deutsche Politik als auch in die Scientific Community gescheitert war, konnte Dahrendorf seit den 1990er-Jahren als Vorsitzender hochkarätig besetzter Expertengremien nochmals in seine präferierte Rolle als unabhängiger Politikberater schlüpfen und etwa maßgeblichen Einfluss auf die britische Sozialstaatsdebatte nehmen, während er publizistisch gegen die von Tony Blair und Gerhard Schröder verfolgten Konzeptionen eines „Dritten Weges“ zu Felde zog.
Dahrendorf hat an der Entwicklung jener Deutungskategorien (etwa „Liberalismus“, „Liberalisierung“, „Westernisierung“, „Intellektueller“), die die Zeithistorikerin bei ihrer Analyse in Anschlag bringt, selbst mitgewirkt und war somit Momentum jenes Prozesses, den solche Kategorien begrifflich einzuholen suchen. Man kann diesem hermeneutischen Fallstrick nicht wirklich entgehen, aber man kann versuchen, auf ihm zu balancieren, statt über ihn zu stolpern. Dass dies möglich ist, zeigt Franziska Meifort in ihrer gründlich recherchierten und glänzend geschriebenen Biographie dieses ungewöhnlichen Intellektuellen auf jeder Seite.
Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014; Stephan Schlak, Wilhelm Hennis. Szenen einer Ideengeschichte der Bundesrepublik, München 2008. Als methodisch und erzählerisch besonders anspruchsvolle Werke siehe zuletzt etwa Jörg Später, Siegfried Kracauer. Eine Biographie, Berlin 2016, und Emmanuelle Loyer, Lévi-Strauss. Eine Biographie, Berlin 2017.