Hinschs Buch hat eine doppelte Ausrichtung: Zunächst ist es eine gründliche, mitunter etwas schwerfällige, jedenfalls umständliche philosophische Erörterung der Gründe, warum gelegentlich auch gewaltsame Hilfe für durch Kriege und Bürgerkriege in Bedrängnis geratene Menschen angezeigt, wenn nicht gefordert ist, und sodann ist es eine politische Intervention, die eine Veränderung der Diskurskonstellationen über Krieg und Frieden in Deutschland zum Ziel hat. Wilfried Hinsch, Professor für Philosophie an der Universität Köln, stört sich nämlich an einem, wie er mit guten Gründen meint, sterilen Gegeneinander von prinzipiellem Pazifismus, der jede Gewaltanwendung ablehnt, gleichgültig, zu welchem Zweck sie erfolgt, und einem sich weithin moralfrei gebenden Realismus, der den Einsatz des Militärs je nach politischer Lage und Erfordernis ins Kalkül zieht. Seit einigen Jahrzehnten stehen sich beide Positionen unversöhnlich gegenüber und lassen keinerlei diskursiven Fortschritt im Hinblick auf den Umgang mit dieser Herausforderung erkennen. Sobald die Frage eines Auslandseinsatzes der Bundeswehr aktuell wird, beziehen beide Seiten die Positionen, die sie seit Jahren einnehmen, und halten sich gegenseitig ihre jeweiligen Sichtweisen vor. Was eine Debatte werden könnte, erschöpft sich im Austausch von Invektiven, bei denen die einen der hemmungslosen Kriegstreiberei und die anderen der notorischen Weltfremdheit bezichtigt werden. Hinschs moralphilosophische Überlegungen zum Krieg sollen dazu dienen, die Debatte fruchtbar zu machen und deren Ergebnissen für die Entscheidungsprozesse der Politik Relevanz verschaffen. Wäre die Debatte philosophisch reflektierter, so Hinschs Leitidee, könnte sie auch politisch effektiver sein.
Um das Dilemma eines prinzipiellen Pazifismus aufzuzeigen, greift Hinsch die, wie er meint1, für das politische Selbstverständnis der Deutschen zentrale Doppelformel „Nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz“ auf und macht deutlich, dass beide Teile dieser Formel miteinander in Widerspruch geraten können – dann jedenfalls, wenn man unter dem Kriegsbegriff auch humanitäre militärische Interventionen subsummiert. Es ist ein eher bequemes politisches Selbstverständnis, in dem sich ein gutes Gewissen mit dem notorischen Heraushalten aus einem der Gewaltbeendigung dienenden Eingreifen mit militärischen Mitteln verbindet. Das ging jedoch, so Hinschs Einwand, politisch nur so lange auf, wie Deutschland infolge der Teilung für sich einen Sonderstatus beanspruchen konnte. Für die veränderten Konstellationen, in denen sich Deutschland seit einem Vierteljahrhundert bewegt, ist nach Hinsch nicht nur das Ende der Teilung Europas verantwortlich, sondern dabei spielt auch ein neuer Typ von Krieg eine Rolle, in dem ganz andere Akteure auftreten, als es das klassische Militär im herkömmlichen Staatenkrieg ist. Hinsch nimmt bei seinen moralphilosophischen Erörterungen also auch die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen des Kriegsgeschehens in den Blick, beschäftigt sich damit aber nicht besonders eingehend. An den neuen Kriegen interessiert ihn vor allem, dass das Clausewitz‘sche Modell des Zweikampfs, d.h. die Fixierung auf den Kampf zweier Parteien, nicht mehr zutrifft, sondern dass viele Akteure in diese Kriege verwickelt sind, die immer wieder die Fronten wechseln und neue Bündnisse eingehen, so dass sich nicht abschätzen lässt, wer welche Ziele verfolgt, welche Motive hat und welche Seite wahrscheinlich aus dem Krieg als Sieger hervorgehen wird. Damit wird es schwerer, die Erfolgsaussichten einer Intervention und das dafür voraussichtlich erforderliche Niveau des Gewalteinsatzes abzuschätzen, was wiederum in Hinschs Vorschlägen zur Rechtfertigung eines Militäreinsatzes eine zentrale Rolle spielt.
Freilich hätte Hinsch, wenn er sich genauer mit den im Theorem der neuen Kriege zusammengefassten Veränderungen des Kriegsgeschehens beschäftigt hätte, einige andere Rechtfertigungen für das Eingreifen äußerer Mächte finden können: Zu nennen sind die Verdauerung des Krieges, die zu einer Permanenz der Gewalt führt, bei der die Aussicht auf Frieden für die Menschen in den vom Krieg betroffenen Räumen immer geringer wird, und die Kommerzialisierung der Kriegsgewalt dazu führt, dass jene, die von ihr leben, kein Interesse an einer Kriegsbeendigung haben. Die Aussicht auf eine gerechte Nachkriegsordnung ist in Hinschs Argumentation ein regulatorischer Aspekt bei der Entscheidung für oder gegen das Eingreifen in einen Krieg. Hinschs Argument lässt sich auch umkehren, und dann ist zu fragen, ob die begründete Aussicht, dass ein Krieg bei Nichtintervention äußerer Mächte nicht enden werde, eine erhöhte Verpflichtung zur Intervention darstellt.
Das schärfste Argument gegen den prinzipiellen Pazifismus, das Hinsch vorträgt, lautet nämlich, dass man bei prinzipieller Gewaltverweigerung zwar konsequent sein kann, wenn man das eigene Leben für den Grundsatz der Gewaltlosigkeit hingibt und der Gewalt, die gegen einen selbst gerichtet ist, keinen Widerstand entgegensetzt. Das ist indes eine Entscheidung, die jeder für sich selber trifft. Das ist jedoch nicht der Fall, sobald es um gewaltsamen Widerstand geht, der zum Schutz anderer geleistet wird, zumal derer, die gerettet werden können, wenn man dem Angreifer gewaltbereit entgegentritt. Wer in diesem Fall auf prinzipiellen Gewaltverzicht setzt, trifft keine Entscheidung für sich selbst und nur für sich selbst, sondern entscheidet für und über andere. Was aber gibt ihm das Recht, für seine Prinzipien andere hilf- und wehrlos der Gewalt ausgesetzt sein zu lassen? Von diesem Dilemma des prinzipiellen Pazifismus ausgehend, der sich anmaßt, andere dem Tod auszuliefern, entwickelt Hinsch seine Argumentation, deren politisches Ziel die Schaffung bzw. Bewahrung einer friedlichen Welt und nicht etwa eine selbstbezogene Prinzipientreue ist. Das nennt er „aufgeklärten Pazifismus“.
Hinsch macht es sich dabei nicht leicht. So schließt er sich nicht der Argumentationslinie des Utilitarismus an, der entlang der Zielvorgabe des „größten Glücks der größten Zahl“ eine überzeugende Befugnis zur Verhinderung von Unglück in Form humanitärer militärischer Interventionen auf der Grundlage einer abwägenden Beurteilung ihrer Folgen bereitstellt. Er folgt den Vorgaben des Utilitarismus jedoch insoweit, als er dessen von der Anlage her universalistische, also nicht an eine bestimmte Kultur gebundene Argumentation übernimmt, dabei jedoch die Vorstellung vom größten Glück der größten Zahl durch einen Minimalstandard der Menschenrechte ersetzt, dessen Verletzung innerhalb eines Staatsgebiets oder vergleichbarer Räume militärisches Eingreifen von außen rechtfertigt. Indes bleibt es auch für Hinsch dabei, dass die potentiellen Interventen damit zwar über eine Legitimation zum militärischen Eingreifen verfügen, aber zu solchem Eingreifen nicht verpflichtet sind. Das ist die Folge dessen, dass Hinschs Argumentation sich auf moralische Prinzipien, aber nicht auf rechtliche Festlegungen bezieht. Er bezweifelt nämlich, dass es im Hinblick auf eine stabile Friedensordnung von Vorteil ist, wenn das staatenbezogene Souveränitätsprinzip durch eine staatenübergreifende Rechtsordnung abgelöst und das Militär infolgedessen in eine Art globale Polizei verwandelt wird.
Der aufgeklärte Pazifismus, wie ihn Hinsch entwirft, hält also die politische Mitte zwischen einem uneingeschränkten Souveränitätsprinzip, bei dem das, was im Inneren eines Staates geschieht, eine rein innere Angelegenheit dieses Staates ist und die Weltgemeinschaft nichts angeht, und einer Weltstaatsvorstellung, bei der die Spitze dieses Weltstaats eine Aufsichts- und Eingriffsbefugnis gegenüber den rudimentär fortbestehenden Staaten hat, bei der die Verpflichtung auf den Schutz der Menschenrechte in positives Recht umgewandelt worden ist. Die zentrale Instanz in Hinschs Argumentation ist die Moralphilosophie, die Leitlinien und Reflexionskategorien für die Durchbrechung des Souveränitätsprinzips bereitstellt, aber keine zwingende Verpflichtung zur Intervention enthält. In jedem denkbaren Fall muss das neu geprüft und entschieden werden und dabei spielen nach Hinsch fünf Kriterien die ausschlaggebende Rolle: der gerechte Grund; die sorgfältige Abwägung dessen, ob durch die Intervention in höherem Maße die Verletzung von Menschenrechten verhindert wird oder ob diese selbst dabei gravierend verletzt werden und ob der diesbezügliche Nutzen der Intervention die menschenrechtlichen Konstellationen im Falle einer Nichtintervention klar übertrifft; sodann die feste Absicht der Interventen zur Herstellung einer gerechten Nachkriegsordnung; die rechtmäßige Durchführung der Militäroperation sowie schließlich die legitime Autorität zur Intervention. Weder Rechtsgründe noch die Interessen der intervenierenden Staaten spielen bei dieser Entscheidung die ausschlaggebende Rolle, sondern diese fällt allein einer an den Vorgaben der Menschenrechte orientierten politisch-moralischen Urteilskraft zu.
Ein solcher Entwurf für eine „Moral des Krieges“ hat den Vorzug, die Praxis der Kriegführung und die Entscheidung zum Gebrauch militärischer Mittel einer Ordnung zu unterwerfen, die den Krieg „bändigt“ und im Unterschied zum prinzipiellen Pazifismus doch keine Prämie an diejenigen auszahlt, die sich an Werten und Normen nicht stören und Gewalt nach Maßgabe ihrer Interessen anwenden. Zugleich ist die Realisierung dieses Vorschlags nicht an eine politisch wenig wahrscheinliche Neugestaltung der Weltordnung geknüpft, in deren Folge die „Guten“ an die Macht kommen und sie demgemäß nutzen würden. Aber wo bleibt dabei der UN-Sicherheitsrat, der in den deutschen Legitimationsdiskursen eine so große Rolle spielt? Bei Hinsch spielt er keine Rolle, denn die dort geführten Debatten und die danach getroffenen Entscheidungen seien von den Interessen der Großmächte bestimmt und nicht durch die Orientierung am Schutz der Menschenrechte geprägt. Dem wird man angesichts der Vetopraxis der ständigen Mitglieder kaum widersprechen können. Wer sich auf den Sicherheitsrat beruft, legitimiert also indirekt die Praxis der Großmächte und verfügt über keine relevante Evaluationsebene jenseits von Großmachtpolitik.
Das also ist der Lohn, den man bekommt, wenn man sich durch die gelegentlich an ein philosophisches Proseminar erinnernden Erwägungen und Prüfungen des Buches durchgearbeitet hat: Feststellungen und Vorschläge von großer politischer Prägnanz, die geeignet sind, den bisher eher sterilen Austausch von Glaubensüberzeugungen in eine fruchtbare Debatte zu überführen.
Anmerkung:
1 Eine historisch genauere Betrachtung kommt freilich zu dem Ergebnis, dass die Doppelung erst seit den jugoslawischen Zerfallskriegen, insbesondere seit Srebrenica, im öffentlichen Diskurs eine Rolle spielt. Zuvor war allein die Formel „Nie wieder Krieg“ vorherrschend, die das argumentative Dilemma nicht kannte.