Dass die Protestbewegungen der 1960er-Jahre nicht nur Großstädte, sondern auch „die Provinz in Bewegung“ brachten1, thematisiert die Forschung bereits seit der Jahrtausendwende.2 Erschöpft hat sich dieser Ansatz noch nicht, weil er eine Fülle von Einzelstudien ermöglicht und erfordert. Dies verdeutlicht der vorliegende Sammelband, der auf einer Konferenz in Münster 2014 basiert, organisiert durch Julia Paulus vom dortigen Institut für westfälische Regionalgeschichte. Die Beiträge sollen zeigen, wie sich in den 1970er- und 1980er-Jahren „(groß-)städtische und ‚ländliche‘ Emanzipationsbewegungen“ zueinander verhielten (S. 12). Zudem sollen sie dafür sensibilisieren, dass die einseitige Beschäftigung mit „städtischen Bewegungen“ der „Komplexität der Bewegungsprozesse“ nicht gerecht werde (S. 17). Diese Erklärung irritiert etwas, da in dem Band auch alternative Bewegungen in Städten wie Dortmund, Mainz oder Wiesbaden untersucht werden. Das ermöglicht eine großzügige Auslegung des Begriffs „Provinz“: Im Grunde genommen wird dazu jeder Ort gezählt, der sich subkulturellen Impulsen verschloss oder den die „alternative“ Szene selbst als „Provinz“ bezeichnete.
Der Begriff erlebte dabei einen tiefgreifenden Bedeutungswandel vom Schreckens- zum „Sehnsuchtsort“. Bertolt Gießmann schreibt, die Studentenbewegung der 1960er-Jahre habe unter „Provinz“ einen „Hort autoritär-traditionaler Charakterstrukturen“ verstanden (S. 44). In den 1970er-Jahren hätten alternative Bewegungen hingegen mit Sympathie auf die „Provinz“ als von kapitalistischen Zentren ausgebeutete und unterdrückte Peripherie geblickt. „Linke“ Aktivisten im ländlichen Raum hätten wiederum in den 1970er-Jahren begonnen, eine eigene „Provinzidentität“ zu entwickeln (S. 49). Diesen Aspekt vertieft David Templin, der sich mit dem aus Jugendzentrumsinitiativen Anfang der 1970er-Jahre entstandenen „TAL-Kreis“ um Albert Herrenknecht in Franken-Hohenlohe befasst. Bei aller Kritik an den Verhältnissen in der „Provinz“ war für Herrenknecht und ähnlich Denkende klar, dort bleiben zu wollen, „wo wir uns dazugehörig fühlen“ (S. 34). Parallel entschieden sich städtische „Linke“ bewusst für ein Leben in der „Provinz“. Eva Wonneberger stellt „Allgäuer Aussteiger“ vor, die ab Ende der 1970er-Jahre aus Städten aufs Land zogen. Sie folgten damit aus den USA stammenden Visionen von „zurück zur Natur“ (S. 57).
Die folgenden Beiträge zeigen teilweise sehr interessante Austauschprozesse zwischen Bewegungszentren und Bewegungsperipherie. Ulf Teichmann etwa analysiert das Verhältnis zwischen der West-Berliner und der Bochumer Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre. Er räumt ein, dass Bochum und das Ruhrgebiet „keine ‚Provinz‘ im herkömmlichen Sinne“ gewesen seien. Allerdings hätten „universitäre und intellektuelle Traditionen“ sowie „avantgardistische (Sub-)Kulturen“ gefehlt, die andernorts die Entstehung „neuer Protestformen“ ermöglichten (S. 187f.). Die „Ruhr-Universität Bochum“ begann erst 1965 ihren Lehrbetrieb und eine Studentenbewegung entstand mit zeitlicher Verzögerung zu West-Berlin oder Frankfurt am Main. Diese „Zentren der Bewegung“ gaben, so Teichmann, den Bochumer Aktivisten in der Folge wichtige „Mobilisierungsimpulse“ und die dortigen „Protestformen“ wurden nachgeahmt. Die Bochumer Studenten seien jedoch auch eigene Wege gegangen und hätten „lebensweltliche Alltagsthemen“ aufgegriffen, etwa Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr (S. 199). Moderate Studentenvertreter hatten laut Teichmann großen Einfluss; sie unterhielten gute Kontakte zu den Gewerkschaften. Der Autor begründet dies mit dem Fehlen „autoritärer Reizfiguren […], wie sie in Berlin zur Genüge vorhanden waren“ (S. 209). Außerdem kamen viele Studenten in Bochum selbst aus dem Arbeitermilieu. Weil sich zahlreiche Arbeiter in der Gegend an den Protesten gegen die Notstandsgesetze beteiligten, habe wiederum der West-Berliner SDS mit wachsendem Interesse ins Ruhrgebiet geblickt. Das „erhoffte Bündnis mit der ArbeiterInnenschaft“ schien in dieser „Industrieregion“ „am ehesten greifbar“ (S. 206). Einige Vertreter des Berliner SDS seien sogar zu einer Ortsbegehung in das aus ihrer Sicht „provinzielle“ Bochum gereist.
Die württembergische Universitätsstadt Tübingen betrachtete die lokale Alternativszene offenbar selbst als „provinziell“. Noch 1986 sprach das „alternative Stadtbuch“ von einer „stinknormalen, konservativen süddeutschen Kleinstadt“ (S. 93). Allerdings konnte Tübingen die in Bochum fehlende „universitäre und intellektuelle Tradition“ vorweisen. Gesa Ingendahl interpretiert Tübingen daher in ihrem zusammen mit vier Studenten verfassten Beitrag als Ort des „Dazwischen“: „Provinz“ nach West-Berliner oder Münchner Maßstäben, „großstädtisch-urbaner“ Impulsgeber hingegen für die Schwäbische Alb oder Oberschwaben (S. 95). Der kleinstädtische Charakter des Orts konnte für die Alternativbewegung sogar nützlich sein. Lukas Feilen erklärt den Erfolg einer Bürgerinitiative gegen den Bau einer „Stadtautobahn“ 1979 mit der „sozialen und räumlichen Überschaubarkeit der Stadt“ bzw. der dort möglichen „direkten Kommunikation und Verbindlichkeit“ (S. 109). Die studentischen Aktivisten hätten ihre „provinziellen“ Mitbürger und deren Befindlichkeiten gekannt. „Großdemos oder Blockaden“, die „einen Großteil der Bevölkerung abgeschreckt“ hätten, vermieden sie laut Feilen bewusst (S. 106). Stattdessen setzten sie auf „geselliges Zusammensein bei Speis und Trank“, um Informationen und Argumente zu verbreiten (S. 108).
Ähnlich wie in Tübingen war die Situation der „Neuen sozialen Bewegungen“ (im Speziellen der Anti-AKW-Bewegung) offenbar in Mainz und Wiesbaden. Matthias Lieb definiert diese Orte als „mittlere Großstädte“ im Spannungsfeld zwischen den „Bewegungsmetropolen Frankfurt und Berlin“ auf der einen, der „tiefen Provinz“, sprich dem ländlichen Umland, auf der anderen Seite (S. 211). Das „linksalternative Milieu“ selbst habe Mainz und Wiesbaden mit Blick auf „fehlende kulturelle und soziale Vielfalt“ halb ironisch als „Provinz“ bezeichnet (S. 213). Der lokalen Anti-AKW-Bewegung sei es jedoch gelungen, ihre Mitbürger ein Stück weit wachzurütteln, indem sie gezielt über das Gefährdungspotential der in der Umgebung geplanten Atomkraftwerke aufklärte und ein „Betroffenheitsgefühl“ unter den Mainzern und Wiesbadenern schürte (S. 225). Den Einwohnern des AKW-Standorts Biblis (ca. 60 Kilometer südlich von Mainz) seien die Anliegen der Demonstranten hingegen „fremd“ geblieben. Dies lag wohl nicht zuletzt daran, dass die Atomkraftgegner die Einheimischen als „spießig“ und „von RWE [Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk] gekauft“ abqualifiziert hätten (S. 230).
Dass die „tiefe Provinz“ durchaus offen sein konnte für neue Ideen, belegt hingegen die Studie von Christine Bald zur „Neuen Frauenbewegung“ in Trier und Umgebung. Von der Trierer Universität ausgehende Initiativen hätten in das ländliche Umland ausgestrahlt. 1994 entstand im Hunsrück ein „Internationales Frauenmusikfestival“, das nun seinerseits Besucher aus Trier angezogen habe (S. 162). Wie im Falle Tübingens sei in Trier zudem ein gewisser Schulterschluss zwischen „alternativer“ Szene und eher konservativen Kreisen gelungen. Die Autorin zeigt, dass katholische Frauenorganisationen „Formen und Inhalte der Neuen Frauenbewegung“ teilweise übernahmen und mit dieser mitunter auch kooperierten (S. 175).
Weniger harmonisch geht es in den übrigen Beiträgen zu. Cordula Obergassel beschreibt, wie schwer es die Anhänger „alternativer Kultur“ in Dortmund und Münster 1975 bis 1990 hatten. Hans-Gerd Schmidt schildert, wie subkulturelle und emanzipative Initiativen in der Region Lippe auf Widerstand stießen. Gunter Mahlerwein betont die Beharrungskraft traditioneller ländlicher Strukturen in Rheinhessen. „Traditionsorientiertes Verhalten“ und „frühe Einbindung in das Vereinswesen“ ließen sich dort mindestens bis in die späten 1970er-Jahre nachweisen (S. 180).
Die „Neuen sozialen Bewegungen in der Provinz“ wurden demnach mal abgelehnt, mal begeistert aufgenommen, waren da erfolgreich und scheiterten dort. In kleineren Universitätsstädten ließen sich die „bewegten“ Studenten einerseits vom West-Berliner Beispiel inspirieren. Andererseits agierten sie gemäß den lokalspezifischen Verhältnissen und setzten entsprechende Schwerpunkte. Diese Komplexität prägnant vor Augen zu führen, ist die Leistung des vorliegenden Bandes. Erklärungen für die unterschiedlichen Entwicklungen bietet das Werk aber nur in Ansätzen. Augenfällig ist etwa der Kontrast zwischen der arroganten Haltung der Anti-AKW-Bewegung gegenüber der Bevölkerung in Biblis und dem bodenständigen Auftreten der Tübinger Bürgerinitiative. Inwieweit sich aus Einzelstudien, wie sie hier vorliegen, allgemeine Tendenzen ableiten lassen, bleibt weitgehend offen. Deutlich wird jedenfalls, wie der Begriff „Provinz“ schon zeitgenössisch zum Einsatz kam – teils kritisch und strategisch, teils auch als humorvolle oder ironische Selbstbeschreibung.
Anmerkungen:
1 Katja Nagel, Die Provinz in Bewegung. Studentenunruhen in Heidelberg 1967 bis 1973, Heidelberg 2009.
2 Vgl. Philipp Gassert, Das kurze „1968“ zwischen Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur: Neuere Forschungen zur Protestgeschichte der 1960er-Jahre, in: H-Soz-Kult, 30.04.2010, https://www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte-1131 (29.05.2018), S. 34 (PDF-Version).