N. Hannig u.a. (Hrsg.): Vorsorgen in der Moderne

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Titel
Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken


Herausgeber
Hannig, Nicolai; Thießen, Malte
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 115
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
VI, 253 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Itzen, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Es ist schon einige Jahre her, dass sich der britische Pionier der Risiko- und Unfallgeschichte Bill Luckin darüber wunderte, dass sich (außer ihm und buchstäblich einer Handvoll von Kollegen) kaum jemand für seine Themen interessierte.1 Diese Befürchtung muss man inzwischen nicht mehr haben. Der überaus lesenswerte neue Band, den Nicolai Hannig und Malte Thießen herausgegeben haben, zeigt einmal mehr das große Interesse, das diesem Themenfeld inzwischen gewidmet wird. Orientierungspunkt der unterschiedlichen Forschungen ist laut Hannig und Thießen eine „Gesellschaftsgeschichte des Kommenden“ (S. 25), die sich vor allem befassen soll mit den Vorsorge- und Präventionskonzepten inhärenten Problem-, Ordnungs- und Zukunftsvorstellungen sowie den aus diesen Überlegungen folgenden Praktiken.

In ihrer konzeptionell ausgerichteten Einleitung entwickeln die Herausgeber ein Stufenmodell, mit dessen Hilfe sich solche Zukunftsvorstellungen sowie Ordnungs- und Sicherungsansprüche klassifizieren und einordnen lassen. Auch wenn dieses Modell zunächst etwas schematisch wirken mag, ist es doch hilfreich, um die Vorsorge- und Präventionsstrategien in den jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsfeldern voneinander abgrenzen zu können und beispielsweise unterschiedliche politische Konzeptionen sowie gesellschaftliche Handlungserwartungen deutlich machen zu können. Die „Gesellschaftsgeschichte des Kommenden“ wird auf diese Weise konkretisiert und konzeptionell nutzbar gemacht – ein wichtiger Schritt, um die Geschichte von Prävention und Vorsorge anschlussfähig zu machen an andere historiographische Themenfelder, vielleicht wichtiger noch als die interessanten Überlegungen Lucian Hölschers über die Implikationen von Vorsorgedenken für Zukunftskonzepte der Moderne, die sich am Ende des vorliegenden Bandes finden.

Die von Hannig und Thießen versammelten Autorinnen und Autoren betrachten eine beeindruckende Vielzahl von Themen, die zugleich noch einmal deutlich macht, wie intensiv dieses Feld gegenwärtig bearbeitet wird und welche ganz unterschiedlichen Gebiete mit Hilfe der Suchmaske „Prävention“ neu entdeckt oder anders interpretiert werden können: Dazu gehören die Geschichte der internationalen Politik (Fabian Klose), Diskurse in der Strafrechtswissenschaft (Annelie Ramsbrock), die Finanzwirtschaft (Martin Lengwiler), die Bedeutung von Zukunftsszenarien (Franz Mauelshagen), die Geschichte der Prävention in der Kernenergie (Christoph Strupp), die Geschichte des Straßenverkehrs (Kai Nowak und Rüdiger Graf) sowie der Körpergeschichte (Frank Becker und Nina Mackert). Die Ergebnisse sind dementsprechend vielschichtig. Zugleich werden jedoch oft Verknüpfungen zu Paralleldebatten deutlich, die die Bedeutung von Präventionsdenken im 20. Jahrhundert unterstreichen.

So schildert Annelie Ramsbrock in einem Beitrag über die Entstehung der Sicherungsverwahrung, wie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts versucht wurde, Kriterien für eine Diagnose für eine besonders ausgeprägte Veranlagung zur Straffälligkeit zu entwickeln – eine Entwicklung, die auch bei der Bekämpfung von Unfallursachen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu machen ist, als gerade in Deutschland und den skandinavischen Staaten der Versuch unternommen wurde, die zu ungeschicktem Verhalten neigenden „Unfaller“ aus dem Verkehr zu verbannen. Neben einem solchen sozialdiagnostischen Blick lassen sich als verbindendes Element von Expertenhandeln die Steuerungs- und Normierungsversuche menschlichen Verhaltens herauskristallisieren. Oft lieferte die Wissenschaft dazu die richtigen Instrumente, etwa mit der Erfindung der „Kalorie“, die Experten als Maßeinheit zur Verhaltenskontrolle und moralischen Bewertung nutzten, wie Nina Mackert analysiert. Auf Grundlage eines veränderten Körperbewusstseins schien nun das Konzept der Kalorie die Möglichkeit zu bieten, das eigene Körperbild und die eigene Gesundheit zu beeinflussen – und zwar durch Selbstkontrolle, die in der einschlägigen Ratgeberliteratur immer wieder eingefordert wurde.

Wie sich menschliches Verhalten beeinflussen ließ, beschäftigte auch Verkehrssicherheitsexperten seit dem Aufkommen des Automobils. Mit der Entwicklung einer Straßenverkehrsordnung waren nur bestimmte Bedingungen für Sicherheit im Straßenverkehr formuliert worden. Erst am Beginn des 20. Jahrhunderts setzte sich die Einsicht durch, wie schwierig es ist, menschliches Verhalten im Straßenverkehr zu ändern. Kai Nowak greift in seinem Beitrag zu diesem Thema Arwen Mohuns konzeptionelle Zweiteilung in vernakuläre und expertengeleitete Risikokulturen auf und schildert, wie Experten seit den 1960er-Jahren versuchten, Präventionsideen Teil traditionellen Risikoverhaltens werden zu lassen, und damit eine Wende einleiteten in der Unfallvermeidungsstrategie, die zuvor überwiegend auf Kontrolle, Regulierung und Disziplinierung gesetzt habe. In eine ähnliche Richtung geht letztlich auch die Analyse von Rüdiger Graf. In Anlehnung an die Verhaltensökonomie kontrastiert er die Präventionsversuche mit einer für menschliches Verhalten typischen Sorglosigkeit und mangelnden Bereitschaft, das eigene erlernte Verhalten zu ändern. Zugleich zeigt er am Beispiel der Gurtdebatte, wie Experten seit den 1970er-Jahren versuchten, diese Eigenschaften für ihre Zwecke zu nutzen, indem sie ihre Präventionskonzepte darauf (durchaus erfolgreich) ausrichteten.

Nicht nur an diesen Beiträgen zeigt sich, dass auch dieser Band einmal mehr die zentrale Rolle unterstreicht, die Experten in gesellschaftlichen Debatten spielten. Das mag bei einem Thema wie der Geschichte von Vorsorge- und Präventionskonzepten auf der Hand liegen, da deren Entwicklung wissenschaftliche Kenntnisse verlangt. Zugleich zeigt sich dabei eine grundsätzliche Schwierigkeit, die sich für Historikerinnen und Historikern stellt, die sich mit der Geschichte von Risiken, Unfällen, Prävention und Vorsorge auseinandersetzen – nämlich das Problem, wie sie die Wahrnehmung und den Umgang mit diesen Debatten in anderen gesellschaftlichen Gruppen thematisieren können. Denn auch Experten benötigen für die Durchsetzung ihrer Vorstellungen einen Resonanzraum, den sie durch ihre Konzepte zwar mitgestalten, aber nicht alleine bestimmen können, wie sich gerade an den aktuellen politischen Debatten zeigen lässt. Nicolai Hannig und Malte Thießen streben an, über die Ebene der bloßen Expertendebatten hinauszugehen und sich mit den Praktiken zu beschäftigen, und es gibt einige Aufsätze in dem Band (wie etwa Christoph Strupps Text über die Hamburger Wirtschafts- und Hafenpolitik seit den 1960er-Jahren), die diesen Anspruch erfüllen. Die Beiträge von Nowak und Graf gehen zudem bereits in die Richtung, das Wechselverhältnis zwischen Expertenhandeln und gesellschaftlicher Rezeption von Präventionskonzepten zu thematisieren. Dass sie dennoch letztlich bei Expertendebatten stehen bleiben müssen, hängt ohne Zweifel nicht zuletzt damit zusammen, dass uns für Alltagswahrnehmungen von Vorsorgekonzepten zum Teil nur schwer zugängliches sowie umständlich und langwierig auszuwertendes Quellenmaterial zur Verfügung steht. Dennoch bleibt hier ein Forschungs- und Aufgabenfeld, das im Anschluss an Bill Luckin unter der Leitperspektive sozialer Ungleichheit bearbeitet werden könnte.

Ein zweites schwierig zu lösendes Problem, das auch dieser Band erkennbar werden lässt, ist die Frage nach einer Chronologie der Prävention. Einige in dem Buch vorliegende Aufsätze deuten auf Zäsuren hin: das späte 19. Jahrhundert als Beginn expertengeleiteter Präventionsversuche, die Zwischenkriegszeit als Epoche von Ordnungsansprüchen, die sich sogar auf den einzelnen Körper beziehen, sowie auf die 1960er- und 1970er-Jahre als Beginn einer Zeit, in der eher auf indirekte und „demokratischere“ Methoden gesetzt und das Verhalten nicht abzutrainieren oder zu verdammen, sondern für die eigenen Präventionszwecke zu nutzen versucht wurde. Diese Einschnitte passen gut zu anhand anderer Gegenstände (wie der Sozial- und/oder Politikgeschichte) entwickelten Chronologien, doch müsste ihre Gültigkeit für die in diesem Band versammelten ganz unterschiedlichen Themenfelder vermutlich noch stärker überprüft werden. Die Herausgeber weisen in ihrer Einleitung selbst darauf hin, dass ein wichtiges Merkmal ihres Forschungsgegenstands seine Ungleichzeitigkeit ist. So bleibt die Frage, inwiefern sich die Präventionsgeschichte als zentrales Narrativ im Sinne der von den Herausgebern konzipierten „Gesellschaftsgeschichte des Kommenden“ für eine Geschichte der Moderne eignet oder eher ein Mittel ist, um anderen etablierten Forschungsthemen neue Aspekte abzugewinnen. Das alles spricht jedoch keinesfalls gegen den überaus anregenden und zudem hervorragend ausgestatteten Band, sondern weist eher auf die Aufgaben hin, denen sich Historikerinnen und Historiker der Präventionsgeschichte künftig noch stellen können.

Anmerkung:
1 Vgl. Bill Luckin, Accidents, disasters, and cities, in: Urban History 20 (1993), S. 177–190, hier 177.

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