Der Bau der geplanten Ostseepipeline Nord Stream 2 zum Transport von russischem Erdgas nach Deutschland rief während der vergangenen Jahre nicht nur die Kritik mehrerer Ostsee-Anrainerstaaten hervor, auch der von seiner eigenen Urteilskraft stets überzeugte US-Präsident missbilligte während des Nato-Gipfels 2018 in aller Deutlichkeit die Verlegung einer weiteren Pipeline, mit der die bestehende, 2011 eingeweihte Versorgungsleitung verstärkt werden soll.1 Unabhängig davon, wie man den Bau jener Pipeline aus umweltpolitischer und geostrategischer Perspektive bewerten mag, zeigt er doch unmissverständlich, dass Energieversorgung neben ihrer ökonomischen auch stets eine politische Dimension besitzt. Schon die Erdgasröhrengeschäfte zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR seit den 1970er-Jahren hatten in Zeiten des Kalten Krieges ähnlich heftige Reaktionen hervorgerufen. Die Geschichte der Ruhrgas AG, die über rund acht Jahrzehnte der mit Abstand bedeutendste Gasversorger Deutschlands war und über weite Strecken synonym für die Entwicklung der gesamten Branche in Deutschland steht, kann dies ebenfalls nicht ausblenden, auch wenn das Buch grundsätzlich aus der Binnenperspektive des Unternehmens geschrieben ist.
Dietmar Bleidick, der bereits 2001 eine populärwissenschaftliche Jubiläumsschrift zur Ruhrgas AG vorgelegt hat2, zeichnet hier das Bild eines Unternehmens, das in den 1920er-Jahren zunächst zur Verwendung von überschüssigem Kokereigas gegründet wurde, sich über die Eigenerzeugung von Gas aus Kohle und infolge großer Erdgasfunde von einem Energieverteiler zu einem Energieversorger wandelte und 2013 schließlich vollständig in den E.ON-Konzern integriert wurde. Gestützt auf Quellen zum Ruhrbergbau und zur Ruhrgas beim Nachfolgeunternehmen E.ON sowie auf Grundlage gaswirtschaftlicher Fachliteratur und der Berichterstattung in führenden deutschen Zeitungen fragt Bleidick nach den Motiven und Handlungsstrategien der Unternehmensleitung, dem Verhältnis von Management und Eigentümern sowie nach Formen der Unternehmensfinanzierung und -organisation. Dabei unterscheidet er für die deutsche Gaswirtschaft vier Phasen, die auch für die Ruhrgas AG kennzeichnend waren.
Den Ausschlag für die Gründung des Unternehmens als Aktiengesellschaft für Kohleverwertung (AGKV) 1926 gab die Idee, das in den Kokereien der Bergbauregionen anfallende Überschussgas zum Aufbau einer reichsweiten, zentralisierten Ferngasversorgung zu nutzen und damit zugleich die Rentabilität der Kokserzeugung zu verbessern. Ihr größter Aktionär war die Vereinigte Stahlwerke AG, deren Vorstandsvorsitzender Albert Vögler die AGKV quasi als Tochtergesellschaft betrachtete und den Netzausbau für konzerneigene Interessen nutzte. Obschon dies Kritik anderer, beteiligter Bergbauunternehmen hervorrief, bündelte die AGKV insgesamt die divergierenden Interessen des Ruhrbergbaus und beendete damit Einzelprojekte verschiedener Zechengesellschaften. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten die Großindustriellen Hugo Stinnes und August Thyssen ähnliche Gedanken propagiert, aufgrund der Uneinigkeit der Branche waren beide jedoch zunächst eigene Wege – über die Ferngasversorger RWE und Thyssengas – gegangen. Nur zwei Jahre nach ihrer Gründung übernahm die AGKV das gesamte RWE-Ferngasgeschäft und wurde in Ruhrgas AG umbenannt. Mit ihrer Etablierung begann die zweite Phase der deutschen Gaswirtschaft, die durch den strukturellen Gegensatz von kokereigasbasierter Ferngasversorgung und stadtgasbasierter Gruppengasversorgung gekennzeichnet war. Schnell avancierte sie zum größten deutschen Gasversorger und erreichte 1936 einen Marktanteil von rund 50 Prozent. Allerdings entfielen hiervon etwa 40 Prozent auf Durchleitungsgas der Konzernzechen und vom restlichen Verkaufsgas gingen nochmals ca. 75 Prozent an industrielle Abnehmer. Ihr Geschäft basierte somit größtenteils auf Industriegaslieferungen.
Das Versorgungsnetz beschränkte sich in jener Zeit weitgehend auf das Ruhrgebiet. Während des Nationalsozialismus konnte das Unternehmen mit Unterstützung des Reichswirtschaftsministeriums und anderer NS-Institutionen zwar das Leitungsnetz bis in den Frankfurter Raum ausdehnen, allerdings blieb die räumliche Erweiterung auf dieses Großprojekt beschränkt. Bemerkenswerter war eine Umkehr der Nachfragesituation. Während das Unternehmen zuvor Probleme hatte, die Gasproduktion am Markt abzusetzen, kam es ab 1937 infolge eines rasant wachsenden Bedarfs – nicht zuletzt aufgrund der nationalsozialistischen Rüstungswirtschaft – zu einem Gasmangel, dem Anschlusssperren für Neukunden und Kontingentierungen für Altkunden folgten. Die Einbindung der Ruhrgas in das nationalsozialistische Energiewirtschaftssystem spiegelte sich in der Mitgliedschaft des Führungspersonals in zahlreichen Planungs- und Lenkungsgremien sowie dem frühen Einsatz von Zwangsarbeitern wider, über dessen Umfang Bleidick aufgrund der Aktenlage jedoch keine genaueren Angaben machen kann.
Die stetigen Versorgungsdefizite waren auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein wesentliches Merkmal der Branche, obgleich Leitungsnetz und Betriebsanlagen nach 1945 schnell wiederhergestellt waren. Von den Entflechtungs- und Neuordnungsmaßnahmen in der Montanindustrie war die Ruhrgas AG nur indirekt betroffen, und auch die Aktionärsstruktur blieb weitgehend stabil. Die wesentlichen Änderungen in den 1950er-Jahren sieht Bleidick in den Gasimporten aus den Niederlanden und Belgien, im Übergang zum Untertagespeicher, um Lastspitzen besser ausgleichen zu können, sowie im Einstieg der Ruhrgas in die Eigenerzeugung von Gas, wodurch sie in direkte Konkurrenz zu ihren eigenen Aktionären trat. Bedeutsamer war jedoch der Umbruch in den 1960er-Jahren, als die traditionelle Erzeugungsbasis infolge der Montan- und Kohlenkrise verlorenging und das Zeitalter des Erdgases – die dritte Phase – anbrach. Viele Kommunen blickten den großen Erdgasfunden in Algerien und den Niederlanden mit Euphorie entgegen, da sie hofften, sich bald dem Lieferdiktat der Ruhrgas AG entziehen zu können. Zugleich wurde die Stellung der Ruhrgas durch die Ankündigung der Mineralölkonzerne Esso und Shell bedroht, mit einem eigenen Transportsystem nach Deutschland vorzustoßen. Unter maßgeblicher Einflussnahme des Staates wurde daraufhin ein Energiekonzept entwickelt, bei der die Ruhrgas AG den „im Mineralölsektor nicht vorhandenen starken deutschen Player auf dem Erdgasmarkt darstellte“ (S. 571). Hierbei wurde die Anteilseignerstruktur der Ruhrgas für die Erdgasanbieter geöffnet und über eine Stimmenparität ein Ausgleich zwischen montanindustriellen Alt- und mineralölwirtschaftlichen Neuaktionären gefunden. Die Ruhrgas profitierte vom Image des sauberen Energieträgers, dessen steigende Nachfrage insbesondere durch neue Funde in der Nordsee und das erste Erdgasröhrengeschäft mit der Sowjetunion 1969/70 gedeckt wurden, womit ihr Geschäft unmittelbar zu einem Faktor der sozialliberalen Entspannungspolitik wurde.
In den 1990er-Jahren deutete sich nach der Einführung der Ferngasversorgung in den 1920er-Jahren und dem Markteintritt des Erdgases in den 1960er-Jahren dann ein dritter Umbruch an, der parallel zu anderen zeithistorischen Transformationsprozessen verlief und durch den Zusammenbruch des Ostblocks sowie die Liberalisierungspolitik der EU gekennzeichnet war. In Ostdeutschland erreichte die Ruhrgas nur eine relativ geringe Marktposition, zugleich stieg mit der BASF-Tochtergesellschaft Wintershall AG ein bedeutender Konkurrent auf dem westdeutschen Markt auf. Ganz im Sinne des neoliberalen Zeitgeistes wurden bestehende Strukturen der Energiewirtschaft und damit auch die Geschäftsgrundlage der Ruhrgas zunehmend infrage gestellt. Am Ende dieses Prozesses stand unter der Verheißung umfassender Preissenkungen die gesellschaftsrechtliche Trennung von Netz und Vertrieb. Die Ruhrgas reagierte hierauf mit der Erhöhung der Marketingaktivitäten, dem Vorstoß in das Endverbrauchergeschäft und der Beteiligung an diversen ausländischen Gesellschaften, doch wurde die Strategie keineswegs von allen Aktionären mitgetragen. Im Rahmen der Auflösung der alten „Deutschland AG“ wurde daher auch die rund drei Jahrzehnte andauernde Partnerschaft in der Ruhrgas aufgegeben, welche mit der Übernahme der Ruhrgas AG durch die E.ON AG 2003 und ihrer Zerschlagung zwischen 2009 und 2013 endete.
Bleidick gelingt es, die Handlungsmotivationen zahlreicher Unternehmensakteure bei oftmals heterogener Interessenlage über einen langen Zeitraum herauszuarbeiten. Die Vielzahl der Ziele, Positionen und Vorschläge beleuchtet die Komplexität unternehmerischer Entscheidungsprozesse, obschon hiervon letztlich nur ein Teil tatsächlich realisiert wurde. Während er diesen Prozessen viel Platz einräumt, erfährt man mit Ausnahme des Führungspersonals wenig über die Struktur der Belegschaft, auch wenn dies teilweise der Überlieferung geschuldet sein dürfte. Insgesamt bietet die Geschichte der Ruhrgas sicherlich weit mehr als eine konventionelle Unternehmensgeschichte, die das Unternehmen nur aus sich selbst heraus erklären will, denn erstens verbindet Bleidick die Innenperspektive des Unternehmens immer wieder mit größeren ökonomischen und energiepolitischen Zusammenhängen und zweitens werden hier in weiten Teilen die Strukturen der gesamten deutschen Gasbranche nachgezeichnet, weshalb das Buch nicht nur für Unternehmens- und Wirtschaftshistoriker/innen, sondern auch für energiehistorische Forschungen zum 20. Jahrhundert Relevanz hat.
Anmerkungen:
1 Nato-Gipfel. US-Präsident Trump setzt Deutschland unter Druck, in: Spiegel Online, 11.07.2018, http://www.spiegel.de/politik/ausland/donald-trump-nennt-deutschland-geisel-russlands-a-1217801.html (04.09.2018).
2 Dietmar Bleidick, Schlaglichter. Die ersten 75 Jahre. Hrsg. von der Ruhrgas AG, Essen 2001.