Im Jahr 2015 lancierte das PEW Research Center, einer der größten politischen Thinktanks der USA, eine Internet-Umfrage zum Thema „Are you in the American middle class?“. Nach Eingabe unterschiedlicher Daten wie Haushaltseinkommen, Haushaltsgröße und Wohnort erhielten Nutzerinnen und Nutzer eine Einstufung. Dabei wurden etwa 20 Prozent der Teilnehmer und Teilnehmerinnen als Angehörige der „upper class“ identifiziert, knapp 30 Prozent als solche der „lower class“ und immerhin gut die Hälfte der Teilnehmerinnen und Teilnehmer erhielten eine Einstufung als Angehörige der „middle class“.1 Die Umfrage erfreut sich bis heute großer Beliebtheit und wird beständig aktualisiert. Besonders aufschlussreich sind dabei die Nutzer-Kommentare, welche die Schwierigkeiten des Statuserhalts thematisieren und deutlich die Effekte fortgesetzter ethnischer Diskriminierung, regionaler Disparitäten, von Bildungs- und Qualifikationsunterschieden, höchst heterogenen Geschlechternormen, Familienbildern und religiösen Werten beschreiben. Dies wirft wiederum die Frage nach der Reichweite des Konzeptes einer „middle class“ als sozioökonomischer Formation und „Wertegemeinschaft“ auf.
Dabei ist gerade aus historischer Perspektive die Frage nach der Genese und Bedeutung einer „American middle class“ interessant. So stellt Christian Johann in seiner Berliner Dissertation explizit die amerikanische Mittelklasse in den Mittelpunkt seiner Untersuchung des amerikanischen Wohlfahrtsstaates von den 1930er- bis 1970er-Jahren. Er diagnostiziert eine spannungsreiche Wechselbeziehung: „Die Mittelklasse war zentral am Ausbau des Wohlfahrtsstaates beteiligt. Dieser war wiederum ein ideelles und reelles Gerüst für die Entwicklung der Mittelklasse.“ (S. 30)
Der Untersuchungszeitraum der Studie orientiert sich an der Geschichte der US-amerikanischen Wohlfahrtsprogramme vom New Deal bis zu Nixons konservativen Reformversuchen im Jahr 1972. Dieser Untersuchungsrahmen ist plausibel, legt man den Fokus primär auf die Entwicklung der wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen vom „Social Security Act“ (1935), dem ersten Sozialgesetz der USA, welches eine Grundsicherung bei Arbeitslosigkeit und Krankheit einführte, bis hin zum Family Assistance Plan (1969–1972), der ein von Kritikern wahlweise als zu niedrig oder zu hoch kritisiertes Grundeinkommen für arme Familien in Aussicht stellte. Der zeitliche Zuschnitt birgt aber das Risiko, dass Clintons Wohlfahrtsreform von 1996 (mit deren Analyse Christian Johann die Einleitung seiner Studie beginnt) als eigentlicher Fluchtpunkt der historischen Entwicklung aus dem Blick gerät. Auch vergibt der Verfasser somit eine Chance, die Auseinandersetzungen um den „welfare state“ in den 1980er-Jahren und um das rassistische Stereotyp der „welfare queen“ in die Analyse miteinzubeziehen.
Um das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat und Mittelklasse näher zu untersuchen, fokussiert sich Johann sehr nachvollziehbar auf die Felder „Armut, Wohnen und Altersversorgung“. Hierzu gliedert er seine Untersuchung in fünf Kapitel, die diesen chronologischen und thematischen Zugriff jeweils verschränken: Kapitel 2 untersucht die staatliche und kommunale Wohnungspolitik während der 1930er-Jahre am Beispiel Birminghams und blickt auf das Modellprojekt „Cahaba Village“. Dort entstanden staatlich finanzierte Mietshäuser für Familien gleichen Einkommens – mit der Idee, solidarische Gemeinschaft und politische Verlässlichkeit zu fördern. Kapitel 3 nimmt die Rentenreformen der 1950er-Jahre in den Blick und verfolgt, wie die Rente unter Verweis auf moralische Werte der „middle class“ (Sparsamkeit, Vorsorge, Verdienst) als „Anrecht“ und nicht länger als Unterstützungsleistung definiert wurde. Kapitel 4 verfolgt dann die Wohnungspolitik in Birmingham bis zum Ende der 1960er-Jahre, als sich Innenstadtbewohner, die sich der „middle class“ zurechneten, gegen die Suburbanisierung der Region und die Vernachlässigung ihres Stadtviertels „Chestnut Hills“ zur Wehr setzten. Kapitel 5 untersucht die „middle Americans“ als neue Protagonisten einer Kritik am Wohlfahrtsstaat in den späten 1960er-Jahren, die ihre eigenen bescheidenen Verhältnisse mit denjenigen der Wohlfahrtsemfänger/innen verglichen und diese als „undeserving poor“ abqualifizierten. Kapitel 6 schließlich untersucht die Versuche der Neustrukturierung von Wohlfahrt zu Beginn der 1970er-Jahre. Das Fazit versucht das Verhältnis von „middle class“ und „welfare state“ neu zu bestimmen.
Das wichtigste Verdienst der Studie ist eine anschauliche regionalhistorische Untersuchung der Wohlfahrtsprogramme und ihrer Rezeption in Birmingham, Alabama. Hier erhalten auch die Betroffenen eine Stimme, die sich um ihre Wohnviertel, ihre Steuerlast und ihre Zugehörigkeit zur „middle class“ sorgten und ihre Repräsentanten damit konfrontierten. Anhand der zahlreichen Fallbeispiele versteht man vor allem, wie bei Amerikanerinnen und Amerikanern in Birmingham aus dem Gefühl, zu viel zu zahlen „für die Armen“, eine rigorose Ablehnung wohlfahrtsstaatlichen Engagements entstand. Dies wiederum legitimierte die fortwährende Beschneidung der Wohlfahrtsprogramme seit den 1970er-Jahren bis hin zum „end of welfare as we know it“ in der Wohlfahrtsreform 1996. Ebenfalls wird klar, dass anhand von Wohlfahrtsprogrammen immer auch die Kategorie „race“ verhandelt wurde und Wohlfahrtsempfänger/innen auf die Werte der Mittelschicht festgelegt wurden. Wichtig ist auch der Aspekt, dass wohlfahrtsstaatliche Programme, wie rudimentär auch immer, eine ganze Bürokratie von Experten, Institutionen und Sozialarbeitern schufen und alimentierten, die dann wiederum Zielscheibe populistischer Kritiker wurden und mit zur Diskreditierung der Wohlfahrtspolitik beitrugen.
Diesen Leistungen stehen jedoch auch einige Schwachpunkte gegenüber. Zuallererst fällt auf, dass die beiden Leitkategorien der Untersuchung – „Mittelklasse“ und „Wohlfahrtsstaat“ – von Beginn nicht ganz klar sind und auch im Verlauf der Darstellung nicht präzise bestimmt werden: Während „Mittelklassen“-Zugehörigkeit für Johann durch Aufstiegsorientierung und Angestelltenstatus („white collar“) determiniert ist, zählt er aber auch Teile der Arbeiter/innen dazu. Folgerichtig erweitert er die Kategorie um die „middle Americans“ oder auch die „lower middle class“ (S. 13, 17), nur um gleich darauf festzuhalten, der Begriff „middle class“ sei ohnehin nur ein rhetorischer Containerbegriff ohne Definitionswert (S. 18). Die abschließende Minimaldiagnose, dass lediglich die Bezieher/innen von Wohlfahrtsleistungen nicht zur „middle class“ gerechnet wurden (S. 302), erscheint hier etwas zu basal. Ähnlich opak die Definition von Wohlfahrtsstaat: Zwar erwähnt der Autor die beiden konkurrierenden Wohlfahrtskonzepte in der Geschichte der USA – gewährte Unterstützung („public assistance“) und anspruchsbasierte Leistung („social insurance“) – bleibt aber eine konzise Definition ebenso schuldig wie die Antwort auf die Frage, ob es überhaupt gerechtfertigt ist, von den USA als „welfare state“ zu sprechen.
Ein weiteres Manko ist, dass Christian Johann zwar verspricht, die Kategorie „gender“ in seine Analyse einzubeziehen (S. 26), dies jedoch nicht einlöst und auch die Verschränkung von Geschlecht, Klasse, „race“, Alter und „(dis)ability“ nicht weiter thematisiert. Da sich das älteste Wohlfahrtsprogramm der USA, „Aid to Families with Dependent Children“, bis 1996 an Mütter und ihre Kinder richtete, war in der amerikanischen Vorstellung die Empfängerin von Wohlfahrtsleistungen eine Frau, zumeist schwarz und Mutter mehrerer unehelicher Kinder. Demgegenüber fokussierten sich Vorstellungen von „Verdienst“ und „Aufstieg“, aber auch das gesamte Konzept des „family wage“ auf die Figur des männlichen Ernährers. Solche rassistischen und sexistischen Stereotype prägten die ablehnende Haltung vieler Amerikaner/innen gegenüber Wohlfahrtsprogrammen – teilweise bis heute.2 Auch postuliert Johann zwar einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zur „middle class“ und einem bestimmten Set an Werten (Kernfamilie, Geschlechterrollen, Sparsamkeit, Aufstiegsorientierung etc.), geht aber deren historischem Wandel nicht weiter nach. Zudem werden die vielen relevanten neueren Studien zu Wohlfahrtsprogrammen und deren Abwicklung sowie zur Bedeutung von Experten nicht berücksichtigt.3 Stattdessen behält die Arbeit ihren Blickwinkel auf die primär deutsche Zeitgeschichtsforschung – das ist schade.
Nachgerade ärgerlich, aber nicht dem Verfasser anzulasten, ist die editorische (Nicht-)Bearbeitung des Bandes: Diese resultiert in zahlreichen vermeidbaren Rechtschreib- und Grammatikfehlern. Das Register ist mit nur einer Seite völlig unzureichend. Dagegen wären die Tabellen mit den Namen der Präsidenten, der Gouverneure von Alabama und der Bürgermeister von Birmingham verzichtbar gewesen.
Kurz: Aus der guten Idee, Mittelklasse und wohlfahrtsstaatliche Konzepte in den USA im Kontext ihrer Entwicklung zwischen 1933 und 1972 zu diskutieren, erwächst eine nicht durchgängig überzeugende Studie. Gut gelungen sind vor allem die Studien zu Birmingham und die Herausarbeitung der Bedeutung von „race“ in der Konzipierung und Anwendung von Wohlfahrtsmaßnahmen im Bundesstaat Alabama – hierfür kann die Arbeit bleibenden Wert beanspruchen.
Anmerkungen:
1 Richard Fry / Rakesh Kochhar, Are you in the American middle class?. Find out with our income calculator, in: PEW Research Center, 06.10.2018, https://www.pewresearch.org/fact-tank/2018/09/06/are-you-in-the-american-middle-class (20.06.2019). Erstmals publiziert am 09.12.2015.
2 Ange-Marie Hancock, The Politics of Disgust. The Public Identity of the Welfare Queen, New York 2004; Martin Gilens, Why Americans Hate Welfare. Race, Media, and the Politics of Antipoverty Policy, Chicago 1999; Jill Quadagno, The Color of Welfare. How Racism Undermined the War on Poverty, New York 1994.
3 Nur einige Beispiele: Marisa Chappell,The War on Welfare. Family, Poverty, and Politics in Modern America, Philadelphia 2010; Jennifer Mittelstadt, From Welfare to Workfare. The Unintended Consequences of Liberal Reform, 1945-1965, Chapel Hill 2005; Mical Raz, What’s Wrong with the Poor? Psychiatry, Race and the War on Poverty, Chapel Hill 2013. Zur Familie als Norm siehe Robert O. Self, All in the Family. The Realignment of American Democracy since the 1960s, New York 2012.