Anette Blaschkes Regionalstudie entstand als Dissertation im Niedersächsischen Forschungskolleg „Nationalsozialistische ‚Volksgemeinschaft‘?“. Offenbar nimmt die Autorin das Fragezeichen ernst, denn sie rückt vom – auch im Buchtitel genannten – Konzept der „Volksgemeinschaft“ als Leitkategorie ab. Das auf Formen der Vergemeinschaftung abzielende Konzept sei zu wenig offen für Formen der Vergesellschaftung, etwa die Indienstnahme der Bauernbetriebe für die Kriegswirtschaft. Stattdessen orientiert Blaschke ihre Studie am „Lebenswelt-Paradigma“ (S. 17), das die vielfältigen Denk- und Handlungsoptionen der Akteure im Spannungsfeld zwischen Mikro- und Makroebene in das Zentrum rückt. Damit distanziert sie sich auch von den in der NS-Forschung zur ländlichen Gesellschaft über Jahrzehnte vorherrschenden Paradigmen der politischen und wirtschaftlichen Durchdringung des Landes durch das Regime und des Gegensatzes von „Herrschaft und Gesellschaft“. Nicht allein die Aktionen des NS-Regimes oder die Reaktionen der Landbevölkerung, sondern die Interaktionen der individuellen und institutionellen Akteure stehen im Fokus der Untersuchung.
Das erste Kapitel erläutert den „mikrohistorisch-praxeologischen Zugang“ (S. 9) der Regionalstudie, die 24 Orte in einem niedersächsischen Landkreis unter die Lupe nimmt. Dieser Zugang umfasst vier Perspektiven: die mikrohistorische Perspektive, die das ‚Kleine‘ nicht um seiner selbst willen untersucht, sondern zur Nahsicht auf das ‚Große‘ nutzt; die praxeologische Perspektive, die die ländliche Gesellschaft als Raum von Relationen zwischen Akteuren mit ihren zugleich strukturierten und strukturierenden Praktiken begreift; die lebensweltliche Perspektive, die ‚objektive‘ Außen- und ‚subjektive‘ Innenwelt integriert, wodurch „eigensinnige Aneignungsmechanismen“ (S. 26) hervortreten; schließlich die Figurationsperspektive, die Konstellationen von individuellen und institutionellen Akteuren in verschiedenen Praxisfeldern einfängt. Dieser sozialtheoretisch reflektierte Zugang wird – unter weitgehendem Verzicht auf quantitative Analysen – mittels qualitativer Auswertungen des Quellenmaterials umgesetzt. Den Kernbestand bilden die betriebs-, familien- und personenbezogenen Akten der Kreisbauernschaft, der durch weitere archivalische und publizierte Quellen ergänzt wird.
Der Hauptteil der Studie gliedert sich nach agrarisch geprägten Handlungsräumen der Akteure in ihren Figurationen. Das zweite Kapitel skizziert den lebensweltlichen Deutungs- und Handlungshorizont der agrarischen Akteure mit Blick auf die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungslinien der Untersuchungsregion im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme. Das dritte Kapitel beleuchtet die ambivalente Rolle der Ortsbauernführer, der lokalen Funktionsträger des Reichsnährstandes, als Vermittlungsinstanz zwischen institutionellen und lebensweltlichen Dynamiken. Das vierte und umfangreichste Kapitel widmet sich den alltäglichen Handlungsräumen der Verfügungsgewalt über den Hof, der Betriebsführung in der „Erzeugungsschlacht“, den regionalen Arbeits- und Tauschbeziehungen und den lebensweltlichen Veränderungen im Krieg. Hier, in der Rekonstruktion von Interaktionen in wechselnden Akteurskonstellationen, kommt der „mikrohistorisch-praxeologische Zugang“ am deutlichsten zum Tragen.
Das fünfte Kapitel fasst die Ergebnisse der Studie zusammen und sucht sie in die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus einzuordnen. Dazu unterscheidet die Autorin zwei Ebenen: erstens das individuelle Deuten und Handeln der Akteure im jeweiligen Kontext und zweitens die Figurationen der interagierenden Akteure. Auf der Individualebene wird deutlich, dass die Ortsbauernführer nicht als totalitäres Machtinstrument dienten, sondern überwiegend am lokalen Umfeld orientiert waren – und damit die NS-Herrschaft vor Ort stabilisierten. Hofbesitzer und -besitzerinnen adaptierten, auch mit Hilfe von Anwälten, nationalsozialistische Deutungsvorgaben, etwa die im Reichserbhofrecht definierte „Bauernfähigkeit“. Zudem nutzten sie die Handlungsoptionen des Reichsnährstandes in Pachtkonflikten, Entschuldungsverfahren und sonstigen Verwaltungsvorgängen im eigenen Interesse. Ländlicher Eigensinn stellte die nationalsozialistische „Volksgemeinschaft“ nicht grundlegend in Frage, sondern stützte mitunter auch, etwa mittels Denunziationen, diesem nach Rassen- und Leistungskriterien aus- und einschließenden Gesellschaftsentwurf. Gegenüber der eher von Koexistenz geprägten Vorkriegsphase brachten die Kriegsjahre eine „repressive Dynamisierung“ (S. 422), vor allem durch den rigide eingesetzten Kontroll- und Sanktionsapparat. Damit traten in den alltäglichen Auseinandersetzungen übergeordnete, oft ideologische Motive gegenüber den pragmatischen „hof- und ortszentrierten Eigenlogiken“ (S. 423) zurück. Dies führte etwa im Ringen um die begehrte „Unabkömmlichkeitsstellung“ zu neuen Ungleichheiten – und schwächte damit die Egalität vortäuschende „Volksgemeinschaft“.
Die auf der Individualebene festgestellten Aneignungsweisen schlagen sich auf der Figurationsebene in entsprechenden Akteurskonstellationen nieder: Neu hinzutretende Akteure wie Kreis- und Ortsbauernführer hoben das vormals Private der ländlichen Lebenswelten in (halb-)öffentliche Zusammenhänge. So etwa ließen sich Familienkonflikte um den Hofbesitz auf der Bühne der Erbhofgerichtsbarkeit austragen. Damit drang die Spannung zwischen den politisch-ideologischen und wirtschaftlich-pragmatischen Ansprüche des NS-Systems in die ländlichen Lebenswelten ein. Die Kriegsdynamik schuf neue Konfliktfigurationen, die sich um Einrückungen zur Wehrmacht, Ablieferungsverpflichtungen und den Zwangsarbeitseinsatz aufbauten. Entgegen der vielfach behaupteten Solidarisierung der Landbevölkerung gegen den Zugriff des Nationalsozialismus entsteht hier der Eindruck der „‚Atomisierung‘ der lokalen Sozialräume“ (S. 429) – und damit der Akzentuierung nicht nur der äußeren, sondern auch der inneren Grenzen der „Volksgemeinschaft“.
Die Regionalstudie von Anette Blaschke besticht durch die Verbindung von theoretischer Reflexion und empirischer Detailarbeit. Die mit sozialtheoretischen Begriffen gespickte Sprachform mag manchen Lesern und Leserinnen Hürden bereiten, doch der Inhalt lohnt die Mühe allemal. Die Untersuchung zeigt die Komplexität, Ambivalenz und Varianz der Deutungs- und Handlungsweisen individueller Akteure und deren Figurationen mit institutionellen Akteuren plastisch auf. Zwar beschränkt der Verzicht auf Quantifizierung die Gewichtung der zahlreichen qualitativen Einzelstudien – dies umso mehr, als manche Quellenbestände, etwa Strafgerichtsakten zu Wirtschaftsvergehen, nur punktuell ausgewertet werden. Doch jenseits einer – im statistischen Sinn ohnehin kaum erreichbaren – „Repräsentativität“ repräsentieren die detailscharf geschilderten Fälle das Spektrum agrarischer Deutungs- und Handlungsweisen im Nationalsozialismus in großer Fülle.
Welche Erkenntnisse liefert die Studie über die Untersuchungsregion und -zeit hinaus? Mikrogeschichte heißt nicht, Dörfer zu erforschen, sondern in Dörfern zu forschen. Für die Zeit des Nationalsozialismus erweitert und vertieft die Studie unser Wissen zur Eigenlogik ländlicher Akteurskonstellationen in der deutschen Gesellschaft als „Volksgemeinschaft“ – nicht nur für einzelne Etappen, sondern für die gesamte Zeitspanne: Veränderungen wie der „Rückzug in das Eigene“ heben sich im Kontrast der Vorkriegs- und Kriegsphase deutlich ab. Hingegen bleiben die Aussagen zur „zäsur- und systemübergreifende[n] Erforschung ländlicher Räume“ (S. 431) etwas vage. Dass der Nationalsozialismus die Deutungs- und Handlungshorizonte ländlicher Akteure erweiterte sowie deren Sozialräume für außenstehende und übergeordnete Einflüsse öffnete, bedürfte weiterer Überlegungen über die Zäsuren 1933 und 1945 hinweg: Inwiefern bildete der Nationalsozialismus ein belangloses Zwischenspiel, ein Nachspiel ‚traditionaler‘ oder ein Vorspiel ‚moderner‘ Figurationen in der „agrarischen Transition“ des 20. Jahrhunderts? Um diese gesellschaftsgeschichtlich wichtige Frage zu beantworten, benötigen wir nicht allein Strukturanalysen, sondern auch Vermessungen der alltäglichen Praxis, wie sie Anette Blaschke in ihrer Studie in eindrucksvoller Weise leistet.