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Titel
Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie


Autor(en)
Leanza, Matthias
Erschienen
Weilerswist 2017: Velbrück Wissenschaft
Anzahl Seiten
369 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Malte Thießen, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

Die Geschichte der Vorsorge boomt. Sammelbände und Spezialstudien, Themenhefte und ganze Graduiertenkollegs diskutieren seit einigen Jahren über gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen von „Vorsorge“, „Vorbeugung“ und „Prävention“.1 Das Interesse am Thema erklärt sich nicht zuletzt aus dessen Anschlussfähigkeit an weitere Forschungstrends. In der Geschichte der Sicherheit, in der „Zukunftsgeschichte“ oder der jüngeren und jüngsten Zeitgeschichte geht es schließlich immer auch um die Frage, wie sich Gesellschaften zu möglichen kommenden Entwicklungen verhalten.2 Der Baseler Soziologe Matthias Leanza trägt zu diesem Forschungsboom schon seit längerem bei. Bis 2016 war er Mitarbeiter am Freiburger Lehrstuhl Ulrich Bröcklings, der die Präventions-Forschung mit grundlegenden Beiträgen angestoßen hat.3 Vor einigen Jahren hat Leanza in diesem Zusammenhang eine „Geschichte des Kommenden“ skizziert, die nach Zeitsemantiken und Zeitentwürfen in Vorsorgediskursen fragt.4 Fundierte Erkenntnisse zu diesem Thema bietet nun seine vorliegende Dissertationsschrift, die 2017 vom University College Freiburg mit dem „Erasmus Prize for the Liberal Arts and Sciences“ ausgezeichnet wurde.

Ausgangspunkt des Buches ist die Frage, wie Gesellschaften gelernt haben, potenziellen Gesundheitsproblemen der Zukunft als realen Problemen in der Gegenwart zu begegnen. Leanza untersucht dafür Präventionskonzepte wie die Diätetik, Hygiene und Immunologie, die Etablierung der „Medicinalpolicey“ oder später der Eugenik und Humangenetik. Der Fokus liegt auf Deutschland, wobei der Autor immer wieder transnationale Transfers und internationale Bezüge in den Blick nimmt. Seine Studie erstreckt sich von der Aufklärung bis in die unmittelbare Gegenwart – als jüngstes Beispiel endet Leanza mit der Verabschiedung des „Präventionsgesetzes“ durch den Deutschen Bundestag im Juni 2015 (S. 287). Schon dieser lange Untersuchungszeitraum macht eine der vielen Stärken des Buches deutlich: Auf weniger als 300 Textseiten (ein umfangreiches Literaturverzeichnis kommt hinzu) unternimmt Leanza eine Reise durch eine über 200-jährige Wissensgeschichte der Prävention, die er zudem mit gelegentlichen Ausflügen in die Frühe Neuzeit und ins Mittelalter, mitunter sogar bis in die Antike bereichert.

Der doppeldeutige Titel verweist auf zwei Ziele des Buches. Erstens möchte Leanza der Historizität von Präventionskonzepten und ihrem Wandel von der Aufklärung bis heute nachspüren. Er konzipiert diese Spurensuche als eine Genealogie, die „historische Existenzbedingungen eines Phänomens“ (S. 17) erkunden, historische Teleologien und gängige Entwicklungsmodelle dekonstruieren sowie für Kontingenzen und Konstruktionen sensibilisieren möchte. Dieser Ansatz wird allerdings nicht immer konsequent umgesetzt. So flechtet Leanza trotz seiner vielen überzeugenden Dekonstruktionen „moderner“ Selbstthematisierungen gelegentlich selbst „moderne“ Teleologien in seine Argumentation mit ein. Deutlich wird das etwa in den Abschnitten zur Sozialhygiene und Ausbildung das Wohlfahrtsstaats, mit denen „eine weitere Modernitätsschwelle [...] genommen“ worden sei (S. 137), oder an den häufigen Bezügen auf „Verdichtung, Beschleunigung“ (S. 68) bzw. „Verstädterung, Armut und Globalisierung“ (S. 288) als Belegen für ein „hohes Komplexitätsniveau“ und spezifisches Bedürfnis „moderner Gesellschaften“ (S. 68) nach Präventionskonzepten. Auf einen ersten Blick operiert das Buch zudem mit vergleichsweise traditionellen Periodisierungen wie der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) und „klassischen“ politischen Zäsuren wie 1848, 1933 und 1945, an denen Leanza „Dammbrüche“ und „tiefgreifende[n] Strukturwandel“ (S. 205) festmacht – so im Falle des „Dritten Reichs“. Auf einen zweiten Blick wird allerdings deutlich, dass Leanza diese Periodisierungen selbst problematisiert und „Dispositive der Krankheitsprävention“ (S. 289) herausarbeitet, die mitunter quer zu Epochengrenzen liegen bzw. diese überschreiten. Zur Profilierung des genealogischen Ansatzes wäre es daher wohl konsequenter gewesen, das Buch nach Dispositiven und Sagbarkeiten zu gliedern.

Ein zweites Ziel des Bandes ist die Analyse von Zeitentwürfen, die sich in Präventionsdiskursen niederschlagen. Diätetik, Hygiene, Immunität und Eugenik begreift Leanza nicht nur als Gesundheitskonzepte. Darüber hinaus liest er sie als zeitgenössische Versuche, die Gegenwart und Zukunft zu gestalten. Diagnosen der „Krise“ und Zukunftsentwürfe des „Niedergangs“ bzw. der „Erlösung“ (S. 97) zielten nicht allein auf eine Ordnung der Zeit, sondern ebenso auf eine Ordnung der Gesellschaft. Zeitgenössische Konzepte von „Volk“, „Bevölkerung“, „Gemeinschaft“ oder „Gesellschaft“, auch das zeichnet die Studie eindrucksvoll nach, waren sowohl Voraussetzungen als auch Folgen spezifischer Präventionskonzepte. An dem Zusammenspiel von Gesundheitskonzepten, Zeit- und Selbstentwürfen präsentiert Leanza somit neue Funde auf dem Spannungsfeld zwischen Gesellschaft, Gesundheit, Vorsorge und Körper, das Pionierstudien unter anderem von Paul Weindling, Peter Baldwin, Dagmar Ellerbrock oder Maren Möhring eröffnet haben.5

Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive wirft insbesondere die Quellenauswahl Fragen auf. Leanza konzentriert sich in seinen Kapiteln auf eine intensive Auswertung der Forschungsliteratur und veröffentlichter Quellen. „Graue Literatur“ oder Archivalien finden sich in dem Buch keine, was für eine sozialwissenschaftliche Arbeit zunächst einmal nicht verwundert. Eine Genealogie aber, die scheinbare Teleologien in Frage stellen und den Abstand zwischen „Sein und Sollen“ (S. 16) vermessen möchte, hätte sich von weiteren Quellenarten inspirieren lassen können, um Praxis und Probleme von Präventionskonzepten, alltägliche Aushandlungen und damit tatsächlich Ereignisse dort aufzuzeigen, „wo man sie am wenigsten erwartet“.6 So bleibt Leanzas Studie einerseits oft einer Top-down-Logik verhaftet, die den Dispositiven und Diskursen anhand großer Namen nachgeht: Im Zentrum stehen zentrale Schriften von Johann Peter Frank, Adolf Gottstein, Alfred Grotjahn, Ernst Haeckel, Christoph Wilhelm Hufeland, Robert Koch, Salomon Neumann, Max von Pettenkofer, Alfred Ploetz, Wilhelm Schallmeyer, Rudolf Virchow und vielen anderen mehr, zu denen Leanza auf zahlreiche Forschungen zurückgreifen kann. Andererseits ist dies eine weitere Stärke des Buches: Es bietet nicht nur einen breiten Literaturüberblick zur Geschichte der Prävention. Leanza verbindet zudem sozial- und geschichtswissenschaftliche Ansätze miteinander und bereitet dadurch einen fruchtbaren Boden für eine Historische Soziologie bzw. sozialwissenschaftlich interessierte Geschichtswissenschaft.

Letztlich liegen mit dieser Dissertationsschrift also drei Bücher vor: Den Sozialwissenschaften bietet Matthias Leanza ein Standardwerk zur Prävention mit einer beeindruckenden historischen Tiefenschärfe, durch die auch sozialwissenschaftliche „Klassiker“ neu in den Blick geraten. Sein Band trägt insofern zu einer Reflexion soziologischer Theoriebildung bei. Der Geschichtswissenschaft wiederum eröffnet die Studie als kompaktes Handbuch einen konzisen Forschungsüberblick zum Verhältnis von Gesundheitskonzepten und Gesellschaftsentwürfen in drei Jahrhunderten. Vor allem aber legt das Buch eine Brücke zwischen beiden Fächern. Leanza erkundet mit der „Zeit der Prävention“ ein interdisziplinäres Konvergenzfeld, auf dem Sozial- und Geschichtswissenschaften in Zukunft noch enger zusammenarbeiten sollten.

Anmerkungen:
1 Vgl. als neuere Publikationen mit weiteren Literaturhinweisen u.a. das Themenheft: Britta-Marie Schenk / Malte Thießen / Jan-Holger Kirsch, Zeitgeschichte der Vorsorge, in: Zeithistorische Forschungen, http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2013 (14.04.2018); Sylvelyn Hähner-Rombach (Hrsg.), Geschichte der Prävention. Akteure, Praktiken, Instrumente, Stuttgart 2015; Frank Becker / Benjamin Scheller / Ute Schneider (Hrsg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt am Main 2016; Markus Bernhardt / Stefan Brakensiek / Benjamin Scheller (Hrsg.), Ermöglichen und Verhindern. Vom Umgang mit Kontingenz, Frankfurt am Main 2016; Nicolai Hannig / Malte Thießen (Hrsg.), Vorsorgen in der Moderne. Akteure, Räume und Praktiken, Berlin 2017. An der Universität Duisburg-Essen entstehen zurzeit im DFG-Graduiertenkolleg „Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage“ mehrere Dissertations- und Postdoc-Projekte zum Themenfeld: https://www.uni-due.de/graduiertenkolleg_1919/grako1919-start.php (14.04.2018).
2 Zum Zusammenhang zwischen einer Geschichte der Sicherheit und Vorsorgekonzepten vgl. u.a. Martin Lengwiler / Stefan Beck, Historizität, Materialität und die Hybridität von Wissenspraxen. Die Entwicklung europäischer Präventionsregime im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 489–523, http://www.zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2013-3/Lengwiler_Beck_2008.pdf (14.04.2018); Eckart Conze, Geschichte der Sicherheit. Entwicklung – Themen – Perspektiven, Göttingen 2017, S. 118–122. Zum Spannungsfeld von Zukunfts- und Vorsorgegeschichte vgl. Lucian Hölscher, Vorsorge als Zukunftshandeln. Versuch einer theoretischen Bilanzierung im Hinblick auf die Geschichte der Zukunft, in: Hannig / Thießen, Vorsorgen, S. 233–242.
3 Ulrich Bröckling, Vorbeugen ist besser... Zur Soziologie der Prävention, in: Behemoth 1 (2008), Heft 1, S. 38–48, http://www.zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2013-3/Broeckling_2008.pdf (14.04.2018); ders., Dispositive der Vorbeugung. Gefahrenabwehr, Resilienz, Precaution, in: Christopher Daase / Philipp Offermann / Valentin Rauer (Hrsg.), Sicherheitskultur. Soziale und politische Praktiken der Gefahrenabwehr, Frankfurt am Main 2012, S. 94–108, http://www.zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2013-3/Broeckling_2012.pdf (14.04.2018).
4 Matthias Leanza, Die Geschichte des Kommenden. Zur Historizität der Zukunft im Anschluss an Luhmann und Foucault, in: Behemoth 4 (2011), Heft 2, S. 11–25, https://ojs.ub.uni-freiburg.de/behemoth/article/view/761 (14.04.2018).
5 Paul Weindling, Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, Oxford 1989; Peter Baldwin, Contagion and the State in Europe, 1830–1930, Cambridge 1999; Dagmar Ellerbrock, „Healing Democracy“ – Demokratie als Heilmittel. Gesundheit, Krankheit und Politik in der amerikanischen Besatzungszone 1945–1949, Bonn 2004; Maren Möhring, Marmorleiber. Körperbildung in der deutschen Nacktkultur (1890–1930), Köln 2004.
6 Michael Foucault, Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 2: 1970–1975. Aus dem Französischen von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2002, S. 166.