Das Thema der Kollaboration ist mittlerweile zu einem Schwerpunkt der NS-Forschung geworden. Eines seiner schillerndsten Facetten ist die Unterwanderung von Widerstandsorganisationen im „Dritten Reich“ durch so genannte Vertrauensleute der Gestapo. Die Beschäftigung mit diesem dunklen Aspekt der Widerstandsgeschichte berührt die Substanz des Widerstands, wie das Buch von Hans Schafranek, das den Einsatz der als „Konfidenten“ bezeichneten Spitzel der Wiener Gestapo analysiert, eindringlich belegt. Oft waren illegale Organisationen in erheblichem Ausmaß unterwandert, teilweise sogar von der Gestapo gesteuert.
Mit seinem aktuellen Buch vertieft und erweitert Schafranek jahrelang betriebene Forschungen und besiegelt den Abschied „von der Vorstellung, die Unterwanderung durch Gestapokonfidenten sei grosso modo ein Spezifikum des kommunistischen Widerstands gewesen“ (S. 475f.). Stattdessen wird Konfidententum eher als allgemeinmenschliches Phänomen diskutiert, das über das gesamte politische Spektrum verteilt auftrat. Die Einzeluntersuchungen zum Einsatz von V-Leuten widmen sich neben kommunistischen Organisationen unter anderem den revolutionären Sozialisten, legitimistischen und konservativen sowie überparteilichen Widerstandsgruppen.
Die Fallstudien verfolgen primär einen funktionalistischen Ansatz. Das Vorgehen der von der Gestapo gesteuerten Konfidenten wird ebenso rekonstruiert wie deren Wirksamkeit einschließlich der in der Regel daraus resultierenden „Aufrollung“ des jeweiligen Widerstandskreises. Zugleich rückt die Darstellung einzelne Verräter-Persönlichkeiten wie Johann Pav, Karl Rumersdorfer oder Eduard Korbel in den Vordergrund, ohne daraus eine Dämonisierung der V-Leute abzuleiten. Bereits kleinere Hilfsdienste konnten verheerende Folgewirkungen haben, wie Schafranek an einer Stelle scharfsinnig ausführt: „Anders als bei Denunzianten, die eine oder mehrere Personen im Regelfall persönlich kannten und anzeigten, reichte bei V-Leuten häufig ein mehr oder minder regelmäßiger Kontakt mit einigen wenigen Spitzenfunktionen, um nach mehreren Wochen oder Monaten eine Gruppe von oben nach unten ‚aufzurollen’ und in der Folge durch erprügelte Geständnisse die Namen und Adressen zahlreicher Basisaktivisten auszuforschen.“ (S. 118)
Die einzelnen Verratsgeschichten sind umfassend recherchiert und spannend geschrieben. Hans Schafranek versteht es über weite Strecken, seine konzise und fokussierte Darstellung mit klaren Urteilen zu verbinden. Er räumt mit einer Reihe von Einseitigkeiten der bisherigen Forschung auf und präsentiert überzeugende Alternativen. Verratsgeschichten wie die um den zur Ausspionierung der Revolutionären Sozialisten eingesetzten V-Mann „Vogel“, dessen Identität Schafranek aufklärt, oder um Hauptmann Karl Burian, der eine legitimistische Widerstandsgruppe leitete und von der NS-Justiz mithilfe von durch die Gestapo gefälschten Akten zum Landesverräter stigmatisiert wurde, lesen sich wie ein Krimi. Die editorische Entscheidung, Lebensläufe wichtiger Personen in einen ausführlichen biografischen Anhang auszulagern, trägt viel dazu bei, dass die komplexen Geschichten in komprimierter Form dargestellt werden können.
Neben den Abschnitten zu einzelnen Widerstandsorganisationen Österreichs, inklusive des Tiroler Zweigs der kommunistischen Gruppe um den Berliner Robert Uhrig, thematisieren mehrere Kapitel allgemeine Aspekte der verdeckten Ermittlungsarbeit der Gestapo. Nach der Abklärung wichtiger Begriffe wie unter anderem Spitzel, V-Mann und Konfident wird zunächst der Bedingungsrahmen abgesteckt, indem die Strukturen und die Tätigkeit der Gestapo präzise erläutert werden. In weiteren analytischen Kapiteln werden Themen wie individuelle Motivation, das Problem der beruflichen Existenzsicherung, sowie geplante und realisierte Vergeltungsaktionen untersucht. Dabei zeigt die Regionalstudie einige Besonderheiten auf. So wurden V-Leute von der Wiener Gestapo mit deutlich höheren Geldbeträgen ausgestattet als im „Altreich“. Vergeltungsaktionen gegen „Verräter“ blieben, anders als etwa in Berlin, auf das Milieu ausländischer Zwangsarbeiter beschränkt. Auch die von Schafranek bereits an anderer Stelle publizierte Analyse der Unterwanderung des 4. illegalen Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Österreichs, das de facto ein Konstrukt der Gestapo war, war zu diesem Zeitpunkt (1942) exzeptionell.1
„Widerstand und Verrat“ ist die maßgebliche Studie zu den Spitzeln der Wiener Gestapo und das auf dem Buchumschlag selbstverliehene Prädikat „bahnbrechend“ hat einige Berechtigung. Die große Stärke des Buches sind die konzisen Teilstudien, die auf kriminalistischem Spürsinn, überzeugender quellennaher Darstellung und erfahrungsgesättigter Urteilskraft beruhen. Das ultimative Standardwerk ist das teilweise etwas eigensinnig gegliederte Buch trotzdem nicht geworden. Das liegt aus Sicht des Rezensenten vor allem daran, dass die Versuche, das Thema auf einer allgemeineren Ebene zu verhandeln, nicht in jedem Fall konsequent zu Ende geführt worden sind. Im zweiten Kapitel beispielsweise, das die „institutionellen Rahmenbedingungen und Rekrutierungslinien bei der Infiltration antifaschistischer Widerstandsgruppen durch die Gestapo“ erörtert, wird in anekdotischer Kürze auf die weit verbreitete Unzuverlässigkeit von V-Leuten hingewiesen. Das Buch präsentiert dann allerdings eine weitgehend erfolgreiche Arbeit des nationalsozialistischen Geheimdienstes, was eher eine „mörderische Effizienz“ (S. 37) zu belegen scheint. Auch angesichts der explizit referierten Kontroverse um die Effizienz der Gestapo hätte es sich angeboten, diese Frage eingehender zu diskutieren.
Eine konsequentere analytische Durchdringung hätte sich der Rezensent auch im Schlusskapitel gewünscht. Der Beginn ist vielversprechend. Schafranek zeigt, dass es wenig hilfreich ist, die komplexen Einzelfälle in das Korsett einer Typologie zu zwängen, und macht zugleich deutlich, dass Stereotypen nutzbar gemacht werden können, um bestimmte gehäuft auftretende Phänomene differenziert zu diskutieren. Zu den auf diesem Wege gewonnenen Einsichten gehört, dass materielle Vergütung – anders als von der bisherigen Forschung angenommen – eine wichtige Motivation für manche Konfidenten der Wiener Gestapo darstellte. Interessant ist auch die Beobachtung, dass viele Spitzel an gesundheitlichen Problemen litten. Schafraneks essayistische „Annäherung“ an eine Typologie der V-Leute, bei der zahlreiche „Sub-Typen“ diskutiert werden, besticht durch den behutsamen und umsichtigen Umgang mit vorhandenen Klischees. Die anschließende Hinwendung zur Diskussion von Handlungsoptionen einzelner V-Leute, die den erzählerischen Teil des Buches mit zwei biografischen Fallstudien abschließt, wird aber weder begründet noch hinterfragt. Nicht nur das hinterlässt beim Rezensenten den Eindruck, dass das Buch in analytischer Hinsicht nicht völlig ausgereift ist.
Schafranek hält sich leider auch nicht immer an den von ihm selbst gesetzten Standard hinsichtlich Prägnanz und Fokussierung. So bleibt unklar, warum auf mehreren Seiten eine von der interaktiven Website des Virtuellen Geschichtsorts Hotel Silber übernommene Auflistung der Personalstärke aller Staatspolizeistellen und -leitstellen des Reiches präsentiert wird, ganz abgesehen von der Frage, was diese Datenflut zum Verständnis des Wiener Konfidententums beiträgt. In editorischer Hinsicht fragwürdig erscheint auch der Abdruck eines fünf Seiten langen Auszugs aus einem bereits an anderer Stelle vollständig abgedruckten Ego-Dokument eines Verräters.2
Diese Beobachtungen schmälern jedoch nicht das Verdienst des Buches. Hans Schafranek vertieft, nuanciert und bereichert das Wissen um die Unterwanderung von Widerstandsorganisationen im „Dritten Reich“. Jenseits der historischen Wechselfälle arbeitet er allgemeine Aspekte des Themas heraus und zeigt, dass die Ergebnisse über die Grenzen der untersuchten Region hinaus relevant sind. Entstanden ist eine lesenswerte und scharfsinnige Analyse des Agierens und der Motivationen von V-Leuten der Gestapo, an der sich künftige Forschungen messen lassen müssen.
Anmerkungen:
1 Vgl. Hans Schafranek, Das 4. illegale Zentralkomitee der KPÖ 1942 – ein Konstrukt der Wiener Gestapo, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2016, S. 131–147.
2 Vgl. Siegfried Grundmann, Die V-Leute des Gestapo-Kommissars Sattler, Berlin 2010, S. 48–54.