Videointerviews mit Überlebenden des Holocaust und damit videografierte Erinnerungen haben sich mittlerweile in internationalen Erinnerungskulturen etablieren können. Zeitzeugenportale, insbesondere für die Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden oder zur Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik, haben daher bei weitem nicht mehr den Neuigkeitswert, den sie noch vor zehn Jahren besaßen. Schulklassen können nach wenigen Klicks den Menschen zusehen und zuhören, wie sie sich zu der Zeit erinnert haben, in der diese Videos entstanden sind. Doch nicht nur für Lernsituationen sind derartige Videointerviews bedeutsam, sondern auch die historische Forschung kann von der zunehmenden digitalen Aufbereitung, der Verschlagwortung und der Bereitstellung von Transkripten profitieren. Deshalb ist es in der Tat an der Zeit, dass mit der publizierten Dissertationsschrift Die Geschichte der Shoah im virtuellen Raum eine „Quellenkritik“ vorgelegt wird, wie es der Untertitel verspricht.
Gerade im Umfeld der Freien Universität Berlin, an der das „Zwangsarbeiterarchiv“ und das „Visual History Archive (VHA) der USC Shoah Foundation“ zugänglich sind, gab es in den letzten Jahren immer wieder verschriftlichte Überlegungen zum digitalisierten Videointerview als Quelle – besonders im Kontext didaktischer Publikationen.1 Mit ihrer 2016 abgeschlossenen Dissertation legt Alina Bothe nun eine an Umfang, Tiefe und Komplexität bemerkenswerte Studie vor, in der sie den Anspruch vertritt, die „mediale Verfasstheit der Quellen und die Konsequenzen dieser Medialität“ (S. 4) im Kontext von Digital History durchzudiskutieren. Der Bedarf an solchen kritischen Auseinandersetzungen ist groß, wie neuere Publikationen in dem Feld zeigen.2
Als Beispiel hat Bothe das Visual History Archive gewählt. Von den zwischen 1994 und 1999 aufgezeichneten knapp 49.000 Videointerviews sind circa 1.000 auf der Videoplattform YouTube einzusehen.3 Zahlreiche Bildungs- und Forschungsinstitutionen bieten weltweit einen passwortgeschützten Zugang zu dem kompletten Archiv an, wie eben die Freie Universität Berlin.4 Zudem gibt es diverse länderspezifische Lernplattformen, auf denen ein geringer Teil der Interviews bearbeitet zugänglich ist. Damit ist das VHA als digitales Archiv in der Tat ein gut gewähltes „paradigmatisches“ Beispiel „für einen medialen und kommemorativen Transformationsprozess“ (S. 2). Die Studie basiert auf der zentralen Annahme, dass die digitale Verfasstheit der Quellen eine eigene „virtuelle Sphäre“ schafft (Kap. 4). Die Autorin möchte darstellen, welchen „Einfluss […] Medien auf die Inhalte [haben], die sie übertragen“ (S. 187). Zur genaueren Fokussierung definiert Bothe klugerweise drei Analyse-Ebenen: 1. die Rekonstruktion („Wie verändert der digital turn das Erforschen der Geschichte der Shoah?“); 2. die Repräsentation („Inwiefern sind neue Formen der Repräsentation möglich?“); 3. die Rezeption („Wie werden die Zeugnisse und die ZeugInnen rezipiert?“; alle Zitate S. 5).
So klar und einleuchtend das Grundinteresse der Studie in der Einleitung benannt wird, so lange muss der/die interessierte Leser/in ausharren, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Erst in Kapitel 5 („Fallstudien“) und damit rund 300 Seiten weiter nimmt die Autorin die expliziten Leitfragen wieder auf. In der 45-seitigen Einleitung verortet sie ihre Arbeit zunächst zwischen der klassischen Geschichtsschreibung und der Digital History. So selbstbewusst die Autorin hier ihre Statements formuliert, so befremdlich erscheinen sie an der einen oder anderen Stelle, zum Beispiel, wenn unter der Teilüberschrift „Geschichte als narratives Konstrukt“ behauptet wird, dass im deutschsprachigen Raum „ein klares Verständnis postmoderner Geschichtswissenschaft fehlt“ (S. 13).
Die Teile 2 („Zeugnis und ZeugInnenschaft“) und 3 („Die USC Shoah Foundation und das Visual History Archive: Grundlagen und Quellenkritik“) können als herleitende Kapitel für den eigentlichen Kern des Buchs gesehen werden. Dort stellt Bothe in aller Breite und Tiefe ihren häufig zu Recht kritischen Zugriff auf existierende Konzepte von Zeugenschaft im Kontext des VHA dar. Die zahlreichen argumentativen Schleifen, mit denen sie ihre Expertise unter Beweis stellt, werden in Zwischen- und Kapitelfazits immer wieder zusammengebracht und neu gerahmt. In Kapitel 3 kann Bothe vor allem durch ein Close Reading der videografierten Interviews von Abraham und Regina Bomba aus dem VHA im Vergleich zu anderen Interviews des Paares die Spezifika digitaler Quellen im Allgemeinen und die Herausforderungen des VHA im Besonderen darstellen.
Auf gut 100 Seiten leitet die Autorin in Kapitel 4 wiederum sehr ausführlich die „virtuelle Sphäre als virtuelle[n] Zwischenraum der Erinnerung“ her. Dazu sieht sie sich die technischen Grundlagen an, erläutert deren Eigenlogiken und das Zusammenspiel mit dem Nutzer/innenverhalten. Anhand der Achsen Raum, Zeit, Subjekte diskutiert sie „Theorien des Zwischenraums“. Im Ergebnis liefert sie damit einen „epistemologische[n] Entwurf für die Erinnerung an die Shoah in der virtuellen Sphäre“, um anhand dessen darzustellen, wie „die Zeugnisse aus dem VHA rekonstruiert, repräsentiert und rezipiert“ werden (S. 294f.).
Die Fallstudien in Kapitel 5 überzeugen durch ihre Anschaulichkeit. Auf der Ebene der Rekonstruktion zeigt Bothe am Beispiel der „Polenaktion 1938“ das Potenzial und die Begrenzungen des VHA für die historische Forschung. Die Probleme der Repräsentation diskutiert sie im Hinblick auf Online-Ausstellungen und eLearning-Angebote. Der Rezeption widmet sich die Autorin durch eine für zukünftige Digital-History-Forschungen inspirierende Analyse von YouTube-Kommentaren.
Dem Buch hätte ein kritischeres, auch straffendes Lektorat zu mehr Lesbarkeit verholfen. Das fällt insbesondere an den Fußnoten auf, die einerseits durch ihre Dichte zu Nebenschauplätzen werden und andererseits durch ständige Verweise auf noch folgende oder bereits gelesene Kapitel des Buches ermüden. In der von der Autorin gepflegten Ausführlichkeit fehlt außerdem zuweilen die Zuspitzung auf den Kern ihrer Untersuchung. Daran zeigt sich im Umkehrschluss einmal mehr, dass es ein Gewinn für die Leser/innenfreundlichkeit sein kann, wenn Dissertationsmanuskripte für die Publikation mutiger vom akademischen Habitus einer Qualifikationsschrift befreit werden können, was keinesfalls einen Verlust an methodisch-theoretischer Tiefe bedeuten muss.
Nichtsdestotrotz: Die Autorin zeigt elaboriert die Bedingtheit und Instabilität digitaler Interviews, indem sie herleitet und eingehend darstellt, wie sich diese Interviews gerade bei der Präsentation und Rezeption im „virtuellen Zwischenraum“ verändern. Damit leistet sie mehr als eine herkömmliche Quellenkritik. Die Studie verweist immer wieder auf Potenziale, Grenzen und Herausforderungen dieser – wenn man es so nennen mag – fluiden Quellen für Wissenschaft und geschichtskulturelle Repräsentationen. Ganz zu Recht bezeichnet Alina Bothe das Problem der „Manipulierbarkeit und Glaubwürdigkeit“ als das „zentrale Zukunftsthema für Geschichte in den digitalen Medien“ (S. 290). In Anbetracht eines fortdauernden Booms von digitaler Zeugenschaft und neuer, noch weitergehender Darstellungsformen wie den „Hologrammen“5 ist der Studie eine breite Leser/innenschaft zu wünschen.
Anmerkungen:
1 Nicolas Apostolopoulos / Cord Pagenstecher (Hrsg.), Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt, Berlin 2013; Sigrid Abenhausen u.a. (Hrsg.), Zeugen der Shoah. Die didaktische und wissenschaftliche Arbeit mit Video-Interviews des USC Shoa Foundation Institute, Berlin 2012; Verena Lucia Nägel, Archivierte Zeugenschaft. Digitale Sammlungen von Interviews mit Überlebenden des Holocaust, in: Totalitarismus und Demokratie 15 (2018), S. 177–195.
2 Sonja Knopp / Sebastian Schulze / Anne Eusterschulte (Hrsg.), Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog, Weilerswist 2016; Jeffrey Shandler, Holocaust Memory in the Digital Age. Survivors' Stories and New Media Practices, Stanford 2017.
3https://www.youtube.com/user/USCShoahFoundation (02.04.2019).
4 Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität Berlin, Zeugen der Shoah. Lehren und Lernen mit Video-Interviews, http://www.zeugendershoah.de (02.04.2019).
5 Vgl. Christina Isabel Brüning, Hologramme von Überlebenden in einer sich diversifizierenden Gesellschaft?, in: Totalitarismus und Demokratie 15 (2018), S. 219–232.