Cover
Titel
Red Famine. Stalin's War on Ukraine


Autor(en)
Applebaum, Anne
Erschienen
London 2018: Penguin Books
Anzahl Seiten
XXVIII, 481 S.
Preis
£ 10.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Guido Hausmann, Arbeitsbereich Geschichte, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg

Das Buch der amerikanischen Historikerin und Journalistin Anne Applebaum, das 2017 unter dem Titel Red Famine. Stalin’s War on Ukraine und 2019 in deutscher Übersetzung erschien1, ist sowohl eine gelungene Synthese vorhandener Studien als auch eine genuine Forschungsleistung, die auf eigenen Archivrecherchen fußt und Neuland erschließt. Die Autorin hat bereits in zwei früheren Büchern zu zentralen Themen der (ost)europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts Stellung bezogen und ist insofern einschlägig ausgewiesen.2

Das in 15 Kapitel gegliederte Buch ist systematisch-chronologisch angelegt. Dabei basiert die Studie vor allem auf der Analyse der ukrainisch-, russisch- und englischsprachigen Quellen und Fachliteratur und bezieht auch Literatur weiterer Sprachen ein, nicht jedoch die wenige deutschsprachige Fachliteratur. Im Ergebnis füllt das Buch eine wichtige Lücke: Es bietet eine umfassende Darstellung des „Holodomor“, des politisch herbeigeführten Massenhungers in der Ukraine 1932/33, wie sie zuvor weder die ukrainisch- noch die englischsprachige Geschichtswissenschaft vorgelegt hat. Es stellt zunächst nicht die seit den 1990er-Jahren und jüngst auch im Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages kontrovers diskutierte Genozidfrage ins Zentrum, sondern das Ereignis in seinen Ursachen, Dimensionen und Folgen.

Applebaum setzt mit der ukrainischen Revolution ein und zeigt einerseits die enge Verschränkung von ukrainischer nationaler Bewegung und Bauernfrage und andererseits von antiukrainischer und antibäuerlicher Gewaltpolitik in der Durchsetzung des bolschewistischen Machtmonopols in der Ukraine der Jahre 1918 bis 1920. Denn die Erfahrungen der Bürgerkriegszeit sind wichtig für ein Verständnis der Ukrainepolitik Stalins. Allerdings fehlt es der Darstellung hier an der nötigen Differenzierung nationaler und politischer Identifikationen. Auch die folgenden Kapitel über den Bürgerkrieg bis hin zur Gründung der Sowjetunion 1922 beziehen grundlegende Erfahrungen der Ukrainer/innen und der Bolschewiki mit den Ukrainer/innen auf die Hungersnot 1932/33. In ihrer weiteren Darstellung der Zwangskollektivierung der ukrainischen Bauern von 1928 bis 1932 hebt Applebaum die enge Interdependenz der Agrar- bzw. Bauern- und der nationalen Frage hervor, um die Handlungsdynamiken zu erklären. Sie schildert Stalin, der sich der Gefahr der Verbindung von nationaler Intelligenz und bäuerlichem Protest bewusst war und ein wachsendes Misstrauen gegenüber der ukrainischen KP und besonders ihrer Führung hatte, als entscheidenden Verantwortlichen und schließt sich damit einem Großteil der aktuellen Forschung an.

Stalins Politik des Getreideexportes wird als wesentlich für die forcierte Durchführung der Kollektivierung 1930/31 dargestellt, Zwangsmaßnahmen der Requirierung nahmen seit Ende 1931 weiter zu, die Geheimpolizei sprach seit dem Frühjahr 1932 von einer „Hungersnot“. Applebaum zitiert aus Briefen ukrainischer Parteiführer, die auf unterschiedliche Weise und vergeblich versuchten, auf Stalin Einfluss zu nehmen. Sie sieht bereits im Frühjahr 1932 bei Stalin einen Sinneswandel gegenüber der Ukraine, und damit einige Monate früher als bei einem Teil der bisherigen Forschung. Dieser Umschwung führte dann zu den bekannten drakonischen Maßnahmen des August und des Spätherbstes 1932, die „Getreidediebstahl“ schonungslos und mit systematischer Nahrungsmittelrequirierung bestraften. Diese stießen auf breite Ablehnung bei lokalen Parteiführern in der Ukraine, die bisher nicht umfassend in der Forschung dargestellt wurde. Im Ergebnis trennt Applebaum aber die Zwangskollektivierung der Jahre 1928 bis 1932 vom folgenden Massenhunger in der Ukraine 1932/33, der noch 1932 mit politischen Mitteln hätte verhindert werden können.

In ihrer Darstellung der Hungersnot der Jahre 1932/33 schließt sich Applebaum der bisherigen Forschung an3, bietet aber auch eigene und neue Forschungsergebnisse. So beleuchtet sie die Unterbindung der Flucht in die Städte durch die Einführung des internen Passregimes im Dezember 1932 sowie die Abriegelung der Grenzen der Ukraine im Januar 1933, die dazu führten, dass hungernde Bauern nicht mehr in die deutlich besser versorgten Gebiete Sowjetrusslands fliehen konnten.

Neu ist auch die Darstellung der „Aktivisten“ oder „Brigaden“ im Jahr 1932/33, also die Frage nach den Tätern vor Ort, die mit langen Stangen „bewaffnet“ die Dörfer nach versteckten Lebensmitteln durchkämmten. In sensibler Weise schildert Applebaum die Erinnerungen an den Umgang mit Hungernden, Sterbenden und Toten, und beschreibt Selbstjustiz und Kannibalismus im Frühjahr und Sommer 1933 – Themen, für die die Forschung der 1990er-Jahre noch keine Sprache gefunden hatte. In der Bewertung der Opferzahlen von 3,9 Mio. bzw. 4,5 Mio. (inkl. ausbleibender Geburten oder indirekter Verluste) schließt sich Applebaum dem Konsens der Forschung des letzten Jahrzehnts an. Sie schildert den Rückgang des Massenhungers als Folge geänderter Getreideablieferungspläne, den bisher in der Forschung kaum thematisierten Zuzug von russischen Siedlern in entvölkerte ost- und südukrainische Gebiete sowie die sogenannte Säuberung der ukrainischen KP bis zum Jahr 1937.

Die geschichtspolitischen Konjunkturen in der Ukraine seit 1991 sind Thema ihres Epilogs über „die Wiederaufnahme der ukrainischen Frage“. Sie nimmt hier ihre Deutung wieder auf, wonach die Hungersnot keine direkte Folge der Zwangskollektivierung gewesen sei, sondern eine Folge gezielter staatlicher Maßnahmen. Den Holodomor bezeichnet Applebaum damit als Genozid im Sinne des Wortschöpfers Raphael Lemkin und seines Verständnisses aus der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit, das soziale und politische Gruppen einbezog. Der Holodomor, so Applebaum, sei aber kein Genozid im Sinne der UN-Konvention von 1948.

Löst die Autorin damit die Genozidfrage, die die historische Forschung in Bezug auf den Holodomor international seit den 1990er-Jahren beherrscht, indem sie salomonisch auf unterschiedliche Genoziddefinitionen verweist? In gewisser Hinsicht ja, auch wenn die Antwort etwas unbefriedigend bleibt, weil damit neue Unklarheiten entstehen und sich die Diskussion nunmehr verlagern könnte.4 Zustimmen möchte ich ihr in ihrer abschließenden Einschätzung: „But the genocide debate, so fierce a decade ago, has subsided for other reasons too. The accumulation of evidence means that it matters less, nowadays, whether the 1932–3 famine is called a genocide, a crime against humanity, or simply an act of mass terror. Whatever the definition, it was a horrific assault, carried out by a government against its own people.” (S. 362)

Zwar weitet Applebaum unser Wissen über den Holodomor wesentlich aus: Kommunikative Mechanismen innerhalb der Bolschewiki von unten nach oben und umgekehrt werden deutlich gemacht, die Haltung der lokalen Parteiführer und Brigaden untersucht und vor allem kommen die Opfer, soweit möglich, zur Sprache, etwa indem die Fluchtversuche hungernder Bauern über die Grenzen erforscht werden.

Es gibt aber auch Nachfragen an diese Darstellung, die inhaltlich und sprachlich beeindruckt und emotional berührt. Man wüsste gerne noch mehr über die Täter (es waren wohl fast ausschließlich Männer) vor Ort, ihre Interessen und Handlungsoptionen. Applebaum wirft immer einen vergleichenden Blick auf die Situation in Sowjetrussland (Nordkaukasus, untere Wolgaregion) und in Kasachstan, und bezieht unterschiedliche nationale Gruppen in der Sowjetukraine ein, aber insgesamt bleibt die Autorin hier sehr knapp. Das gilt auch für eine vergleichende Darstellung der sowjetischen Nationalitätenpolitik in diesem Zeitraum. Die historische Erinnerung an den Holodomor in der Sowjetukraine seit den 1930er-Jahren und in der ukrainischen Diaspora sind ein äußerst schwierig zu erforschendes Thema. Lässt sich hier wirklich von einer „alternativen Geschichte“ sprechen, und wenn ja, wie lässt sie sich genauer kennzeichnen?

Es finden sich explizite und apodiktische Wertungen, die hinterfragt werden können. So würde ich nicht uneingeschränkt von „centuries of colonial rule“ (S. 5) des Zarenstaates gegenüber den Ukrainern sprechen, auch wenn es zu antiukrainischen staatlichen Maßnahmen kam. Eine sprachliche Wendung wie die folgende: „The collaboration of some Ukrainians with the Nazis“ (S. 339) ist wenig hilfreich, weil es 1941 mehr als einige waren, allerdings eben auch ein Generalvorwurf der Kollaboration gegenüber den Ukrainer/innen zurückgewiesen werden muss.

Das Buch von Anne Applebaum kann Anknüpfungspunkt für viele Fragen und Themen der historischen Osteuropa-Forschung und darüber hinaus sein. Ist mit ihrer Darstellung die Kontroverse über den genozidalen Charakter des Holodomor ad acta gelegt? Zumindest in Deutschland und in der deutschen Geschichtswissenschaft wird das nicht der Fall sein. Es bleibt offen, warum die deutschen Stalinismusforscher/innen der 1990er- und 2000er-Jahre das Thema unbeachtet ließen.5 Welchen Einfluss hatten darauf der sogenannte Revisionismusstreit in der Stalinismusforschung, der deutsche Historikerstreit und der Aufstieg der Genocide Studies seit den 1990er-Jahren? Welcher Platz ist in einer europäischen Geschichte aus deutscher Perspektive für ein Massenverbrechen wie dem Holodomor neben dem Holocaust vorhanden? Eine gelungene Gesamtdarstellung bedeutet bei einem Massenverbrechen solchen Ausmaßes bekanntermaßen keinen Abschluss der Forschung.

Anmerkungen:
1 Anne Applebaum, Roter Hunger. Stalins Krieg gegen die Ukraine, München 2019.
2 Dies., Gulag. A History, New York 2003; dies., Iron Curtain. The Crushing of Eastern Europe, 1944–1956, New York 2012.
3 Etwa: Terry Martin, The 1932–33 Ukrainian Terror. New Documentation on Surveillance and the Thought Process of Stalin, in: Wsevolod W. Isajiw (Hrsg.), Famine-Genocide in Ukraine, 1932–1933. Western Archives, Testimonies and New Research, Toronto 2003, S. 97–114.
4 Siehe etwa Norman M. Naimark, How the Holodomor Can Be Integrated Into Our Understanding of Genocide, in: Andrij Makuch / Frank E. Sysyn (Hrsg.), Contextualizing the Holodomor. The Impact of Thirty Years of Ukrainian Famine Studies, Edmonton 2015, S. 11–126.
5 Guido Hausmann, Verweigerte Verflechtung. Die ukrainische Hungersnot 1932/33 in der deutschsprachigen Historiographie, in: Alfred Eisfeld / Guido Hausmann / Dietmar Neutatz (Hrsg.), Hungersnöte in Russland und in der Sowjetunion 1891–1947. Regionale, ethnische und konfessionelle Aspekte, Essen 2017, S. 25–37.

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